Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Ich kann es nicht am Text festmachen, aber ich habe es so gelesen, dass Gabriel als einziger die drohende Deportation ernst genommen hat. Die anderen Bewohner schienen zu glauben, dass das Dorf verschont bleibt. Außerdem wollte er wahrscheinlich niemanden einweihen, damit seine Pläne nicht auffliegen. Wer weiß, ob nicht doch jemand gegen ein ordentliches Bestechungsgeld das Vorhaben verraten hätte.


    Vermutlich war es so. Auch bei der Hausdurchsuchung nach Waffen war die Gefahr groß, dass der Plan auffliegt. Beim geringsten Verdacht wären die Polizisten sicher nicht zimperlich gewesen und hätten Informationen erzwungen.

  • Für mich ist es schwer nachzuvollziehen, warum so ein großer Aufwand betrieben wird, die Glocken zu beerdigen, Erde mitzunehmen etc. Aber sicher war das für die damalige Bevölkerung, noch dazu wenn sie jahrhundertelang in der Diaspora gelebt hat, sehr wichtig. Aber das Weihevolle dieser Vorgänge wirkt auf mich nicht so ausgeprägt wie es wohl zu Werfels Zeit empfunden wurde.


    Es ist schön, dass sich Werfel immer wieder Zeit nimmt zu erzählen. Ob es das Schicksal des Deserteurs ist oder der Menschen auf dem Friedhof. Anfangs stört mich das zwar, weil ich eigentlich lesen will, dass die Flucht endlich stattfindet. Aber schließlich werde ich innerlich ruhiger und lasse mich darauf ein.



    Nun eine ganz andere Frage: Wäre es nicht übersichtlicher, für den zweiten Teil des Buches einen neuen thread aufzumachen? Wenn noch Nachzügler mitmachen wollen, ist man ewig am Suchen, wer wann was geschrieben hat.

  • Zitat

    Original von made
    Für mich ist es schwer nachzuvollziehen, warum so ein großer Aufwand betrieben wird, die Glocken zu beerdigen, Erde mitzunehmen etc. Aber sicher war das für die damalige Bevölkerung, noch dazu wenn sie jahrhundertelang in der Diaspora gelebt hat, sehr wichtig. Aber das Weihevolle dieser Vorgänge wirkt auf mich nicht so ausgeprägt wie es wohl zu Werfels Zeit empfunden wurde.


    Für mich als Mensch, der nicht im Glauben erzogen wurde und damit auch nicht viel anfangen kann, ist das auch schwer nachvollziehbar. Wenn ich das aber als eine Art Ritual des Abschieds und Neuanfangs betrachte, kann ich das gut verstehen. Das Schicksal hängt ja über dieser Gruppe wie ein Damoklesschwert. Dann helfen solche Dinge sicherlich dabei, nicht sofort zu verzweifeln, sondern die Hoffnung zu bewahren und weiterzumachen.



    Zitat

    Original von made
    Es ist schön, dass sich Werfel immer wieder Zeit nimmt zu erzählen. Ob es das Schicksal des Deserteurs ist oder der Menschen auf dem Friedhof. Anfangs stört mich das zwar, weil ich eigentlich lesen will, dass die Flucht endlich stattfindet. Aber schließlich werde ich innerlich ruhiger und lasse mich darauf ein.


    :write
    Das geht mir ganz genauso und es geht mir jedesmal wieder so, wenn Werfel "ins Erzählen gerät". Zuerst bin ich leicht genervt, weil die Geschichte nicht vorwärts zu kommen scheint und dann gefällt es mir doch sehr. Ich muss quasi jedesmal wieder auf die ruhige, eindringliche Erzählart des Autors einlassen.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane


  • Es gibt da eine sehr gute Biografie: "Brennende Augen" von Brigitte Troeger, die seit langem auf meiner Wunschliste steht.

  • Mich fasziniert ja die Wandlung Gabriels, der, aus der gewohnten Umgebung herausgerissen und zwangsisoliert, nach und nach einen Plan entwickelt. Ihm selbst nicht bewusst, lässt er Pläne zeichnen, überprüft er Munitions - und Waffenbestände oder Medikamentenvorräte.


    Als dann jetzt tatsächlich der Befehl zur Deportation kommt, wird ihm das erst bewusst, was unterschwellig vorhanden war.

  • Unbewusst?
    Das kam mir nicht so vor. Habe ich das falsch verstanden? Er hat zwar lange Zeit die Gefahr für seine Familie und sein Dorf nicht wahrhaben wollen. Doch dann, so mein Eindruck, arbeitete er mit Hochdruck an einem Rettungsplan, der in seiner Detailiertheit tatsächlich sehr beeindruckend war.

  • Ich glaube, dass Gabriel über sich selbst erstaunt ist, welche Fähigkeiten in ihm stecken. Man hat ja auch ein bestimmtes Bild von sich selbst, auch wie man in einer Extremsituation handelt würde. Ich glaube, dass Gabriel sich selbst nie als Führungspersönlichkeit, als Planer und Verantwortlicher für die Menschen seiner Heimat gesehen hat. Er selbst erkennt jetzt gerade erst, was in ihm steckt. Das macht ihn mir so sympathisch.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

  • Zitat

    Original von made
    Ich hatte eher den Eindruck, dass sie geistig behindert war. Oder psychisch traumatisiert?


    Ich glaube, dass beides die Ursachen für ihr Verhalten sind.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Saiya ()

  • Zitat

    Original von Saiya
    Ich glaube, dass Gabriel über sich selbst erstaunt ist, welche Fähigkeiten in ihm stecken.


    Und nicht nur das. Ich denke, er wundert sich auch darüber, wie seine armenische Natur zum Vorschein kommt, wenn er sich doch auch nie ganz dazugehörig fühlen kann.

  • Zitat

    Original von made
    Unbewusst?
    Das kam mir nicht so vor. Habe ich das falsch verstanden? Er hat zwar lange Zeit die Gefahr für seine Familie und sein Dorf nicht wahrhaben wollen. Doch dann, so mein Eindruck, arbeitete er mit Hochdruck an einem Rettungsplan, der in seiner Detailiertheit tatsächlich sehr beeindruckend war.


    Das mag ich nicht am ebook. Da kann ich nicht einfach schnell die Stelle suchen. Außer ich hab sie markiert. Egal, ich habe es so empfunden, dass er die ganzen Vorbereitungen eher schlafwandlerisch ja und unbewusst unternommen hat. Sicher hat er gehofft, dass seine Gegend verschont bleibt, mit dem Eintreffen der Flüchtlinge aus Zeitun ist diese Hoffnung aber verflogen.


    Hat er nun anschließend den Soldaten geschmiert?? Das war jedenfalls ein geschickter Schachzug.

  • Das war kurz vor der Versammlung in Gabriels Garten. Da kam doch der Soldat des Militärpostens, den er gebeten hatte, falls er irgendwelche Befehle, die Dörfer betreffend bekommen sollte, das an Gabriel melden sollte. Dafür bekam er Geld.

  • Mir gefällt, wie Werfel uns immer wieder Einblick in die Seelen der Menschen gibt, vor allem der Bagradians. Stephans Entwicklung ist sehr interessant. Allerdings kann ich schwer nachvollziehen, warum er sich auf dem nächtlichlichen "Ausflug" in sein Haus so unvorsichtig verhält. Es ist von Sinneslähmung und verwirrtem Zustand die Rede, die ihn die Gefahr nicht erkennen lässt.


    Etwas schade finde ich, dass fast nur Nicht-Einheimische und herausragende einheimische Personen Beachtung finden. Ich vermisse die Gedanken und Gefühle der "Normal"-Dorfbewohner, solcher, die kaum aus ihrem Dorf herausgekommen waren, keine besondere Ausbildung hatten.


    Weniger interessieren mich die Beschreibungen der Verteidigungsanlagen. Darüber lese ich schnell hinweg. Zu Werfels Zeit war das vielleicht eher gefragt, da damals viele Männer Kriegs- oder Wehrdiensterfahrung hatten.


    Was mich außerdem stört, sind diese Charakterisierungen einzelner Völker. Die Armenier sind so, die Franzosen anders und die Nordmenschen wieder anders.

  • Zitat

    Original von made


    Was mich außerdem stört, sind diese Charakterisierungen einzelner Völker. Die Armenier sind so, die Franzosen anders und die Nordmenschen wieder anders.


    Aber das ist es doch, was schon immer, auch heute noch gang und gäbe ist. Dass man Menschen ihrer Herkunft entsprechend charakterisiert.


    Und das gibt ja auch immer Anlass Menschen zu diskriminieren, als weniger Wert zu deklarieren.


    Das hat sich leider nicht geändert.



    Also, gut, der Artikel verrät den Ausgang des Buches allerdings dachte ich, dass eh jeder darüber Bescheid weiß.