Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh

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    Original von Regenfisch



    Gabriels Angst drückt sich in dem Gespräch mit Juliette aus. Das muss ihn viel Überwindung gekostet haben. Juliette teilt seine Sorgen überhaupt nicht. Ihr ist die Tragweite, was das Einbehalten der Pässe bedeutet, überhaupt nicht klar.


    Ich glaube die Tragweite war überhaupt niemandem klar. Wenn wir nicht wüssten was damals geschah, würde wir das auch nicht so erschreckt aufnehmen.

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    Original von Saiya
    Gabriel scheint das, was auf sein Volk zukommt ja zu erahnen. Warum erzählt er dann nichts davon? Ich denke, dass er einerseits immer noch die Hoffnung hat, dass er sich irrt und er die Menschen andererseits beschützen möchte. Ich halte das für sehr menschlich.


    Im 2. Kapitel warnt ihn der Agha. Er solle zu Hause nichts über die Vorkommnisse erzählen. Es würde die Menschen beunruhigen. Offensichtlich glaubt der Agha nicht daran, dass die Menschen irgendetwas tun können. Zu Beginn des 4. Kapitels äußert sich der Priester ähnlich.
    Aber in dieser Situation zu schweigen bedarf fast übermenschlicher Stärke.

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    Original von made


    Im 2. Kapitel warnt ihn der Agha. Er solle zu Hause nichts über die Vorkommnisse erzählen. Es würde die Menschen beunruhigen. Offensichtlich glaubt der Agha nicht daran, dass die Menschen irgendetwas tun können. Zu Beginn des 4. Kapitels äußert sich der Priester ähnlich.
    Aber in dieser Situation zu schweigen bedarf fast übermenschlicher Stärke.


    Die Warnung des Agha habe ich gelesen, allerdings habe ich den Eindruck, dass Gabriel sich nicht daran gehalten hätte, wenn er davon überzeugt gewesen wäre, dass Reden etwas nützt. Mein Eindruck ist einfach, dass er das Schreckliche noch nicht wahrhaben will und auch nicht kann. Wie gesagt, "die Hoffnung stirbt zuletzt" und das gilt besonders für solche Situationen.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane


  • Ich finde, dass Werfels Schreibstil, in dem er die schlimmen Ereignisse in Zeitun und die Art wie er die Vertreibung schildert, erschütternd. Eben weil ich die ganze Zeit das Gefühl habe, die Personen zu begleiten und nicht nur zu beobachten, kann man dieser Intensität und den Gräueln nicht entkommen. Das Buch ist großartig geschrieben. Ich muss mal sehen, ob ich mehr Informationen über den Autor bekomme. Mich interessiert gerade sehr, wieso ausgerechnet er diese Geschichte erzählt.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

  • Am Anfang des ebooks ist eine kleine Biografie. Werfel emigrierte wegen der Nationalsozialisten, er war Jude, in die USA. Möglich, dass er dadurch auf den vorherigen Genozid aufmerksam wurde, denn in den USA leben sehr viele armenische Exilanten.


    Ich habe als Kind "Das Lied von Bernadette" von ihm gelesen das ist auch wunderschön. Mein Großvater hatte das in seinem Bestand, leider ist es verschollen.

    "Leute die Bücher lesen, sind einfach unberechenbar." Spruch aus "Wilsberg "

    :katze

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  • Er ist 1929 auf einer Reise, die ihn u. a. nach Damaskus und in den Libanon führte, auf das Schicksal der Armenier aufmerksam geworden. So steht es u. a. im Wikipedia-Artikel zum Buch.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

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    Original von Saiya


    Die Warnung des Agha habe ich gelesen, allerdings habe ich den Eindruck, dass Gabriel sich nicht daran gehalten hätte, wenn er davon überzeugt gewesen wäre, dass Reden etwas nützt. Mein Eindruck ist einfach, dass er das Schreckliche noch nicht wahrhaben will und auch nicht kann. Wie gesagt, "die Hoffnung stirbt zuletzt" und das gilt besonders für solche Situationen.


    Mein Eindruck ist, dass er sehr besonnen handelt. Zum richtigen Zeitpunkt wird er reden.


    Ich hatte auch die ganze Woche keine Zeit zum Lesen. Jetzt aber! :wave

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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    Original von Regenfisch
    An diesem Kapitel fand ich sehr interessant, dass die Deportationen auch in Deustchland wahrgenommen werden. In der aktuellen Diskussion war ja immer von einer Mitschuld der Deutschen die Rede, jetzt verstehe ich auch, warum.


    Lepsius prallt mit seinem Anliegen an Enver Pascha ab. Der Weg zu weiteren Deportationen ist frei.


    Ich finde die Überschrift für dieses Kapitel so passend gewählt. Hier findet man an dem Beispiel des Gesprächs das ganze menschenverachtende Verhalten der Verantwortlichen. Wie egal ihnen Menschen sind, wie abgestumpft und unmenschlich. Gleichzeitig stellt Werfel klar, dass hier dennoch ganz normale Menschen sitzen und keine Ungeheuer.


    Ich fand das Kapitel sehr bedrückend zu lesen.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

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    Original von Saiya


    Ich finde die Überschrift für dieses Kapitel so passend gewählt.


    Ja. Es scheint sich ja zunächst alles gegen Lepsius verschworen zu haben auf dem Weg zu Enver Pascha. Aber unerwarteter Weise wartet der auf ihn. Ich verstehe aber nicht, welchen Grund E. Pascha hatte, dieses Gespräch zu führen. Aus reiner Höflichkeit ist das sicher nicht geschehen.


    Zitat

    Original von Saiya
    Hier findet man an dem Beispiel des Gesprächs das ganze menschenverachtende Verhalten der Verantwortlichen. Wie egal ihnen Menschen sind, wie abgestumpft und unmenschlich. Gleichzeitig stellt Werfel klar, dass hier dennoch ganz normale Menschen sitzen und keine Ungeheuer.


    Das Argument, die Deutschen würden in vergleichbarer Situation einen inneren Feind ähnlich behandeln, hat mich wegen seiner Treffsicherheit in der Voraussage etwas schockiert.

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    Original von made
    ...


    Das Argument, die Deutschen würden in vergleichbarer Situation einen inneren Feind ähnlich behandeln, hat mich wegen seiner Treffsicherheit in der Voraussage etwas schockiert.


    :write Das ging mir auch so. Überhaupt finde ich wirklich bemerkenswert, wie glaubwürdig die Personen dargestellt sind.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Endlich geht es los!
    Ich war schon ganz ungeduldig geworden und dachte, die Bewohner Yoghonuluks schaffen die Flucht nicht mehr rechtzeitig (Auch wenn mir rational klar war, dass es gelingen muss, sonst wäre das Buch zu Ende).
    Es zeigt sich, wie klug Gabriel wirklich ist und wie vorrausschauend. Seine Erkundungsritte, die Kartierung, das Probeschlafen, all das zahlt sich jetzt aus.


    Sehr interessant fand ich den ganzen organisatorischen Teil, z.B. das Wählen der Führungspersonen. Auch wie Gabriel die Versammlung von seiner Idee überzeugt hat, zeigt, dass er auch ein guter Rhetoriker ist.


    Der Abschied von Stefan und Juliette war sehr emotional beschrieben. Auch hier finde ich es großartig geschrieben, welchen Gefühlsbädern Gabriel ausgesetzt ist.
    Ich bin mir sicher, dass Juliette den Sinn der Trennung nicht versteht. Erstaunlich, dass Gabriel sich eine solch kurzsichtige Partnerin ausgewählt hat.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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    Original von Regenfisch
    Überhaupt finde ich wirklich bemerkenswert, wie glaubwürdig die Personen dargestellt sind.


    Ich habe gerade den wikipedia-Artikel über Lepsius überflogen. Ich wusste gar nicht, dass er historisch ist. Interessant wäre zu wissen, wie weit sich Werfel an die Fakten gehalten hat.




    Jetzt habe ich wieder das Problem, das ich auch sonst mit historischen Romanen habe. Ich weiß nicht, was belegt ist und was erfunden. Aber soweit ich gelesen habe, entsprechen die Argumente für die "Aussiedlung" der Armenier der Realität.

  • Ich habe jetzt aus dem Stand keinen passenden Link dazu, aber was ich bis jetzt herausfinden konnte, ist, dass Werfel sich sehr intensiv mit den Protokollen zu den Vorfällen, die von französischer Seite aus angefertigt wurden, beschäftigt hat. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er sich so weit es ging, an Fakten gehalten.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Endlich geht es los!
    Ich war schon ganz ungeduldig geworden und dachte, die Bewohner Yoghonuluks schaffen die Flucht nicht mehr rechtzeitig (Auch wenn mir rational klar war, dass es gelingen muss, sonst wäre das Buch zu Ende).
    Es zeigt sich, wie klug Gabriel wirklich ist und wie vorrausschauend. Seine Erkundungsritte, die Kartierung, das Probeschlafen, all das zahlt sich jetzt aus.


    Ich habe allerdings nicht verstanden, warum er niemanden eingeweiht hat. Unterstützung von Einheimischen wäre sicher sehr hilfreich gewesen, und die Zeit drängte. Es muss doch aufgefallen sein, dass er etwas vorhat. Und bei der Generalprobe habe ich Zweifel, ob sie soviel Erkenntnisse gebracht hat, dass sie die verbrauchte Zeit gerechtfertigt hat.


    Zitat

    Original von Regenfisch
    Sehr interessant fand ich den ganzen organisatorischen Teil, z.B. das Wählen der Führungspersonen. Auch wie Gabriel die Versammlung von seiner Idee überzeugt hat, zeigt, dass er auch ein guter Rhetoriker ist.


    Ein Ministaat musste geschaffen werden. Sehr interessant fand ich, dass auch in solch einer Extrem-Situation die Menschen es nicht schaffen, sich von ihrem Anspruch auf Privateigentum zu lösen.
    Überrascht hat mich Gabriels Temperamentausbruch. "Ich will so viele Türken töten, als wir Patronen haben." Das passt nicht zu dem Gabriel von vorher.


    Die Rettung seines Volkes versteht er jetzt als Sinn seines Lebens. Daraus schöpft er unglaublich viel innere Kraft. Dieses fast schon messianische Sendungsbewusstsein war mir dann aber doch zu pathetisch.

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Der Abschied von Stefan und Juliette war sehr emotional beschrieben. Auch hier finde ich es großartig geschrieben, welchen Gefühlsbädern Gabriel ausgesetzt ist.
    Ich bin mir sicher, dass Juliette den Sinn der Trennung nicht versteht. Erstaunlich, dass Gabriel sich eine solch kurzsichtige Partnerin ausgewählt hat.


    Als ein Mensch, der in Sicherheit aufgewachsen ist, kann sich Juliette einfach nicht vorstellen, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind, auch wenn sie schon davon gehört hat.


    Mir gefällt auch sehr gut, wie Werfel diese Ehe beschreibt, wie die schlummernde armenische Seele Gabriels aufwacht und wie dann plötzlich etwas zwischen die Eheleute tritt, das Juliette immer fremd bleiben wird.


    So ganz nebenbei wird erwähnt, dass manche Armenier ihr Leben retteten, indem sie zum Islam übertraten. Aber das kam für die Bewohner am Musa Dagh nicht in Frage. Da spüre ich in mir Wut auf Glaubensvertreter, die Menschen dazu bringen, ihr Leben zu opfern, weil sie ihnen mit ewiger Verdammnis drohen, wenn sie nicht öffentlich an ihrem Glauben festhalten.
    Auch der protestantische Pastor schickt die Menschen lieber wie Schlachtvieh auf den Todesmarsch als sie zur Notwehr zu ermuntern.

  • Zitat

    Original von made


    So ganz nebenbei wird erwähnt, dass manche Armenier ihr Leben retteten, indem sie zum Islam übertraten. Aber das kam für die Bewohner am Musa Dagh nicht in Frage. Da spüre ich in mir Wut auf Glaubensvertreter, die Menschen dazu bringen, ihr Leben zu opfern, weil sie ihnen mit ewiger Verdammnis drohen, wenn sie nicht öffentlich an ihrem Glauben festhalten.
    Auch der protestantische Pastor schickt die Menschen lieber wie Schlachtvieh auf den Todesmarsch als sie zur Notwehr zu ermuntern.


    Ach da war doch schon mit den Juden so zu Zeiten Isabellas von Spanien. Viele waren dort konvertiert und dachten sie sind ja jetzt Christen und es kann ihnen nichts passieren. Ebenso ging es vielen Juden zu Zeiten der Shoa.

  • Zitat

    Original von made


    Ich habe allerdings nicht verstanden, warum er niemanden eingeweiht hat. Unterstützung von Einheimischen wäre sicher sehr hilfreich gewesen, und die Zeit drängte. Es muss doch aufgefallen sein, dass er etwas vorhat. Und bei der Generalprobe habe ich Zweifel, ob sie soviel Erkenntnisse gebracht hat, dass sie die verbrauchte Zeit gerechtfertigt hat.
    ...


    Ich kann es nicht am Text festmachen, aber ich habe es so gelesen, dass Gabriel als einziger die drohende Deportation ernst genommen hat. Die anderen Bewohner schienen zu glauben, dass das Dorf verschont bleibt. Außerdem wollte er wahrscheinlich niemanden einweihen, damit seine Pläne nicht auffliegen. Wer weiß, ob nicht doch jemand gegen ein ordentliches Bestechungsgeld das Vorhaben verraten hätte.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin