Dostojewski

  • das kapitel in dem sich Stavrogin in die Dämonen mit seiner schuld auseinandersetzt heißt "Bei Tichon"...klingt danach, als würde dich das vielleicht thematisch mehr ansprechen. obwohl das auch nur ein kleiner teil des buches ist.

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    - Edward Hopper

  • Auf dieses Kapitel hatte mich schon mal jemand hingewiesen; ich hatte es auch kurz überflogen, aber es war mir doch zu "gruselig" :--) ; deshalb hab ich nicht weitergelesen, obwohl ich manche Stellen wirklich interessant fand. Aus demselben Grund lese ich auch die Stellen in "Karamasow" nicht, wo Iwan wahnsinnig wird, oder den Faust, wo der Mephisto-Typ eine Hauptrolle spielt. Ist das ein Einzelfall in dem Roman, oder gibt es da noch mehr so extreme Stellen? Oder kannst Du andere Kapitel bei Dostojewski empfehlen, die ähnlich interessant aber nicht ganz so düster sind?

  • nein, kein einzelfall, obwohl die stelle vielleicht wirklich ein extrem darstellt, sie wurde in der ursprünglichen fassung auch von der zensur entfernt. die ganze geschichte ist jedenfalls das konsternierendste, das Dostojewski jemals geschrieben hat.


    vielleicht liegt dir ja dann doch am ehesten Der Idiot. mir ist da hauptsächlich Hippolits leben in erinnerung geblieben, in teil 3, kapitel 7 nimmt der fürst auch nochmal selbst bezug dazu. das ist wirklich lesenswert.

    http://www.literaturepage.com/read/theidiot-480.html auf englisch. aber die deutsche übersetzung ist besser, wenn du die grad zur hand hast.


    ich muss ein wenig nachdenken, was dir liegen könnte, sobald mir mehr einfällt schreib ich es hier rein.

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  • Hippolit erinnert natürlich an Raskolnikow.


    "Ich erkenne keine Richter an, die mich richten dürften, und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe."


    Beide haben ja auch Selbstmordgedanken. Eigentlich unglaublich, dass die Beteiligten nach Hippolits missglücktem Selbstmordversuch in heiteres Gelächter ausbrechen; sie scheinen sich sehr sicher zu sein, dass es nur eine vorgetäuschte Szene war. Die Stelle in Kapitel 8, in der sich Myschkin zu Hippolit äußert, ist ziemlich kurz und geht um das Selbstmitleid von Hippolit.


    »Natürlich wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...«

    »Wieso loben?«

    »Das heißt, es ist... Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben.<<


    Hattest Du diese Stelle gemeint, oder äußert sich Myschkin irgendwo umfangreicher?

  • geht mir mehr um die stelle, in der der fürst parallelen sieht zwischen seinem eigenen leben und Hippolits beschreibung, durch seine krankheit außerhalb des lebens zu stehen. ich hab das buch leider gerade nicht bei mir, es ist jedenfalls die stelle, die ich dir oben verlinkt habe. Der Fürst sitzt dort auf einer bank im park und wartet auf Aglaja, so weit ich mich recht erinnere (findet alles vor dem zusammentreffen mit ihr statt).

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  • OK, ich hab's gefunden, glaube ich, ganz am Ende von Kapitel 7.


    "Einmal, an einem klaren, sonnigen Tag, war er in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der jedoch durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum in weiter, weiter Entfernung der helle Horizont. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausgestreckt und geweint hatte.


    Es war ihm eine Qual gewesen, daß er all dem ganz fremd gegenüberstand. Was war dies für ein Fest, was war dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie hingelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf, jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen, jeden Abend flammte der höchste schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rand des Himmels in purpurner Glut; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem Fest teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich, jedes Gräschen wuchs und war glücklich!


    Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener. Oh, er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; taub und stumm quälte er sich, aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, übernommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ..."


    Es ist schon auffallend, wie oft Dostojewski Außenseiter als Hauptpersonen auftreten lässt. Myschkin, Raskolnikow, Sonja, Alexej Karamasow, ... Ich hab auch Kapitel 5 und, teilweise, 6 gelesen. Auch da beschreibt Hippolit sein Außenseiter-Dasein:


    "...aber draußen überkam mich schließlich eine solche Verbitterung, dass ich tagelang mit Absicht hinter verschlossenen Türen und Fenstern saß, obwohl ich hätte ausgehen können, genauso wie alle anderen. Ich konnte dieses hastende, geschäftige, ewig düstere und aufgeschreckte Volk, das links und rechts von mir auf dem Trottoir dahineilte, nicht ertragen. Was sollten ihr ewiger Trübsinn, ihre ewige Unruhe und Hast; ihre übellaunige Bosheit (denn sie sind böse, böse, böse)? Wer ist schuld daran, dass sie unglücklich sind und nicht zu leben wissen, obwohl sie sechzig Jahre vor sich haben!"



  • es gibt tatsächlich kaum mittelmäßige figuren in seinen werken, selbst personen wie Ganja Iwolgin - denen mittelmäßigkeit zugeschrieben wird - sind nicht ganz "alltagsmenschen" (im vorwort schreibt Dostojewski selbst etwas darüber). Ganja schon allein deswegen nicht, weil ihm sein mangel an besonderen eigenschaften bewusst ist, er das aber durch das streben nach reichtum aufzuwiegen versucht.


    Deswegen ist Dostojewski wohl auch kein schriftsteller der die gesellschaft porträtieren wollte oder konnte (am ehesten vielleicht noch im Jüngling). was er allerdings gemacht hat ist, dass er die ideen der zeit (seine romane sind vielleicht eher die darstellung der ideen der gesellschaft als der gesellschaft selbst) in die hände von außenseitern gegeben hat, die daraus ihre eigenen schlüsse gezogen haben. Raskolinkow ist beispielsweise sicherlich kein typischer russischer student des 19. jahrhunderts, ebensowenig wie Myschkin ein typischer Fürst seiner zeit ist, aber das ist für die handlung an sich auch notwendig. beschreibungen gesellschaftlicher zustände haben andere jedenfalls wahrscheinlich besser gemacht, z.b. tschechow, tolstoi, bunin, turgenjew....die sind aber auch weit weniger interessant.

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  • Ich denke schon, dass es Dostojewski in gewisser Weise gut gelungen ist, die Gesellschaft zu porträtieren - eben indirekt, anhand von Hauptpersonen, die in extremer Weise (wie Du sagst) verschiedene Ideen der Gesellschaft darstellen. Deren etwas weitere Umgebung und deren Reaktionen auf sie entsprechen, glaube ich, schon der Gesellschaft. Er stellt sie also in gewisser Weise anhand von ihren Extremen dar. Der Null Papier Verlag schreibt etwa über "Karamasow":

    "Das Buch ist (anspruchsvoller) Kriminalroman, Entwicklungsgeschichte, Psychogramm und Sittengemälde in einem."

    Dostojewski bringt seine Figuren in im Prinzip normal-menschliche, aberübersteigert zugespitzte (oft hysterische) Konflikte hinein; und über ihre Reaktionen kann man, denke ich, das gleiche sagen.

  • das stimmt, denke ich auch, z.b. die reaktion auf Hippolits gescheiterten selbstmordversuch, würde in vielerlei gesellschaft auf dieselbe reaktion treffen wie von dir im beitrag weiter oben beschrieben. im idioten gibt es auch diesen Rogoschin, der ebenfalls ein solches ein extrem ist. aber ich müsste dieses buch noch einmal lesen, um da mehr zu sagen. wenn ich ehrlich bin, war das das buch, das mir am wenigsten in erinnerung geblieben ist.


    ich danke dir auch für dieses gespräch. ich bin ehrlich gesagt dadurch zu einigen neuen interpretation gelangt. ich habe schon lange nicht mehr so viel über Dostojewskis bücher nachgedacht....normalerweise fragt ja auch keiner.

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  • Gerne. Mich motiviert es auch, mich umso mehr mit seinen Büchern zu befassen. In den letzten 2 Tagen habe ich, angeregt durch ein anderes Gespräch, das erste Drittel vom "Spieler" durchgelesen. Das ist ein ganz anderer Dostojewski (bisher), nicht besonders viel Tiefgang (obwohl es auch einige psychologische Einsichten gibt), aber locker-leicht zu lesen. Allerdings wird es wohl dann bei der Beschreibung der Spielsucht deutlich intensiver.


    Im "Idiot" hat Dostojewski die Figuren wohl bewusst von den Gegenpolen Myschkin-Rogoshin aus gestaltet, dazu dann Nastassja und die anderen dazwischen. Über die Reaktion über den missglückten Selbstmordversuch bin ich immer noch sehr erstaunt, obwohl ich den Kontext dazu immer noch sehr wenig kenne. Da scheint mir schon einiges an geradezu sträflicher Oberflächlichkeit dazusein. Dass die Leute es nicht wirklich merken, wie überspannt Hippolit ist und wie ernst er es meint. Jedenfalls eine bemerkenswerte Szene, wie so viele bei Dostojewski.

  • tatsächlich ist der spieler auch kein roman, in den großartige gedanken geflossen sind, soweit ich mich erinnere hatte es den entstehungshintergrund, dass Dostojewski zu diesem zeitpunkt dringend etwas seinem verleger vorzulegen hatte, und er wusste, dass er mit Schuld und Sühne nicht rechtzeitig fertig werden würde.


    zu Hippolit: es gibt da natürlich die vorgeschichte, dass er und seine entourage sich schon mit ihrer anwesenheit innerhalb dieser gesellschaft lächerlich gemacht haben (im prinzip versuchte gelderpressung), und es eigentlich auch keinen vernünftigen grund gibt, schon gar nicht vor diesen menschen, sein ganzes leben auszubreiten.

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  • Der Vertrag war schon ziemlich extrem:


    "Weiterhin war es Teil des Vertrages, bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman
    abzuliefern. Im Falle der Nichterfüllung bis zum ultimativen Termin
    drohte Dostojewski eine empfindliche Konventionalstrafe; nach dem
    ersten Dezember sollten die Rechte an seinen - bisherigen und künftigen
    - Werken endgültig an Stellowski übergehen - ohne dass Dostojewski auch
    nur einen Rubel bekommen hätte."



    OK, es hat wohl an sich keinen Sinn für Hippolit gemacht, vor ihnen sein Leben auszubreiten. Wenn sie aber zumindest die Möglichkeit einräumen, dass er tatsächlich daran denkt, Selbstmord zu begehen, macht eine "Abschiedsrede" schon irgendwo Sinn.


    Wie war das eigentlich mit dem Vorwort zu "Der Idiot", wo es um Ganja geht? Ein Vorwort habe ich weder in meiner Fischer-Version noch bei spiegel.gutenberg, noch sonstwo im Internet gefunden.

  • entschuldigung für beides. ich hatte das falsch in erinnerung, Schuld und Sühne hatte er zu dem Zeitpunkt breits abgeschlossen. es hatte also nichts damit zu tun (oder nur am rande, derselbe verleger hat ja dann die buchform herausgebracht).


    zu zweiterem, es handelt sich dabei eigentlich nicht um ein vorwort, ist zumindest nicht als solches gekennzeichnet, sondern befindet sich ersten kapitel des vierten teils, gleich nach dem ersten absatz. es behandelt charaktere wie Ganja im rückblick und geht dann fließend in die handlung über. in meiner ausgabe geht es über etwa neun seiten.

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  • Bei Schuld und Sühne hattest Du laut Wikipedia schon recht:


    "Der Roman wurde, während Dostojewski laufend weitere Kapitel schrieb, als Feuilletonroman in 12 Fortsetzungen in der Monatszeitschrift Russki Westnik veröffentlicht, beginnend Ende Januar 1866 und endend im Dezember 1866."

    "Da die Fertigstellung von Schuld und Sühne während dieser Zeit nicht gelang, unterbrach Dostojewski die Arbeit am Roman zwischenzeitlich, um den kürzeren Roman Der Spieler einzuschieben, den er innerhalb von 26 Tagen fertigstellte. Nach dieser Unterbrechung wandte er sich wieder Schuld und Sühne zu, den er Ende 1866 fertigstellte."


    Danke für den Hinweis zum 4. Teil! Einen Teil des 9-Seiten-Abschnitts habe ich gelesen, und ich denke, das stützt meine These von der Darstellung der Gesellschaft anhand von ihren Extremen:


    "Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolessin in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus keine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolessin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolessin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden."


    "Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen."



    Zusatz - die folgende Passage ist auch ziemlich interessant:


    "In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. (...) Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. (...)

    Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, dass ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet."

  • Zusatz - die folgende Passage ist auch ziemlich interessant:


    "In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. (...) Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. (...)

    Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, dass ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet."




    solche passagen, und überhaupt Dostojewskis charakterisierungen, haben mich in meiner wahrnehmung sehr geprägt. es wundert mich nicht, wieso er immer wieder bei einigen der größten philosophen und intellektuellen erwähnung findet, auch bei Atheisten (z.b. Nietzsche, Oswald Spengler, Sigmund Freud; heute z.b. Roger Scruton). ich denke, solche menschen sind häufig "außenseiter", oder um es anders zu sagen, nehmen die gesellschaft von außen wahr, sind nicht ganz ein teil von ihr, vorallem was ihr denken und ihre ideen betrifft (bei Nietzsche wirst du auch häufig auf den begriff Einsamkeit teffen). bei Dostojewski ist es ja ganz genauso, deswegen lässt er ja so häufig solche persönlichkeiten wie Raskolnikow, Myschkin in seinen romanen auftreten.... was das wunderbare an ihm ist, ist allerdings, dass er spätestens in seinen letzten lebensjahren eine der anerkanntesten und meist geliebten persönlichkeiten des öffentlichen lebens war. angeblich waren 30 000 menschen bei seinem begräbnis dabei. er war ein echter russe, und hat das russische volk zurück geliebt - das sieht man auch in seinem werk - auch wenn er es als außenseiter wahrgenommen hat. interessant in diesem zusammenhang ist auch seine puschkin rede: https://de.wikipedia.org/wiki/Puschkin-Rede

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  • In "Dostojewski" von Hermann Bahr habe ich zu der Puschkin-Rede diesen Abschnitt gefunden:


    Dostojewski wundert sich in Florenz, wie sehr italienische Bauern seinen Russen gleichen. Daß es gemeine Leute sind, daß sie noch das Gleichgewicht der inneren Kräfte haben, daß sie Volk sind, darauf kommt es an; der nächste Gassenbub tut es auch. Nun aber die heilende Kraft, die in allem Volk ruht, dem einen zuzuschreiben, an dem gerade man sie selbst gefunden hat, ist der Irrtum aller Nationalisten, des Dostojewski wie des Lagarde wie des Barrès (ich nenne diese drei, weil sie in ihrer politischen Gesinnung einander oft geradezu bis aufs Wort gleichen). Dostojewski muß dies übrigens irgendwie selbst insgeheim empfunden haben, an manchen Stellen seiner Puschkin-Rede ist er schon ganz nahe daran, es auszusprechen, daß wir bloß ins Volk einkehren müssen, ganz gleich in welches. Sein Nationalismus haßt nicht. Vom russischen Volk erwartet er vielmehr, daß es den anderen die »Allversöhnung« bringen wird. Er rühmt die »hohe synthetische Begabung« der Russen. Er findet im russischen Volk noch das Gefühl lebendig, daß der Mensch »nicht wie ein gewöhnliches Erdentier nur sein Leben friste, sondern mit anderen Welten und der Ewigkeit verbunden sei«. Das fehlt ihm im übrigen Europa, das er in Erwerb und in Genuß versunken sieht und in Zwietracht. »Sowohl der Franzose wie der Engländer sieht in der ganzen Welt nur sich allein und in jedem anderen ein Hindernis auf seinem Wege; und ein jeder will bei sich allein das vollbringen, was nur alle Völker mitsammen vollbringen könnten, mit vereinten Kräften.« Er bemerkt nicht, daß er von den Franzosen, von den Engländern eben nur die Intellektuellen kennt und daß sein Kampf gegen die »Westler« doch überall in Europa gekämpft wird, (...). Wie wir aus unserer inneren Anarchie gerettet werden könnten, das ist heute das Thema Europas. Es ist das einzige Thema Dostojewskis. Er glaubt bloß zu Russen zu sprechen, doch er spricht von uns allen.


    Nochmal zu einem vorigen Zitat von Dir, weil mich die Stelle immer noch wundert, allerdings - wie gesagt - ohne den Kontext gut zu kennen:


    "das stimmt, denke ich auch, z.b. die reaktion auf Hippolits gescheiterten selbstmordversuch, würde in vielerlei gesellschaft auf dieselbe reaktion treffen wie von dir im beitrag weiter oben beschrieben."


    Meinst Du wirklich? Wenn es so ist, wie Du es beschrieben hast, dass Hippolit sich völlig lächerlich gemacht hatte, dann kann man das natürlich irgendwo verstehen. Aber meinst Du, dass man (zumindest teilweise) aus Gründen von Oberflächlichkeit in vielerlei Gesellschaft so reagieren würde? Das würde mich schon wundern.


  • dieses zitat von bahr klingt interessant. ich werde ein wenig von ihm lesen müssen. der erste eindruck ist jedoch, dass dieser konflikt mit "westlicher ideologie" im restlichen europa gar nicht so offen ausgefochten werden kann wie in russland, schon allein deswegen nicht, weil das übrige europa nun mal der westen war, während es schon damals - und heute inbesondere (Putin hat das auch mal in einer rede erwähnt) - schon überhaupt nicht klar war, ob russland teil davon ist. der konflikt zwischen west und ost wurde in russland spätestens zur regentschaft von Alexander II im öffentlichen raum diskutiert, als die ersten anarchisten - angesteckt von europäischen ideen - ihre attentate durchführten. in ideologischer hinsicht wurde russland quasi von diesem gedankengut invasiert.


    zu der anderen sache: ja, ich bin relativ sicher, dass die meisten menschen in diesem kontext wenig mitfühlend reagieren würden. von einigen ausnahmen abgesehen, die es ja auch in der handlung gab (die frau mutter von aglaja wenn ich mich nicht irre?). es wird schon kaum jemandem wahres mitleid zu teil, der er es quasi erbettelt wie Hippolit es getan hat. solche gefühle bekommt man meistens geschenkt, ohne dass man darum gebeten hat, wie es zum beispiel die liebe der eltern ist - um die man auch kaum jemand bitten muss. eines der phänomene des lebens scheint es zu sein, dass sich kaum ein menschliches gefühl erzwingen lässt - außer in der kunst (film, musk. literatur, etc) - und je mehr du versuchst es in anderen zu provozieren, desto mehr rückt es von dir ab. das sieht man am häufigsten in der liebe, aber auch in der anerkennung oder im respekt. in einer von Bunins kurzgeschichten las ich mal den satz (nicht ganz wortgetreu): "Bekommt denn im Leben nie, was man sich am sehnlichsten wünscht?". ein erschreckender satz für mich damals, aber wahrscheinlich ist es so. im leben nicht.

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  • Bahr spricht vorher noch einen etwas anderen Aspekt an:


    "Individuen und Nationen sind gleich trügerisch (...). Es war der Irrtum des Rationalismus, dies zu verkennen. Indem er von der Nation absah, zog er dem Menschen, während er ihn über die Wolken zu heben glaubte, nur unter den Füßen den Boden weg. Die russischen Rationalisten werden Westler genannt. Dostojewski mußte, mit seiner tiefen Einsicht in die Zweifaltigkeit des menschlichen Wesens, ihnen notwendig widerstreben und geriet dabei in die Gesellschaft der Nationalisten, die freilich die menschliche Natur ebenso mißverstehen, bloß auf der anderen Seite. Das Individuum wie die Nation lebt nur im Gleichgewicht von Expansion und Konzentration. Da es damals die Westler waren, die dieses Gleichgewicht störten, konnte Dostojewski, vor Angst, die losgerissen im Winde treibende Seele seines Volkes müsse verströmen und entdampfen, übersehen, daß sie, von den Nationalisten in die Enge getrieben, in sich ersticken muß. Übrigens meint er, wenn er wider das Ausland für Rußland spricht, im Grunde stets einen anderen Gegensatz: den zwischen Verstand und Gefühl. Leben ist zu tief, um ausgedacht zu werden. Es setzt sich in Gefühl um, vor dem der Verstand ratlos steht; er kommt ihm mit seinen Wahrheiten nicht bei. Sie sind unbrauchbar zur Tat, sie bringen nichts hervor."

    ja, ich bin relativ sicher, dass die meisten menschen in diesem kontext wenig mitfühlend reagieren würden (...) es wird schon kaum jemandem wahres mitleid zu teil, der er es quasi erbettelt wie Hippolit es getan hat. (...) und je mehr du versuchst es in anderen zu provozieren, desto mehr rückt es von dir ab. (...) in einer von Bunins kurzgeschichten las ich mal den satz (nicht ganz wortgetreu): "Bekommt denn im Leben nie, was man sich am sehnlichsten wünscht?". ein erschreckender satz für mich damals, aber wahrscheinlich ist es so. im leben nicht.

    Ich habe auch eigentlich nicht Mitgefühl für Hippolit an sich erwartet, sondern eine Betroffenheit und einen Versuch, einen möglichen zweiten Selbstmordversuch zu verhindern, anstatt von "heiterem Gelächter" und "schadenfrohem Vergnügen".


    Das Bunin-Zitat ist wirklich beeindruckend. Ich habe auch mal ein ähnliches (aber viel weniger weit gefasstes) Zitat gehört, etwa so:

    Wenn du versuchst, die Anerkennung eines Menschen zu bekommen und das dir das wichtigste ist, wirst du mit Sicherheit scheitern.

  • uff das sind gute zitate. ich bin ehrlich gesagt immer skeptisch, wenn jemand sich zutraut so eine persönlichkeit wie Dostojewski in frage zu stellen. aber es klingt nicht so, als wäre dieser Bahr nur irgendein dummschwätzer. der gedanke, dass "objektive" oder verstandesgemäße wahrheit jeder glaubensbezogenen oder gefühlsbezogenen wahrheit im alltäglichen leben nahezu jedes menschen unterlegen ist, trage ich auch schon länger mit mir herum.


    zu Hippolit: du bist noch sehr von dem guten in den menschen überzeugt ja? das wird ja auch in dem roman dargestellt, nur nicht von allen, oder von den meisten figuren oder nicht in jeder situation; man sieht jedenfalls, dass jeder eine symapthie für den fürsten hegt, aufgrund seines durchaus guten charakters; das mag die anziehung die solche eigenschaften auf die menschen haben ausdrücken, und ich denke, dass es sich im leben so verhält. mir scheint, es geht in der szene viel um das fast wollüstige gefühl der genugtuung, nachdem Hippolits gruppe ja versucht hat, die naivität des fürsten auszunutzen. vielleicht wäre ihre reaktion anders gewesen, wenn sein selbstmordversuch gelungen wäre; heutzutage beschreibt man (gewollt) gescheiterte selbstmorde ja als hilfeschrei an die gesellschaft, was an sich als lächerlich wahrgenommen wird, weil der mensch in dieser handlung nicht seinen willen ausdrückt, sondern eigentlich etwas ganz anderes erwartet - er erwartet, dass man ihm sagt wie er doch wertgeschätzt wird und wie richtig er in allem liegt. in Hippolits fall mag das anders sein, er wollte sich tatsächlich umbringen, aber allein darin, dass er daraus so ein gescheitertes theater machen wollte, liegt das lächerliche, das die menschen nicht ernstnehmen können.

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