Martin Walser - Statt etwas oder Der letzte Rank

  • ASIN/ISBN: 3498073923


    Es war wohl ein Fehler, als erstes Buch von Martin Walser ausgerechnet dieses Buch zu lesen. Aber ich habe es mir nicht ausgesucht, es hat mich gewählt. Wie es eben so passiert, wenn man in der Bücherei ist.


    Nach den ersten Kapiteln muss ich sagen, dass es sich hier nicht, wie hinten drauf steht, um einen Roman handelt. Und ich verstehe zunächst einmal fast nichts.


    Es sind Gedanken, bei denen ich oft nicht die Zusammenhänge erkenne. Es wiederholen sich die Formulierungen: „mir geht es ein bisschen zu gut“, „zu träumen genügt“, „unfassbar sein, wie die Wolke, die schwebt“, „ich hoffe mehr, als ich will“.


    Man kann zu jedem einzelnen dieser Sätze sicher umfangreiche Abhandlungen schreiben. Und ich ahne, dass ich mehr verstehen würde, wenn ich mich erst einmal mit Walsers Lebenslauf befasst habe.

  • Schon der Titel „Statt etwas“. Also „nichts“?


    Kap. 1


    Die Aussage, das Bedürfnis etwas genau wissen zu wollen, sei in ihm erloschen, hat mich sehr überrascht. Für mich wäre das der Supergau. Immer ein Stück mehr von der Welt begreifen, ist für mich wichtig.

    Aber Walser erklärt das so, dass durch das Alles-Verstehen-Wollen die Welt von einem Besitz ergreift und man dadurch nicht mehr man selbst ist.


    Jetzt sitz ich hier und hab bestimmt ein dutzend Mal einen Anlauf unternommen, um meine Gedanken in Worte zu fassen. Aber immer wieder verwerf ich das, weil ich feststelle, dass ich diesen Satz immer noch nicht wirklich zu fassen bekommen haben.

    Wen odere was meint Walser mit der Welt? Kann man denn leben, ohne dass die Welt von einem Besitz nimmt? Man steht doch nicht außerhalb der Welt.

  • made  :wave Ich habe mir jetzt mal die Leseprobe bei Amazon zu diesem Buch durchgelesen, weil ich dachte, vielleicht kann ich Dir auf die Schnelle einen Tipp geben, was Walser mit seinen seltsamen Aussagen meint. Aber ich komme mit seinen Formulierungen auch nicht zurecht. Mir scheinen seine Gedanken ziemlich lose und unzusammenhängend.

    Diesen Text als Hörbuch zu konsumieren stelle ich mir noch viel schwieriger vor. Auch beim zweiten Mal lesen verstehe ich nicht, worauf der Autor eigentlich hinaus will.


    :gruebel Allgemein oder von christlicher Tradition her wird die "Welt" ja meist als das bezeichnet, was im Gegensatz zu den frommen Tugenden steht und somit von den Heilsversprechungen ablenkt - wenn nicht gar zur Sünde führt. Vielleicht greift Walser darauf zurück. In der Bibel steht immer wieder, dass der Mensch die Welt überwinden oder sich zumindest nicht davon beeinflussen lassen soll, sondern die geistliche Nahrung höher schätzen soll als die weltlichen Genüsse, wie z.B. Völlerei und Unzucht.


    Ob man in diesem Sinne leben kann? Viele Fromme haben es zumindest versucht - manche sind dafür heilig gesprochen worden.


    Ich kenne Martin Walser nicht genügend, um sagen zu können, wie religiös er ist und ob er seine Gedanken in diese Richtung formulieren wollte. :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ich habe viele Rezensionen zum Buch gelesen und alle Kritiker haben sich auf den Titel gestürzt, aber nur "Der letzte Rank" erklärt. "Statt etwas" wurde nie in Frage gestellt. Erst von Dir, Made. :anbet


    Ich halte das Buch auch nicht für einen Roman. Das Buch ist das Statt etwas, nämlich statt eines Romanes (Etikettenschwindel vom Verlag) eine Prosa, bestehend aus Gedanken und Reflexionen. Einen Plot gibt es kaum, höchstens in einzelnen Episoden.


    Mich hatte das Buch fasziniert, weil hier ein Autor im hohem Alter noch einmal einen radikalen Stilwechsel wagte. Ein wenig erinnert es an seine Mesmer-Bücher.


    Walser konzentriert sich ganz auf seine Befindlichkeiten, die ihn die Jahre umgetrieben haben und er kokettiert meiner Meinung nach mit dem erwähnten erloschenen Bedürfnis. Da er sich auch in letzter Zeit noch häufig zu aktuellen Ereignissen geäußert hat, nehme ich ihm das nicht ab.

  • Allgemein oder von christlicher Tradition her wird die "Welt" ja meist als das bezeichnet, was im Gegensatz zu den frommen Tugenden steht und somit von den Heilsversprechungen ablenkt - wenn nicht gar zur Sünde führt.

    Ich habs mir jetzt noch einmal angehört. Ich denke nicht, dass der Satz religiös zu verstehen ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von Theorien, ganz allgemein.

  • Ich habe viele Rezensionen zum Buch gelesen und alle Kritiker haben sich auf den Titel gestürzt, aber nur "Der letzte Rank" erklärt. "Statt etwas" wurde nie in Frage gestellt.

    Für mich heißt "statt etwas" einfach "nichts".

    Das Cover zeigt einen leeren Bilderrahmen. Walser spricht davon, dass er gern ein leeres Blatt Papier wäre (Kap.2), und von der leeren musterlosen Wand und dass er gern im Dunkeln mit offenen Augen liegen würde ohne etwas zu sehen.

    Gibt es hier Zusammenhänge?

  • Das ist schon ein übersteigerter, besonderer Zustand , in dem Walser sich befindet.

    Ob das nicht doch auch etwas mit dem Alter und dem nahenden Tod zu tun hat?


    "Im Dunkel zu liegen, ohne darauf zu warten, dass es wieder hell wird..."

    Ist das nicht der Tod?

  • "Im Dunkel zu liegen, ohne darauf zu warten, dass es wieder hell wird..."

    "... das musste ich noch üben." (So geht der Satz weiter.)

    Ist das nicht der Tod?


    So habe ich das noch nicht gesehen. Ich dachte eher daran, dass er seinen Kopf nicht frei bekommt von Gedanken und Bildern. Er sagt auch, "dass wir vor lauter Nachbeterei von Erdachtheiten nicht dazu kommen, da zu sein.


    Zu Beginn klingt es, als ob Walser bereut, seine Gedanken öffentlich gemacht zu haben. Dadurch habe er sich fassbar gemacht. Deshalb sein Wunsch „unfassbar sein, wie die Wolke, die schwebt“. Doch dann gäbe es sein Lebenswerk nicht!?

  • In Kap. 4 hat mich Walser geschockt. Er sagt, er hätte sich bemüht, die Hilferufe in der Welt nicht zu hören, da man ja eh nichts machen kann. Die beste Methode ist, selbst und noch lauter um Hilfe zu rufen.

    Ich frage mich, ob er hier von sich spricht oder eher eine landläufige Meinung wiedergibt.


    In Kap. 5 rät er einem „Du“, äußerst übel zu leben und sich dann öffentlich selbst zu beschimpfen. Dafür bekommt man Lob von den anderen. Darüber hinaus wäre es gut, sich selbst hassen zu können. Sogar eine Erlösung. Das kann er aber nicht, er kann nur lieben. Aber einen Menschen, so schlecht wie er selbst, kann er nicht lieben.

    Wem hält Walser hier den Spiegel vor?


    Das 7. Kap. tut fast schon weh. Ich habe an Kafka denken müssen. Was ist es, das er nicht weitersagen darf, sonst könnten sie hart mit ihm umgehen?

    Man erfährt es nicht.

  • Kap. 8 - 13


    Jetzt war ich doch ziemlich verblüfft, weil Walser gesteht, dass er alles Falsch gemacht und gedacht hat, während sein Gegner (wen auch immer er damit meint) alles richtig gemacht hat. Er relativiert es dann, indem er ergänzt, dass er das, was er richtig gemacht hat, vergesssen hat. Ich war doch sehr erstaunt über soviel Selbstkritik, wie ich meinte.


    Doch bald verstand ich, dass nicht richtig und falsch im absoluten Sinn gemeint war, sondern bezüglich der gerade herrschenden Moral oder des gesellschaftlichen Konsenses. Und das ändert sich bekanntlich. Er erwähnt Personen, die diesen Wandel sehr gut mitgemacht hatten.


    Manche Menschen richten sich nach jeweils aktuellen Vorbildern, und indem sie denen zustimmen, die Gutes tun, entlasten sie ihr Gewissen, ohne selbst etwas tun zu müssen. Walser hingegen hatte immer ein schlechtes Gewissen.


    Schöner Satz von Nietzsche: Gewissensbisse? Dann ist dein Charakter nicht deinen Taten gewachsen.

  • Ich habe diesen Thread leider eben erst entdeckt.

    Bisher habe ich zwei ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem Buch gemacht.

    Ich habe es bei einer Lesung erworben. Walser hat mich an diesem Abend sehr beeindruckt. Er sprach davon, dass er sich sehr bewusst ist, dass sein Leben jeden Tag vorbei sein kann. Am Ende seines Lebens sei alles, was er bisher für wichtig gehalten habe, bedeutungslos, unwichtig. Am Ende des Lebens bleibt die Begegnung nur mit sich selbst übrig. Sein Leben lang habe er verschiedenen ideologischen Ideen nachgeeifert, habe sich leidenschaftlich wegen seiner Überzeugungen gestritten, viele Fehler gemacht. Jetzt sei das alles unwichtig, er kann das alles hinter sich lassen und begegnet in diesem Moment sich selbst.

    Deswegen der leere Rahmen. So ist dieses "Statt etwas" auch zu verstehen. Das hat mich sehr beeindruckt.

    Mit dem Buch habe ich mich auch sehr schwer getan. Bei der Lesung mit Walsers Kommentaren habe ich an seinen Lippen gehangen.

    Im Buch blieb mir dann einiges unverständlich.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Danke, Regenfisch , für deinen Beitrag. Das ist sehr interessant und hilft mir weiter.

    Vielleicht sollte ich jetzt manche Passagen noch einmal hören.


    Warum kann er das aber nicht auch in seinem Buch so klar schreiben, dass es alle verstehen?

    Oder ist etwa nicht alles für jederman gedacht und es genügt Walser, dass gewisse Menschen ihn verstehen?

  • Im 14. Kapitel spricht Walser von seinen Niederlagen, wie sie sich ständig in seinem Geist wiederholten und er sich Gedanken darüber machte, was er hätte besser machen können und dass er falsch auf Angriffe reagiert hätte.

    Hier geht es um Macht. Wenn jemand ihm seine Niederlage erklärte, zeigte der damit seine Macht und genoss es.

    Er selbst empfand diese Niederlagen als Unrecht. Das führte zu einem gewissen Hochmut, so dass ihm die, die im Recht waren, leid taten. Er fühlte sich sozusagen ausgezeichnet.


    Und nun kommt, für mich zunächst ohne Zusammenhang, Gott ins Spiel. Er stellt eine Beziehung von Gott zu der leeren musterlosen Wand her, ohne diese Begriffe gleichzusetzen.

    Diese Wand ist für Walser ein Ort, an dem der Schutz gesucht und gefunden hat. Und manchmal kam Gott dazu in verschiedenen Formen, als unkomponierte Musik, sinnenbetäubender Jubel, historischer Glanz, aktuelle Mächtigkeit, Erlösungswuchten nennt er das.

    Dies empfand er als Ausdruck von Schwäche, als die letzte Niederlage, die er sich allerdings selbst verpasst hat. Und hier ist der Zusammenhang zu oben.

    Das verstehe ich nicht: Gott als Metapher der Niederlage, sagt er.

    Vielleicht weil er in manchen Momenten von Gott Dinge erhofft hatte, die er selbst nicht in der Lage war zu erreichen? Oderr weil er in manchen Situationen in eine kindliche Vorstellung von Gott zurückfiel?

  • Warum kann er das aber nicht auch in seinem Buch so klar schreiben, dass es alle verstehen?

    Oder ist etwa nicht alles für jederman gedacht und es genügt Walser, dass gewisse Menschen ihn verstehen?

    Das habe ich mich nach der eindrücklichen Lesung auch gefragt. Auch die Passagen aus dem Buch, die Walser vorgetragen hat, waren viel eindrücklicher. Aber er ist halt auch eine Persönlichkeit mit einer gewissen Aura.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das verstehe ich nicht: Gott alsMetapher der Niederlage, sagt er.

    Ich verstehe das auch nicht. Villeicht meint es, dass der Mensch (und er auch) sich dann an Gott klammert, wenn er nicht mehr weiter weiß, wenn sonst nichts bleibt? Das empfindet er dann als Schwäche bzw. Niederlage.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das habe ich mich nach der eindrücklichen Lesung auch gefragt. Auch die Passagen aus dem Buch, die Walser vorgetragen hat, waren viel eindrücklicher. Aber er ist halt auch eine Persönlichkeit mit einer gewissen Aura.

    Nur leider habe ich das Gefühl, dass er das Buch nicht für mich und meinesgleichen geschrieben hat. Warum soll ich es dann lesen?

  • Nur leider habe ich das Gefühl, dass er das Buch nicht für mich und meinesgleichen geschrieben hat. Warum soll ich es dann lesen?

    :gruebel Ich vermute Walser interessiert sich weniger für seine Zielgruppe als für seine eigene Ausdrucksmöglichkeit. Vielleicht denkt er ja so wie er schreibt und kann es einfach nicht anders sagen.


    Ich finde es bewundernswert wie Du Dich durch diesen Text quälst und darin nach Erkenntnissen für Dich selber suchst. Niemand zwingt Dich dergleichen zu lesen, aber wenn Du Dich gern mal mit schwierigen Fragen beschäftigst, spricht das doch für Deine intellektuelle Beweglichkeit. Und es kann auch Spaß machen zu sehen, was mit Sprache noch alles möglich ist.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Nur leider habe ich das Gefühl, dass er das Buch nicht für mich und meinesgleichen geschrieben hat. Warum soll ich es dann lesen?

    Das kannst du nur selbst beantworten. Ich habe das Buch noch einmal rausgesucht und würde dich beim Hören begleiten. Ich finde es ganz toll, dass du deine Gedanken hier aufschreibst.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin