Martin Walser - Statt etwas oder Der letzte Rank

  • Kap. 24


    Er spricht davon, dass er eine Abhängigkeit von der leeren musterlosen Wand spürte. Das wollte er nicht. Er müsse unabhängig werden von sich selbst.


    Wie kann man unabhängig werden von sich selbst?

    :gruebel Vielleicht meint er damit, dass er seinen eigenen Bedürfnissen keine so große Bedeutung mehr zumessen möchte.


    Aufgefallen ist mir diese Aussage:

    „Sie habe sich übergeben im Bett. Er habe ihr helfen wollen. Daran sei sie erstickt.“ Worauf bezieht sich das Wort „daran“? Man kann es so verstehen, dass sie an seiner Hilfe erstickt wäre. Ich werde den Verdacht nicht los, dass dieses Ersticken eine Metapher für irgendwas ist.

    Wahrscheinlich ist das auch als Metapher zu deuten.

    Aber rein praktisch könnte ich mir vorstellen, dass bei dem Versuch ihr zu helfen, also ihren Körper aufzurichten, Erbrochenes in ihre Luftröhre geraten ist und sie daran erstickt ist. Das scheint ja in ähnlichen Fällen öfter vorzukommen. :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Kap. 26


    „Ich suche, also bin ich.“


    (Ich kenne da auch jemanden. :lache )


    Der Anfang des Kapitels klingt nach einem Rechtfertigungsversuch gegen einen Vorwurf, dass nicht alles, was Walser geschrieben hat, neu war. Er sagt, für ihn wäre es neu gewesen.

    Ich denke, wenn alles, was geschrieben wird, neu wäre, gäbe es viel weniger zu lesen.


    Doch jetzt zum Suchen.

    Er suchte nach Dingen, ohne zu wissen was. Und dann fand er Dinge, von denen er gar nicht wusste, dass er sie suchte bzw. hatte. Das kann so überraschend sein und große Freude auslösen, dass er diese Dinge Glücksgegenstände nennt.


    Das kann ich mir gut vorstellen. Viele Flohmarktbesucher oder Menschen, die „shoppen“ gehen, kennen das. Die suchen auch nach Dingen, von denen sie nicht wissen, dass sie sie suchen.


    Ich gehe davon aus, dass Walser hier nicht Gegenstände meinte, sondern Ideen. Ist dieses Suchen so etwas wie brainstorming?

  • Kap. 27


    Er wäre gerne gut gewesen, schaffte es aber nicht. Andererseits wollte er auch mal böser sein, als „sie“ ihn gemacht hatten. Aber das konnte er auch nicht, denn dazu gehört Macht. Die hatte er auch nicht.

    Er spricht von seinem Überdruß und dass er darunter leidet, kein Ziel mehr zu haben. Er spricht von dem Stein, den er wälzte. (Sisyphus?) Und der Stein war er selber. Nichts, was er erlitt, stammte nicht von ihm.


    Irgendwie finde ich hier keine Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aussagen.



    Es fällt mir schon seit längerem auf, dass Walser in seinen Ausführungen hin und her springt. Immer wieder geht um Wahrheit, Nichtgenügen, die leere mussterlose Wand, Gegner, Fälschung der Gefühle, Frauen.


    Kap. 28


    Es geht wieder darum, dass er darunter litt, dass er nicht genügte. Er empfand es als Machtausübung, dass andere ihn das spüren ließen.


    Hat er zu hohe Ansprüche an sich oder ein zu geringes Selbstwertgefühl?

    So ist es eben nun mal. Wenn ich etwas veröffentliche, egal ob Buch, Film oder sonst was, muss ich doch immer damit rechnen, dass es manchen, auch maßgeblichen, Leuten nicht gefällt. Da muss man drüberstehen oder es bleiben lassen. Oder man verbiegt sich, um erfolgreich zu sein. Wenn man darunter leidet, dann hat man etwas falsch gemacht.

  • Hat er zu hohe Ansprüche an sichoder ein zu geringes Selbstwertgefühl?

    Für mich klingt er sehr verletzt. Er weiß, dass er in dem letzten Abschnitt seines Lebens angekommen ist, und schaut auf sein Leben. Er klingt überhaupt nicht verbittert, aber sehr verletzt, "wund" wie er schreibt. Und endlich ist er bei sich selbst angekommen und setzt sich mit seinem eigenen Ich auseinander. Eigentlich sehr traurig, finde ich. Er hat das Gefühl, nicht zu genügen, wem gegenüber auch immer., auch sich selbst gegenüber. Für mich ist dieses ganze Buch eine Aufforderung, das Leben nicht zu vergessen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Kap. 29


    Walser träumt, er muss vor den Internationalen Gerichtshof in Rotterdam (!). Dieses Gericht besteht nur aus Frauen, von denen manche auf Krücken gehen. Er wird unschuldig schuldig gesprochen.

    Sein Verhältnis zu Frauen ist mir immer noch unklar.


    Wie kann man unschuldig schuldig sein? Das klingt nach einem Widerspruch in sich. Man kann ungewollt schuldig werden oder auch ohne es zu wissen. Ist man dann unschuldig schuldig?


    Kap. 30


    Der Gedanke, dass Nikolaus Riederle an Zungenkrebs gestorben ist, weil er immer die Wahrheit gesag hat, kann ja wirklich nur vom Teufel eingegeben worden sein. Man wird bestraft, wenn man die Wahrheit sagt. Das ist anscheinend auch Walsers Erfahrung.


    Ich überlege, ob Riederles Geduld, den Hölzern Zeit zu geben, bis er sie verarbeitete, im übertragenen Sinn verstanden werden soll. Es braucht den richtigen Zeitpunkt, um die Wahrheit auszusprechen.


    Worauf will Walser hinaus, als er Riederles Hund und Katze erwähnte, während er starb? Ersterer wird erschossen und zweitere bringt Junge zur Welt.


    Kap. 31


    Dieses Kapitel ist auch ziemlich knifflig. Aber ich habe etwas entdeckt. Davon gleich.


    Walser hat Wörter, mit denen er nichts mehr zu tun haben wollte, zwar nicht gestrichen, sondern in die Fremdenlegion auswandern lassen. Wörter wie „warten“, „sehnen“, „Zeit“, „Geduld“. Da habe ich erst einmal gegrübelt, wo da er Unterschied ist. Ich denke, er hat diese Wörter nicht aus seinem Wortschatz gestrichen, aber er hat die mit diesen Begriffen verbundenen Seelenzustände aus seiner Seele auswandern lassen.


    Jetzt ist Raum in ihm gewachsen und er fühlte sich selbst.


    Im Zusammenhang mit dem Wort Erlösung, das er nicht (mehr) verstand, stellt er folgende Fragen: Durfte es Wörter geben, die nichts sagten? War das ihre Funktion, nichts zu sagen? Um uns etwas vorzumachen? Genügt es uns dann, statt etwas ein Wort zu haben?

    Hier haben wir den Titel! :licht

    Ich verstehe diese Fragen als Kritik an nichtssagenden Texten, Dampfplauderei.

  • Ich überlege, ob Riederles Geduld, denHölzern Zeit zu geben, bis er sie verarbeitete, im übertragenenSinn verstanden werden soll. Es braucht den richtigen Zeitpunkt, umdie Wahrheit auszusprechen.

    Das kann sein, ich lese es ganz einfach: Er war ein guter Schreiner und hat erst das Holz verarbeitet, als es gut getrocknet war, bzw. hat den richtigen Zeitpunkt erwischt.

    Worauf will Walser hinaus, als erRiederles Hund und Katze erwähnte, während er starb? Ersterer wirderschossen und zweitere bringt Junge zur Welt.

    Entweder, es war wirklich so oder aber es ist ein Bild dafür, dass ein Leben zu Ende geht und zugleich neues Leben beginnt. Etwas platt, finde ich.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Kap. 32


    In diesem Kapitel geht es um den namenlosen „Er“. Ich denke, dieses Kapitel hat autobiographische Züge. Doch mit der Er-Form will Walser Distanz erzeugen.


    Ich finde es schon heftig, wie die Angst des „Er“ vor „Jenem Feuilletongewaltigen“ und seinen be- und gefürchteten Zeitungsartikeln beschrieben wird. Wie kommt man auf die Idee, diese Gefühle mit „viereckig“ zu beschreiben?


    (Wer kann mir erklären, wie es sich anfühlt, wenn man sich viereckig fühlt? Nicht rechteckig oder gar quadratisch. Ich versuche mir das vorzustellen, wie man im Bett liegt und deshalb nicht aufstehen kann :lache. Gut, wenn man viereckig ist, kann man sich nicht so einfach auf die Seite rollen. Aber viereckig kann auch irgendwie schief sein. Hat man einen eingeklemmten Nerv, der einen verkrampfen lässt?)


    Der Bezug zu Kafkas „Die Verwandlung“ ist bemerkenswert. Schließlich geht es da um ein „Ungeziefer“. Er muss sehr verletzt sein.


    Angefangen habe dies alles vor 17 Jahren in Frankfurt bei einer Diskussion ums Adornos Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Danach erschien der Artikel „Das deutsche Desaster“. Es wurde ihm sogar „eine ins Politische reichende ganz und gar entsetzliche Denkart unterstellt“.

    Ab dann bemerkte er, dass er kleiner wurde.


    Ich finde die Wirkung dieses Zeitungsartikels und die daraus entstehende Wechselwirkung zwischen seinem Kleiner- und „Jenes“ Größerwerden und umgekehrt sehr gut beschrieben. Auch der Umgang mit dritten ist durch diesen Artikel beeinflusst. Er wirkt nach.


    Ich habe eine Frage an diejenigen, die das Buch in gedruckter Form vorliegen haben. In diesem Kapitel ist von Regina von … die Rede, „Jenes“ Kollegin. Wie schreibt man ihren Namen? Coeli?


    Fortsetzung folgt.

  • Kap. 32 (Fortsetzung)


    Die folgende Szene drückt sehr gut das Verhältnis der beiden aus, zumindest von seinem Standpunkt aus. Es ist ja schon fast Ehrfurcht, was er vor Jenem empfindet. Es wäre sicher interessant gewesen, die Meinung dazu von Jenem zu hören.


    Es ist eine grandiose Idee, zur Erlösung aus der Viereckigkeit Kafkas Schwester Wilhelma auftreten zu lassen. Sie bringt ihn dazu, Jenen mitten in der Nacht herauszuklingeln und ihm die Meinung zu sagen.

    Ich denke, solche Fantasien kennt jeder, wenn man sich über jemanden ärgert.


    Zuerst musste er mal eine Lücke im Redeschwalls Jenes Wortgewaltigen finden.

    Ich konnte die Verletzung mitfühlen, dass Jener genau seine Angst kannte und ihm „eine missglückte Aktion mehr“ vorhielt. Das ist demütigend. Dann aber kam er in Fahrt.

    Ich kann mir gut die Genugtuung über die Retourkutsche vorstellen, Jener hätte nichts neues gesagt. Oder darüber, dass er Jenem den Vorwurf ins Gesicht schleuderte, für Jenen würde nur etwas existieren, was er wahrnahm. Er drückte sogar sein Bedauern aus. Wenn das mal nicht mutig war!


    Leider hat sich Jener nicht davon beeindrucken lassen. Natürlich nicht. Denn diese Begebenheit hat wohl nie stattgefunden. Dass Jener sich eine schwere Erkältung zugezogen hat, war wohl Zufall, der ihm hier zu Hilfe gekommen ist. Oder? Vielleicht waren ja auch negative Energien im Spiel. ;)


    Das Kapitel endet mit den Sätzen:

    „Das Mögliche kann nur aus dem Unmöglichen kommen. Es muss eine Geburt sein. Das Unmögliche gebärt das Mögliche. Wer denn sonst?“

    Was war jetzt hier das Mögliche und was das Unmögliche?

    Wilhelma war nicht möglich, aber die Befreiung von der Viereckigkeit war möglich.

    Eine bessere Antwort weiß ich nicht.

  • Kap. 32 (Fortsetzung)


    Es ist eine grandiose Idee, zur Erlösung aus der Viereckigkeit Kafkas Schwester Wilhelma auftreten zu lassen. Sie bringt ihn dazu, Jenen mitten in der Nacht herauszuklingeln und ihm die Meinung zu sagen.

    .

    Diese Idee mit Kafkas Schwester hat mich auch begeistert. Das ist originell und es entstehen beim Lesen deutliche Bilder von der Szene vor dem inneren Auge.

  • Kap. 33


    Dieses Kapitel ist wohl als Märchen zu verstehen. Immer wieder kommt die Wendung „Es war einmal“ vor.

    Es geht um einen Friedensvertrag, den Walser mit seinem Erzfeind geschlossen hatte. Ein Wunschtraum? Der letzte Satz heißt „Es war keinmal.“ und stand an den Wänden. Mir kam hier sofort das Menetekel in den Sinn. Ein Symbol des Unglücks oder gar ein Todesmotiv? Oder ganz anders: Text an der leeren musterlosen Wand? :gruebel


    Die Episode, als der Feind ihm ein Bein stellt, ihn dann stützt, lacht und ihm auch sonst Hilfe anbietet, tut schon fast weh vor lauter Häme und ist ein harter Vorwurf.


    Was Walser mit dem befreundete Ehepaar ausdrücken will, ist mir völlig unklar, vor allem die Übernahme der Vornamen. Will er eine gewisse Angleichung an die jeweiligen Freunde andeuten? Schließlich stellt er hohe Ansprüche an Freundschaft.

    Beim Satz, er und seine Partnerin fühlten sich einsam wie immer, wenn sie mit Freunden zusammen waren, musste ich stutzen. Sind diese Freunde gar nicht real, sondern nur ihr zweites Ich?


    Über den Satz „Das Leben ist ein Fragment.“ kann man sicher auch ewig diskutieren. Man müsse alle Ausschmückungen und Entlehnungen aus Märchen weglassen.

    Nun, wenn ich in einem Märchen alle diese Dinge weglasse, kommt vielleicht ein Stück wahres Leben zum Vorschein. Vielleicht gilt das auch für das echte Leben.

  • Nächsten Monat erscheint ein neues Buch von Martin Walser, das in eine ähnliche Richtung zu gehen scheint wie Statt etwas oder der Letzte Rank.


    Titel: Spätdienst: Bekenntnis und Stimmung


    Kurzbeschreibung:

    "Das Alter ist ein Zwergenstaat, regiert von jungen Riesen." Wer sagt das? Ein lyrisches Ich zwischen Glücksmomenten und Schwärze, Leere, Sturz. Beim Durchkämmen des Hundefells, beim Aufschneiden eines Apfels oder immer dann, wenn die Berge im Blau stehen, der Wind in den Bäumen rauscht, die Blätterschönheit den Atem raubt, kommt sie auf, die Frage, ob das das Glück sei, denn lange währt es nie. Schon fährt etwas dazwischen, Wörter, die wehtun, ausgesprochen von anderen, gegen die nur eines hilft: "Sich in Verse hüllen, als wären es Schutzgewänder, schön, weltabweisend, die Einbildung heißt Aufenthalt." In Martin Walsers neuem Buch finden sich Lebensstenogramme, mal sind sie lyrisch, mal essayistisch, immer aber berührend, tief empfunden, wahr.

    Cover


    Ob Walser das auch selbst einlesen wird?