Starkes historisches Setting – aber schwache emotionale Bindung
Titus Müller ist bekannt für seine akribische Recherche, und das spürt man auch in Die Dolmetscherin. Das Buch versetzt die Leserschaft mitten hinein in die Nürnberger Prozesse – in jene Zeit, in der die Weltöffentlichkeit das Grauen der NS-Verbrechen verhandelte und zugleich der Kalte Krieg schon seine Schatten warf. Müller gelingt es, diese historische Kulisse eindrucksvoll und detailreich zu schildern: die Säle, die Atmosphäre im Gericht, die Machtspiele hinter den Kulissen.
Gerade hier liegt für mich die Stärke des Romans: Die historischen Kontexte sind hervorragend aufbereitet und in eine spannende Rahmenhandlung eingebunden. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie groß die politische und moralische Tragweite dieser Prozesse war und wie sehr sie die Nachkriegswelt prägten.
Was mich allerdings enttäuscht hat, sind die Figuren. Mit keinem der Protagonisten konnte ich wirklich warm werden. Besonders Asta, die titelgebende Dolmetscherin, hat mich nicht abgeholt. Ihr Doppelspiel, ihre Entscheidungen und die Art, wie sie durch die Handlung geht, blieben für mich schwer nachvollziehbar. An Stellen, wo ich innere Zerrissenheit, Zweifel oder Leidenschaft erwartet hätte, wirkte sie eher kühl und distanziert. Dadurch fiel es mir schwer, Sympathie oder echtes Mitgefühl für sie zu entwickeln. Auch die Nebenfiguren – von den Prozessbeteiligten bis zu den Geheimdienstkontakten – blieben für mich eher schablonenhaft und erfüllten hauptsächlich ihre Funktion für die Handlung.
Der Schreibstil hingegen ist – wie bei Titus Müller gewohnt – flüssig, klar und gut zu lesen. Szenen wie die simultane Übersetzung im Gerichtssaal oder die Begegnungen im Umfeld der Prozesse sind lebendig beschrieben und machen das Buch insgesamt zugänglich.
Fazit:
Die Dolmetscherin bietet ein starkes und faszinierendes historisches Setting, das eindrücklich zeigt, wie komplex die Nürnberger Prozesse waren. Wer vor allem geschichtliches Interesse mitbringt, wird hier viel Spannendes finden. Wer sich jedoch eine Hauptfigur mit emotionaler Tiefe und Nähe wünscht, dürfte wie ich vielleicht (etwas) enttäuscht zurückbleiben.
➡️ Für mich: 3 von 5 Sternen – respektable historische Fiktion, aber ohne echte emotionale Bindung.