Es wird einmal gewesen sein
von R. Bote
„Ich mache mir Sorgen!“, sagte Margarethe zu ihrem Bruder. „Die Leute fangen an, zu vergessen, die Kinder gehen weit in den Wald und kehren erst zurück, wenn es schon lange dunkel ist.“ „Was sollen sie tun?“, gab Johannes zu bedenken. „Die Familien sind arm, die Kinder müssen helfen, sonst reicht es nicht zum Leben. Das weißt du doch selbst.“
Natürlich wusste Margarethe das. Sie hatte es nie leicht gehabt im Leben, ihr Vater war Köhler gewesen, es hatte immer nur so gerade gereicht. Die Mutter war früh gestorben, und die neue Frau des Vaters hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Kinder loszuwerden. Margarethe und Johannes hatten aus bitterer Erfahrung lernen müssen, dass sie, wenn überhaupt, nur wenigen Menschen vertrauen konnten. Sie hatten sogar Glück, dass sie überhaupt noch die Gelegenheit bekommen hatten, aus ihren Erfahrungen zu lernen, denn was ihnen als Kindern widerfahren war, hätte nur zu leicht beider Ende sein können.
Damals hatte das ganze Dorf darüber gesprochen, doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr schien die Sache in Vergessenheit zu geraten. Margarethe wusste nicht, was sie dagegen tun sollte, sie versuchte, zu warnen, doch es schien, als wären die Leute es überdrüssig geworden, davon zu hören. Natürlich hatte Johannes recht, die Kinder mussten helfen, die Felder zu bestellen und im Wald nach essbaren Pflanzen und Brennholz zu suchen. Da waren ihre eigenen Kinder keine Ausnahme, auch Amalie und Heinrich mussten ihr helfen, sonst hätte sie sie nicht durchbringen können. Die Zwillinge waren das Einzige, was der Mann ihr gelassen hatte, mit dem sie nur noch auf dem Papier des Pfarrbuchs verheiratet war; vielleicht war sie längst Witwe, sie wusste es nicht und war nicht traurig darum.
„Mach es, wie Vater es getan hat“, schlug Johannes vor. „Erzähle den Kindern alles, was du weißt. Alles, was du selbst erlebt hast, und alles, was Vater uns erzählt hat.“ „Das tue ich“, versicherte Margarethe. „Aber reicht das? Wenn ich die Einzige bin, die es erzählt?“
„Seid sicher, eure Geschichte wird nicht vergessen werden.“ Überrascht schauten die Geschwister auf. Sie hatten nicht bemerkt, dass ein Mann zu ihnen getreten war, ein Mann, den sie noch nie im Dorf gesehen hatten. War er ein fahrender Händler? Zumindest schien er etwas Geld zu haben, denn der Stoff seiner Kleidung war nicht abgenutzt. Aber Margarethe sah nirgends einen Wagen, weder Pferdegespann, noch Esel- oder Handkarren, und Händler pflegten sich lautstark anzukündigen, wenn sie ins Dorf kamen. Sie hatte aber nichts gehört, obwohl sie mit Johannes draußen saß, kaum ein paar Schritte vom Brunnen in der Mitte des Dorfes entfernt.
„Woher wisst Ihr…?“, fragte Margarethe verdutzt. „Ich kenne eure Geschichte, seit ich ein Kind war“, antwortete der Fremde. „Ich habe durch viele, viele Jahre nach euch gesucht.“ „Das heißt, man kennt unsere Geschichte auch woanders?“, folgerte Johannes. „Und erzählt sie sich noch?“ Der Fremde nickte. „Man erzählt sie den Kindern, und zwei Brüder werden sie aufschreiben, damit sie nicht vergessen wird. Selbst noch in vielen, vielen Jahren werden Eltern ihren Kindern eure Geschichte vorlesen. Man wird nicht mehr wissen, wann und wo genau sie passiert ist, aber man wird immer noch wissen, was passiert ist.“ „Ihr scheint ein Seher zu sein“, sagte Margarethe vorsichtig. „Ihr sprecht, als wüsstet Ihr, was die ferne Zukunft bringt.“ „Ich kann nur in die Vergangenheit sehen“, widersprach der Fremde. „Eine Vergangenheit aber, die erst noch beginnt. Aber ich vergaß ganz, mich vorzustellen: Ich bin Max Grimm, und die beiden Brüder werden meine Ur-Ur-Ur-Ur-Großonkel gewesen sein.“