Das Bermudadreieck des Nordens
R. Bote
12. Juni 1908: Der dänische Schoner Korbinian Låsesmed, mit einer Fracht von 370 Tonnen Bauholz und Kleineisenteilen und sechs Passagieren auf dem Weg von Esbjerg nach Qaqortoq, verschwindet nach einem Zwischenstopp auf dem Färöern spurlos.
17. Januar 1946: Der isländische Trawler Ísblóm („Eisblume“) gibt am Abend eine Position 160 Seemeilen südlich von Reykjavik an. Der Kapitän kündigt an, noch etwa 30 Meilen nach Süden zu fahren und dann die Netze auszubringen. Am Morgen des 18. Januar meldet das Schiff sich nicht mehr, eine groß angelegte Suche bleibt erfolglos.
31. Juli 1962: Das Arktis-Kreuzfahrtschiff Polar Vanguard sinkt in den Gewässern südlich von Island innerhalb von zwanzig Minuten, ohne dass vorher ein Schaden oder ein Zusammenstoß zu erkennen gewesen war. Die Zeit reicht gerade, um die Rettungsboote zu Wasser zu lassen, die ein Frachter nach wenigen Stunden aufnimmt.
Eike legte das Handy auf den Kajütentisch. Es war kurz nach acht, seine Freiwache, und er hatte die Zeit genutzt, um ein bisschen durch die digitalen Ausgaben verschiedener Zeitschriften zu blättern. Er fuhr seit über 30 Jahren zur See, wie vor ihm schon Vater, Großvater und Urgroßvater; wie viel weiter zurück die Tradition noch reichte, wusste er nicht, aber er glaubte, dass es etliche Generationen waren.
Von einem „schwarzen Loch im Nordmeer“, so war der Artikel überschrieben, hatte er in all den Jahren nie gehört. Die Korbinian Låsesmed, die Ísblóm und die Polar Vanguard sollten stellvertretend stehen für über 100 Schiffe, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in einem vergleichsweise kleinen Seegebiet südlich von Island unter ungeklärten Umständen verloren gegangen waren.
Eike schüttelte den Kopf. Er war selbst schon oft durch dieses Seegebiet gefahren, nie hatte es irgendwelche Vorfälle gegeben. Oder schon Vorfälle, aber nichts, was nicht mit den üblichen Gefahren der See und den Herausforderungen der Schifffahrt zu erklären war. War das so eine Geschichte wie beim berüchtigten Bermudadreieck, wo sich die meisten Legenden bei genauerer Betrachtung als Erfindungen oder normale Unfälle entpuppten?
Eine kurze Recherche schien das zu bestätigen. Eike fand zwar ältere Artikel, die ebenfalls von einer auffälligen Häufung ungeklärter Schiffsunfälle berichteten und weitere Beispiele brachten, aber wenn er sich die Einzelfälle anschaute, dann blieb nicht mehr viel Mysteriöses. Der Schoner war fast 40 Jahre alt gewesen, ein geradezu methusalemisches Alter für Schiffe aus dieser Zeit, und bei stürmischer See wahrscheinlich schon kurz nach dem Ablegen in Tórshavn weit vor dem besagten Seegebiet gesunken. Ähnlich verhielt es sich bei der Ísblóm, eine junge, unerfahrene Crew auf einem Eimer, den jeder fliegende Schrotthändler verschämt unter einer Plane versteckt hätte. Der Polar Vanguard war wohl ein falscher Stahl zum Verhängnis geworden, der bei Kälte so spröde wurde, dass er den normalen Belastungen der See nicht mehr gewachsen war.
„Tja, ich weiß nicht, ob es gut ist, dass dieser Artikel jetzt erscheint.“ Eikes Schiff lag im Heimathafen, und er nutzte die Zeit, um seine Mutter zu besuchen. Er wusste selbst nicht, warum er den Bericht über das angebliche „Schwarze Loch“ vor Island erwähnt hatte, und war überrascht über ihre Reaktion.
Seine Mutter, schon gut über 70, schien es zu merken. „Ich kenne die Geschichte“, erklärte sie. „Eine riesiger Betrug, aber zu einem guten Zweck: In dem Gebiet lebt eine seltene Walart und zieht dort ihre Jungen groß. Sie sollte vor den Fischern geschützt werden. Aber ich fürchte, heute, wo die Seefahrt ihren Aberglauben verloren hat, bewirkt so eine Geschichte eher das Gegenteil, und irgendwer fängt an, die Sache zu untersuchen.“ Eike nickte betreten, er teilte die Befürchtung. „Aber woher weißt du…?“
Seine Mutter lächelte fein. „Der Erfinder dieser Geschichte war“, sie machte eine kurze Pause, um die Spannung zu steigern, „dein Großvater.“