Der Stockfisch
von Inkslinger
»Hast du den Ofen angelassen?«
Jenny schnüffelt demonstrativ in der Abendluft. »Irgendwas riecht hier angebrannt.«
Neben ihr stöhnt Britta. »Hab's dreifach gecheckt. Alles, was nicht allein klarkommt, habe ich ausgeschaltet oder ausgezogen.«
»Sicher? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl …«
»Ja-ha, ich bin sicher.«
Jenny bleibt stehen. »Hast du das gespürt? War das ein Erdbeben?«
Augenrollend dreht sich ihre beste Freundin zu ihr um. »Jetzt reicht’s aber! Wir haben an alles gedacht. Alles ist aus, zu und abgesperrt. Es wird keinen Notfall geben, der dich rettet, also hör auf zu nerven und ergib dich deinem Schicksal.«
Jenny verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich will aber nicht!«
»Du weißt schon, was es heißt, wenn dein Chef sagt, die Teilnahme ist obligatorisch, oder?«
»Du weißt schon, was Stresspickel aus der Hölle sind, oder? Die werde ich nämlich kriegen, wenn ich da wirklich hingehe.«
Brittas Blick wird weicher. »Ich weiß, dass du Menschenmengen hasst. Wir müssen nicht lange bleiben. Wir drehen nur kurz eine Runde, damit deine Kollegen dich sehen, und dann hauen wir ab. Klingt doch nach ‘nem Plan.«
Jenny seufzt. »Keinem guten.«
Britta hakt sich bei ihr ein und zieht sie liebevoll den Gehweg entlang. »Es ist leider der Einzige, den wir haben. Also, Augen zu und durch.«
»Du hast leicht reden. Du wirst nicht zum Spott deiner Firma.«
»Du auch nicht. Lächle einfach und lass die anderen quasseln.«
»Wenn das nur funktionieren würde … Normale Introvertierte kommen damit vielleicht durch einen unangenehmen Abend. Aber ich bin ein Härtefall. Wenn ich in Konversationen verwickelt werde, schmilzt mein Gehirn. Ich verliere die Kontrolle über meine Gesichtszüge und meine Zunge. Ich bin dann kein Mensch mehr, sondern ein Stockfisch.«
Britta zieht die Augenbrauen zusammen. »Du wirst ausgeweidet, kopflos und geräuchert an jemand anderen gebunden und über einen Stock gehängt?«
Jenny wirft ihr einen strafenden Blick zu. »Natürlich nicht. Ich meinte -«
»Na sieh mal einer, guck. Wenn das nicht unsere liebe Frau Hansen ist.«
Ein süffisant grinsender Anzugträger kommt auf die beiden zu.
Jenny verkrampft und bleibt abrupt stehen. »Herr Brockhauser. N’abend auch.«
Er kichert. »Da hat wohl einer Schiss vor einer weiteren Abmahnung gehabt, hm?«
Brockhauser wendet sich an Britta. »Sie sind also schuld, dass Frau Hansen es diesmal zur Veranstaltung geschafft hat. Mutig, sich hier mit ihr sehen zu lassen.«
Britta funkelt ihn finster an. »Die Meinung von anderen interessiert mich nicht.«
Brockhauser hebt abwehrend die Hände. »Schön für Sie. Ich wollte Sie nur warnen, dass da drin einige viel verloren haben.«
»In der Evolutionslotterie?«
»Nein, Babes, bei der Firmenwette. Manche haben ihr Spitzengehalt darauf gewettet, dass Frau Hansen nicht auftaucht.«
»Na, dann lassen wir unsere Fans nicht warten.«
Britta nimmt Jenny an die Hand und zieht sie ins Bürogebäude, der Beschilderung zum ›Net(t)-Working-Event‹ folgend.
Vor dem Ziel angekommen, richtet sie das Wort an Jenny. »Du schaffst das. Zeig diesen Ekelpaketen da drin, dass du eine netzwerkende Superbiene bist.«
Jenny guckt sie zweifelnd an, sagt aber nichts zu dem hinkenden Vergleich. Sie atmet tief durch und öffnet die Tür zum Konferenzsaal.
Was folgt, ist die längste Stunde ihres Lebens. Wie sich herausstellt, hat der Chef durch ihr Auftauchen am meisten Geld verloren. Während sie sich steif wie ein Stock und stumm wie ein Fisch durch die Konversationen mogelt, folgt er ihr auf Schritt und Tritt; mit Blicken über ihre Unfähigkeit urteilend. Ein kräftezehrender Akt.
Doch die Belohnung folgt am Montag darauf. Alle Kollegen in ihrer Abteilung machen einen großen Bogen um sie und sie kann die sechs Monate bis zum Ende ihrer heute beginnenden Kündigungsfrist in Ruhe abarbeiten.