Lebensretter
von Suzann
Mir ist kalt. Groggy taste ich nach meiner Decke. Wo ist das blöde Ding? Ein Stechen fährt in mein Genick. Mein Kopf dröhnt. Stöhnend suche ich einer weniger schmerzenden Position. Mit einem Ruck bin ich hellwach. Das ist nicht mein Bett! Ich bin nicht in meinem Zimmer! Zu viel Luft ist um mich herum und ich fühle ein eigenartiges Gewebe unter meinen Händen. Ein Versuch mich hinzusetzen scheitert. Ich schwanke in einem Gewebe und kann auf den ersten Blick den Boden nicht sehen. Blut rauscht laut in meinen Ohren. Wo bin ich? Wie zur Hölle bin ich hierhergekommen? Ängstlich versuche ich mich zu orientieren. Hinter mir ist eine Glasfassade. Mein Spiegelbild ist ein dunkler Fleck vor marginal helleren Schatten. Ich liege in einem Fangnetz, das sich einige Meter unter dem flachen Dach rund um das hohe Gebäude windet. Es ist in regelmäßigen Abständen am Dach befestigt. Direkt über mir hängt ein Pfosten ohne Halt über den Rand. Seile sind gerissen und mein Abschnitt des Netzes hängt tiefer als der Rest. Wenn ich mich bewege, knirscht und knallt es. Im Mondlicht kann ich viele kaputte Stellen erkennen.
5 Stunden vorher: Sandy und ich feiern was das Zeug hält. Trotz aller Widrigkeiten haben wir uns durchgesetzt und das hat uns einiges an Kraft und Tränen gekostet. Die schwierigste Prüfung des Semesters, Advanced Robotics, liegt hinter uns. Wir haben in unserem Masterstudium schon viele Hürden genommen, aber in diesem Fach hatte der Professor eine absolut toxische Umgebung für die Frauen geschaffen. Gleich zu Beginn des Semesters meinte er lässig, dass Frauen in seiner Vorlesung fehl am Platz wären. Wir würden früher oder später ja sowieso in der Küche stehen, um die Kinder zu versorgen. Da könnten wir uns die Mühe gleich sparen. Geschenkt gäbe es bei ihm nichts, auch wenn wir unsere Reize einsetzten. Dieser Bullshit hatte sich durch das ganze Semester gezogen und liegt jetzt in der Vergangenheit. Im Club haben wir alles hemmungslos tanzend von uns abgeschüttelt. Die langen Stunden des Lernens, die Frustration über die sexistischen Bemerkungen und die Benachteiligungen in Kolloquien und Praxistests. High von unserer eigenen Energie lassen wir den Kommilitonen abblitzen, der uns hartnäckig Drinks spendieren will. Als er immer aufdringlicher wird, beschließen wir die Nacht zu beenden. Auf dem Heimweg klammern wir uns aneinander, damit unsere Schlangenlinien nicht zu ausgeprägt werden. Dann sind wir an der Kreuzung, an der Sandy abbiegen muss. Nach ein paar Häusern spüre ich ein mulmiges Gefühl. Ist da jemand hinter mir? Ein paar unauffällige Kontrollblicke später, bin ich mir sicher, dass ich einen Verfolger habe. Zu diesem Zeitpunkt hat das Adrenalin meinen Schwips neutralisiert. So spät ist in dieser Gegend kaum mehr jemand unterwegs. Als neben mir ein alter Mann aus einem Hauseingang kommt, biege ich spontan ab und husche in das Gebäude, bevor die Türe ins Schloss fallen kann. Ich werde im Schatten abwarten, bis der Fremde weg ist und dann nach Hause gehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass der automatische Schließer kaputt ist. Fassungslos sehe ich zu, wie mein Verfolger die Tür aufzieht. Mein Fluchtinstinkt führt mich ins Treppenhaus.
Weiter reichen meine Erinnerungen nicht. Mein Lebensretter sollte vermutlich nur abstürzendes Baumaterial auffangen, zur Sicherheit der Fußgänger 20 Meter tiefer. Mit mir ist das Fangnetz zunehmend überlastet. Zum Klang meiner Hilfeschreie und vermutlich wegen meiner Versuche das Netz in Richtung Dachkante hochzuklettern, reißen die letzten kritischen Halterungen und ich stürze ins Ungewisse.
Geschafft! Nach wochenlangem Abwägen des Für und Widers habe ich es durchgezogen. Ich habe das Netz gekappt. Kein Insta, kein Snapchat, kein TikTok, kein Fernseher. Was jetzt kommt ist ungewiss.