Paartanz
von R. Bote
Die große Weihnachtsaufführung war einer der Höhepunkte jedes Schuljahres am Internat Tannenberg am Rand der Alpen: ein dreistündiges, kunterbuntes Programm, zu dem alle Jahrgänge etwas beitrugen. Es gab Musik, Tanz, Schauspiel, Kabarett, eine Clowns-Nummer, Artistik … Alle weit über 200 Jungen und Mädchen, die die Schule besuchten, waren daran beteiligt, vor und hinter den Kulissen. Kaum jemand war darunter, der nicht mindestens einen Auftritt auf der Bühne hatte, selbst die Schüchternen trauten sich, weil sie wussten, dass sie nicht allein waren.
Fast alle Eltern kamen, um sich die Show anzusehen, ihre Kinder zu treffen und in einigen Fällen auch ein paar Worte mit den Lehrern zu wechseln. Manchen der Kinder und Jugendlichen war das peinlich, doch weil genug andere das gleiche Problem hatten, hob sich das irgendwie auf.
Den letzten Auftritt vor der Pause bestritten sechs Mädchen und zwei Jungen aus der 9. Klasse mit einem Stepptanz. Seit einem Vierteljahr hatten sie trainiert, hatten am Anfang sogar mehrere Musikstücke ausprobiert, bis sie eines gefunden hatten, das ihnen lag.
Während sie sich hinter der Bühne fertigmachten, hörten sie, wie das Stück, das ein Streichquartett aus der Unterstufe darbot, endete und mit Beifall bedacht wurde. Jetzt würden die vier Mädchen sich vor dem Publikum verbeugen, der Direktor würde den nächsten Act ankündigen, und dann … „Es geht los!“, flüsterte Loni, die die erfahrenste Stepptänzerin der Gruppe war.
Die Jugendlichen klatschen einander ab, lautlos natürlich, damit sie die Moderation nicht störten. Am Rand der Bühne, verborgen von den seitlichen Kulissen, stellten sie sich in einer Reihe auf und warteten auf das Signal. Frau Michel, die Deutsch, Musik und Kunst unterrichtete und hinter der Bühne den Ablauf überwachte, schaute, wann der Zeitpunkt gekommen war, und nickte dann Niklas zu, der in der Reihe vorne stand.
Die Jugendlichen liefen auf die Bühne und stellten sich auf: ganz außen die beiden Jungen, Niklas und Benjamin, neben Niklas Selma und Valentina, auf der anderen Seite neben Benjamin Frieda, die Jüngste, die eigentlich noch in der 8. gewesen wäre, aber vorzeitig eingeschult worden war, und Ariane. Das Zentrum bildete Loni zusammen mit Sina, die erst zu Beginn des Schuljahres ans Internat gekommen und schnell eine von Lonis besten Freundinnen geworden war.
Die Musik setzte ein, und die Jugendlichen legten los. Loni spürte den Rhythmus, hörte das harte Klackern, das ihn begleitete. Neben sich spürte sie Sina, sie standen dicht zusammen, dicht genug, um immer leichten Kontakt zu haben.
Es lief hervorragend, das lange Üben hatte sich wirklich gelohnt. Nach vier Minuten war Loni durchgeschwitzt, aber glücklich. Den Kameraden ging es nicht anders, und nachdem sie mit Applaus verabschiedet worden waren, umarmten sie einander noch auf der Bühne, ehe sie in den Kulissen verschwanden.
In der Pause schaute Loni kurz bei ihren Eltern vorbei. Die lobten ihren Auftritt und fanden, dass auch die anderen ihre Sache gut gemacht hatten. „Nur die neben dir wirkte etwas merkwürdig“, schränkte ihre Mutter ein. Sie hatte früher selbst im Verein getanzt, nicht auf höchstem Niveau, aber immerhin regional erfolgreich. Den kritischen Blick auf die Performance hatte sie immer noch. „Sie war immer viel zu dicht bei dir, du hättest noch mehr Ausdruck zeigen können, wenn sie dir nicht den Platz weggenommen hätte.“
Lonis Gesicht vereiste. „Du hast keine Ahnung!“, zischte sie. „Wenn du sie kennen würdest, würdest du nicht so rumkritteln.“ „Was denn?“, wunderte ihre Mutter sich, überrascht von Lonis plötzlichem Ausbruch. „Ich sag doch nur …“ „Genau“, unterbrach Loni sie, „und du hast keine Ahnung, was sie geleistet hat. Nur damit du’s weißt – Sina ist blind.