Ein ganz bestimmter Umschlag
von R. Bote
Die Sommerferien waren zur Hälfte vorbei, Zeit also, sich um den Schulbedarf fürs nächste Schuljahr zu kümmern. Linda hatte drei Listen an der Pinnwand hängen, die sie abarbeiten musste, die längste war die für ihren Sohn Joshua. Er würde nach den Ferien aufs Gymnasium kommen, seine Schwestern Raphaela und Tabea dagegen erst in die zweite und vierte Klasse.
Den Großteil der Sachen hatte Linda schon gekauft. Es gab ja kaum einen Supermarkt, der nicht um diese Jahreszeit Schulbedarf ins Angebot nahm, da hatte sie den Grundstock schnell zusammen gehabt. Aber ein paar Dinge waren zu speziell, Joshua brauchte zum Beispiel für den Musikunterricht ein Notenheft.
Linda fand, dass er mit fast elf Jahren alt genug war, die restlichen Sachen selbst zu besorgen, auch wenn er dafür mit dem Bus in die Stadt fahren musste. In drei Wochen würde er diese Tour täglich machen, das Gymnasium lag am Rand der Innenstadt. Tabea begleitete ihn, sie würde unter anderem ein Heft mit Übungsaufgaben abholen, das Linda in ihrer Stammbuchhandlung für sie bestellt hatte.
Linda war gerade dabei, die Spülmaschine auszuräumen, als ihr Handy eine eingehende Nachricht signalisierte. Weil die Kinder unterwegs waren, schaute sie direkt nach, und tatsächlich war die Nachricht von Joshua. „Wir kriegen den grünen Umschlag nicht“, textete er. „Ausverkauft.“ „Macht nichts“, tippte Linda. Sie wollte schreiben, dass sie den Umschlag – ein Schutzumschlag fürs Deutsch-Klassenarbeitsheft – dann eben beim nächsten Mal mitbringen würde. Doch dann überlegte sie es sich anders und rief lieber an. Neben dem Schreibwarenladen gab es auch noch die Schreibwarenabteilung im Kaufhaus, dort konnten Joshua und Tabea es auch noch versuchen.
Aber auf die Idee waren die Kinder selbst schon gekommen. „Auch nichts“, berichtete Joshua. Im Kaufhaus waren besagte Umschläge genauso ausverkauft wie im Schreibwarenladen. Er hatte auch schon nachgefragt, wann sie wieder reinkommen würden. „Die wissen nicht, wann sie wieder welche haben“, sagte er. „Sie haben sie bestellt, aber die Firma schickt keine.“
„Na ja, halb so schlimm“, entschied Linda. „Ein bisschen Zeit ist ja noch, und wenn sie gar nicht mehr zu kriegen sind, dann muss es ein anderer tun. Klappt bei Tabbi und Rapha ja auch.“ Auch die Mädchen mussten Schutzumschläge in bestimmten Farben an den Heften haben, aber die Grundschule hatte im Gegensatz zu Joshuas neuer Schule keine Marke vorgegeben.
Linda kaufte lieber vor Ort, trotzdem schaute sie nach, ob der Umschlag online zu bekommen war. Schwierig, stellte sie fest. Zwei Anbieter fand sie auf den großen Plattformen, und die nahmen Mondpreise. 4,50€ pro Stück war das billigste Angebot, zuzüglich Versand. Das war Wucher, auch wenn der Hersteller eine Manufaktur war.
Über das Sekretariat der Schule, das zum Glück auch in den Ferien E-Mails beantwortete, kam Linda an die Kontaktdaten der Klassenlehrerin. Von der kam die Vorgabe mit dem Umschlag, und vielleicht wusste sie gar nicht, wie schwer der derzeit zu bekommen war. Doch die Lehrerin blieb dabei: Es musste genau dieser Umschlag sein.
Die Vehemenz kam Linda merkwürdig vor, auch wenn sie es prinzipiell löblich fand, regionale Unternehmen mit nachhaltiger Produktion zu unterstützen. Eigentlich wollte sie keinen Ärger mit der Lehrerin, ehe Joshua sie überhaupt kennengelernt hatte, aber anders ging es wohl nicht.
Am Abend rief sie erneut an. „Nur damit Sie Bescheid wissen:“, sagte sie, „Joshua wird einen ganz normalen grünen Umschlag an sein Deutschheft machen, und Sie werden ihm deswegen keinen Ärger machen. Sonst könnte ich mir noch mal überlegen, ob es mir wirklich reicht, wenn Sie geräuschlos die beiden Accounts dichtmachen, über die Sie die Sachen fürs Doppelte oder Dreifache von dem verkaufen, was ihre Schwester bekommen würde, wenn sie sie an die Läden liefert.“