Alt 42
von Inkslinger
“Du weißt, was dich heute erwartet?”
Ich zucke zusammen. Da hat sie mich doch glatt beim Tagträumen erwischt. Und auf dem falschen Fuß.
Aber ich beschließe, es ihr nicht übel zu nehmen und ihre Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. “Hä?!”
Tilde lächelt nachsichtig. “Wir haben letzte Woche darüber gesprochen. Die Konfrontation mit deinen Auslösern.”
Ich nicke hastig. “Ach so, das meintest du. Ja, klar. Lass uns los konfrontieren."
Sie schmeißt ihren Overheadprojektor an und legt die erste Folie auf.
An der Wand erscheinen Worte.
Steuernummerangleichungsvorgang*
Soliloquy*
Proletariatsleugnung*
Tilde mustert mich während ich sie lese und auf mich wirken lasse. “Und? Was fühlst du?”
“Ich fühl mich gut. Fußnoten sind was Tolles. Es kann gar nicht genug Fußnoten geben.”
Sie nickt und wechselt die Folie.
*Superkalifragilistischexpialigetisch
*Reparatur
*Alliteration
“Wie steht’s hiermit?”
“Jeder macht mal Fehler. Ich freue mich, wenn man mich in die Korrektur einbezieht.”
Folienwechsel.
****
9817***223
**61**
Tilde zeigt auf die Wand.
Ich zucke mit den Schultern. “Ich helfe gern beim Erhalt der Privatsphäre.”
Nickender Folienwechsel.
Verf*ckt
Schei*e
M*tterf*cker
Ich verschränke die Arme vor der Brust und rutsche auf dem Stuhl herum. “Na, das ist aber ein bisschen übertrieben.”
“Interessant. Was stört dich daran?”
“Es ist so … unnötig schroff. Außerdem weiß ich nicht, was an dem Wort 'Mutter' piepungswürdig ist. Das gefällt mir nicht. So sollte das nicht aussehen.”
Tilde macht sich eifrig Notizen. “Wir kommen jetzt zur letzten Folie.”
Ich wappne mich innerlich für das, was mich erwartet.
Polizist*innen
Beamt*innen
Mensch*innen
Ich stehe auf und laufe im Therapieraum umher.
Tilde macht sich weitere Notizen. “Was fühlst du?”
“Ähm… Keine Ahnung. Scham? Hass? Erschöpfung?”
“Kannst du das erklären?”
“Nein.”
“Wieso schämst du dich, dich in dieser Funktion zu sehen? Bist du gegen Inklusion?”
“Nein! Natürlich nicht! Das ist ein guter Einsatz für mich. Denke ich… Es ist nur … der Hass. Ich wurde noch nie zuvor gehasst. Ich war immer gern gesehen. Manche Leute haben mich sogar verehrt und öfter eingesetzt, als es nötig war. Ich wurde als hilfreich angesehen. Aber jetzt nennen sie mich den 'Zerstörer der Sprache' und 'linksgrünversifftes Wokesternchen'!”
“Ich kann verstehen, dass dich das belastet.”
Ich schnaube. “Ja, klar. Gerade du. Alle Portugiesen und Spanier hassen dich bestimmt. Buhu.”
Tilde atmet tief durch und schaut mir direkt in die Augen.
Als ich dem Blick nicht mehr standhalten kann, setze ich mich wieder auf meinen Platz. “Tut mir leid. Das war unfair.”
Sie nickt. “Alles okay, Asterisk. Sprich bitte weiter.”
Ich seufze. “Früher war es einfacher. Man hat mich eingesetzt – oder eben nicht. Jetzt bin ich Thema in der Politik! Man will mich sogar verbieten! Damit kann ich nicht umgehen.”
“Das ist eine große Umstellung für dich. Ich bin hier, um dich dabei zu unterstützen."
Sie legt ihr Notizbuch weg und nimmt meine Hände in ihre. "Du hast heute einen großen Schritt vorwärts gemacht. Wir haben viel, womit wir nächste Woche arbeiten können. Ruh dich erstmal aus. Und meide das Internet – besonders die sozialen Medien – für einige Zeit. Alles wird gut."