Beiträge von SchreibwettbewerbOrg

    Der halbe Graf

    von R. Bote


    Schnelles Hufgeklapper ließ Laurenz aufmerken. Obwohl es noch ein gutes Stück entfernt war, hörte er heraus, dass es mehrere Reiter waren, und sie näherten sich rasch. Er hatte eine Ahnung, wer es war, eigentlich kam es nicht überraschend.

    Laurenz versah die einsame Wache an der einzigen Brücke über den Fluss, der alte und neue Grafschaft trennte. Die Brücke war abgesperrt, und die Wachen hatten Anweisung, Durchbrüche auch mit dem Schwert zu verhindern.

    Vor nicht allzu langer Zeit war auf der Brücke noch reger Verkehr gewesen. Zu Graf Karls Lebzeiten hatte es nur eine Grafschaft gegeben, doch nach seinem Tod war alles anders geworden. Der rechtmäßige Erbe wäre sein ältester Sohn Philipp gewesen, der wie der Vater dafür stand, dass alle ihr Auskommen haben sollten. Der jüngere Sohn, Otto, hatte sich jedoch damit nicht abfinden wollen, und er hatte die Unterstützung der wohlhabenden Händler und der Kirchenmänner gehabt.

    Um eine blutige Fehde zu verhindern, hatte Philipp selbst den Lehnsherrn um die Teilung der Grafschaft gebeten. Otto hatte den aufgesetzten Vertrag zähneknirschend unterschrieben, weil er gewusst hatte, dass er gegen den Lehnsherrn nicht gewinnen konnte.

    Seitdem suchte er sein Reich mit allen Mitteln gegen Philipp abzuriegeln und hatte sämtliche Brücken über den Fluss abreißen lassen. Nur die eine hatte er auf Geheiß des Lehnsherrn stehen lassen müssen, und er durfte auch nur einen Soldaten dort wachen lassen. Die gesamte Umgebung abzusperren, sodass niemand überhaupt in die Nähe der Brücke kam, war schlicht unmöglich, so viele Soldaten hatte Otto gar nicht.

    So fanden zu seinem größten Verdruss weiterhin Nachrichten und Briefe den Weg über den Fluss. Schlimmer noch: Je strikter er gegen die heimlichen Kontakte vorging, desto mehr wuchs bei seinen Untertanen der Wunsch nach einer Wiedervereinigung der Grafschaft mit Philipp als Grafen.

    Inzwischen war er so weit, dass er persönlich Jagd auf die „Verräter“ machte. Regelmäßig ritt er mit einem kleinen, handverlesenen Gefolge die Umgebung der Brücke ab und ließ sich von der Wache Bericht erstatten.

    Laurenz sah die Reiter nahen und erwartete sie vor der Tür des kleinen Wachhäuschens stehend. Er nahm Haltung an und grüßte seinen Herrn, wie der es erwartete. „Ungewöhnliche Vorkommnisse?“, verlangte der Graf zu wissen. Laurenz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Graf!“, antwortete er fest. „Niemand war hier, das Tor ist verschlossen.“

    Der Graf ritt bis dicht ans Tor heran und rüttelte an den hölzernen Balken. „Man müsste alles zumauern!“, schimpfte er. „Die Wachen in der Stadt haben schon wieder Briefe beschlagnahmt!“

    Laurenz sagte nichts, er wusste, dass der Graf keine Antwort erwartete. Gleich darauf waren die Reiter auch schon wieder auf und davon, der Graf sichtlich aufgebracht und ratlos, weil die geheime Verbindung zu den Nachbaren unauffindbar blieb.

    Laurenz wartete, bis die Männer außer Sicht waren, und gab zur Sicherheit noch ein paar Augenblicke zu. „Ihr könnt rauskommen!“, sagte er dann leise in Richtung der Hütte.

    Die Tür öffnete sich, eine junge Frau schaute sichernd in die Runde und trat dann ins Freie. Eine zweite folgte ihr, genauso alt und mit einer unübersehbaren Familienähnlichkeit.

    Der Graf hätte es ahnen können, hätte er wenigstens einen Hauch von Nähe zu seinen Untertanen bewahrt. Weil er das nicht hatte, erkannte er in Laurenz nicht den Bauernjungen wieder, der vor Jahren seiner Tochter Amalia das Leben gerettet hatte: Sie war vom Pferd gefallen, hatte ihre Zunge verschluckt und wäre erstickt, wenn er nicht da gewesen wäre. Amalia hatte das nicht vergessen und war Laurenz in tiefer Freundschaft verbunden geblieben – genauso heimlich, wie sie sich jetzt während seiner Wache hinter dem Rücken des Vaters mit ihrer Base Theresa traf, um Neuigkeiten auszutauschen und Briefe zu übergeben.

    Der Fluch

    von Inkslinger


    “Verdammt!”

    Fluchend ziehe ich meine Hand zurück und stecke den Zeigefinger in den Mund. Der Geschmack von Metall und Frust legt sich auf meine Zunge.

    Erschöpft sinke ich auf den Waldboden und starre die Tür vor mir böse an. Doch für Streitereien bleibt keine Zeit. Die Sonne versinkt schon hinter den Baumkronen. Bald wird es zu dunkel sein, um weiterzumachen.

    Ich rapple mich auf und gehe wieder an die Arbeit.

    Der Schließmechanismus der Rätselpforte besteht aus vier Reihen, die jeweils 36 Messingteile beinhalten. In jeder Reihe gibt es einen leeren Platz für ein Objekt, das vorher aus den Teilen zusammengesetzt werden muss. Unzählige Kombinationen habe ich in den letzten drei Monaten probiert. Doch es passiert nie etwas.

    Auch heute habe ich kein Glück. Die Tür bleibt zu.

    Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich drehe mich um.

    Mark lächelt schief. “Hey, Meister. Bist du bereit für den Abflug?”

    Ich seufze leise. “Nein. Aber ich werde mitkommen. Bevor du mich wieder in den Schwitzkasten nimmst.”

    Er grinst. “Braver Henrik.”

    Ich drehe mich noch ein letztes Mal zum Messingungetüm um und streiche sanft über die Puzzleteile, bevor ich meinem besten Freund zum Auto folge.

    Auf dem Heimweg reden wir kein Wort. Mark hat es sich angewöhnt, mich abzuholen, nachdem ich mich mal nachts im Wald verirrt habe und beinahe mit einem Wildschwein aneinandergeraten bin. Er versteht nicht, was mich jeden Tag dort raus treibt. Und ich weiß nicht, wie ich es ihm erklären soll. Wie kann man etwas erklären, das man selber nicht versteht?

    Ich weiß nur, dass ich das Rätsel knacken muss. Auch, wenn es mich meinen Verstand kostet.

    Aber es ist so frustrierend! Nicht nur wegen der abertausenden Möglichkeiten, die die vier Teile zusammengebaut werden können. Es kommt mir so vor, als hätte ich diese Zeichen schon mal gesehen. Aber ich komme ums Verrecken nicht drauf, wo! Geschweige denn, wie es mir helfen könnte.


    Zuhause falle ich sofort ins Bett. Natürlich träume ich wieder von ihr. Die wunderschöne Lichtgestalt, die mich verflucht hat.

    Jede Nacht sehe und spüre ich sie. Ihre Blicke sind wie Stromstöße direkt in mein Herz. Ihre Stimme die Heilung all meiner Narben.

    Sie nimmt meine Hand und führt mich durch das dichte Unterholz. Nur der Vollmond und das Leuchten ihrer Haut dienen uns als Lichtquelle. Trotzdem stolpern wir nicht, denn wir geben uns gegenseitig Halt. Nach einer Weile kommen wir an unserem Ziel an.

    Die Tür schaut auf uns herab. Auch auf dieser Seite ist sie ein unüberwindbares Hindernis.

    Ein wohliger Schauer rennt mir über den Rücken, als meine Traumfrau mich anspricht. “Liebster, wann kommst du zu mir? Ich warte schon eine Ewigkeit darauf, dich endlich in meinen Armen halten zu können.”

    “Bald, das verspreche ich dir. Ich versuche es jeden Tag und werde nicht aufgeben. Egal, wie lang es noch dauert.”

    Sie küsst mich, heiß und hungrig.


    Bei Sonnenaufgang bin ich wieder im Wald. Und zuversichtlicher als jemals zuvor. Denn der Traum letzte Nacht hat mir die Lösung geliefert. Bei der Tür auf der anderen Seite, wo meine Liebste wartet, sind die vier Schlüsselobjekte schon zusammengesetzt und platziert gewesen. Wenn ich das bei meiner Tür reproduzieren kann, habe ich es geschafft!

    Es kostet mich vier weitere Tage, aber dann ist es endlich so weit. Ich habe einen Rucksack dabei und einem irritierten Mark Lebewohl gesagt.

    Ich setze die Teile ein und das Schloss öffnet sich knirschend.

    Ich ziehe die Tür auf. Dahinter liegt ein Fluss mit einer kleinen Holzbrücke. Wo sie endet, kann ich nicht sehen, denn die andere Seite ist komplett in Nebel gehüllt.

    Ich atme noch einmal tief durch und gehe los.