Beiträge von Maarten

    Gestern abend nochmal das Kapitel Aufprall gelesen, die Zugfahrt zurück, es ist wie eine Art Beschleunigungskapsel in der sich Alex befindet...


    Am liebsten wäre ich in meine Tasse eingetaucht und durch sie und irgendeinen magischen Tunnel hindurch direkt zurück in meine Holzhütte im Garten von Meisenring 15 geflutscht.

    Ja, ok, magischer Tunnel passt auch ganz gut. Das Kapitel beginnt in der Vergangenheit bei der Besprechung mit Monika Westhof, um dann in der Gegenwart zu landen, im ICE (nicht der Sprinter vom Hinweg).

    Jetzt sitze ich im Zug. ... ich schaue lieber aus dem Fenster, das Licht wechselt rasch, weil es hier und da bedeckt ist und sich die vereinzelten Wolken schnell bewegen. Ich will mit Tabea reden; sie ist der einzige Mensch, der mir helfen kann. Sie ist der einzige Mensch, der mich verstehen könnte. Sie ist der einzige Mensch. Sie ist Tabea.

    Dieses rasch wechselnde Licht (was auch ein Verweis auf den Titel dieses Romans ist), die schnell bewegenden Wolken bringen Geschwindigkeit in die Szene. Die immer kürzeren 'Tabea'-Sätze bringen Beschleunigung und erinnern mich an dieses schneller werdende rhythmische Geräusch im Zug und sie fokussieren auf das Wichtige in Alex Leben.


    Aber ich muss mir erst überlegen, wie ich ihr das erzählen kann, ohne sie übermäßig gegen mich aufzubringen, und das kommt mir wie eine unlösbare Aufgabe vor. ...

    Abstürzen.

    Anders als auf dem Hinweg denkt Alex nicht über 'Abbremsen', sondern über 'Abstürzen' nach. Oder genauer, er denkt nicht nicht über 'Abbremsen' nach, sondern er denkt tatsächlich über 'Abstürzen' nach. Tabea davon zu erzählen ist eine andere Nummer als Monika Westhof. Seine Ängste übernehmen. Auf der Hinfahrt war es sein Smartphone was mit Ängsten anklopfte, hier erinnern ihn seine Ängste unbewusst an sein Smartphone:

    Als ich nach einiger Grübelei endlich mein Telefon aus der Tasche ziehe und das Display berühre, um es zu aktivieren, geschieht nichts. ...

    Und gleich darauf piept es wie wild...

    Meine Nackenhaare stehen, mein Herz hat aufgehört zu schlagen, oder es schlägt so schnell, dass die Schläge nicht mehr zu unterscheiden sind...

    Fahrt aufgenommen hatten wir ja schon (das wechselnde Licht). Die Sache mit dem Herz passiert gleichzeitig: Die Zeit bleibt stehen und die Zeit rennt. Die Zeit bleibt aus der Perspektive von Alex stehen, weil er selbst sich so schnell bewegt. Mental. (Am Nebentisch eine Familie die ein Spiel spielt. So war es bisher, ein Spiel.)


    Als es endlich klappt, steht jemand neben mir, und ich erkenne den Geruch, obwohl ich zu atmen aufgehört habe. Ich wedle mit der Hand und schnarre »Jetzt nicht!«, während ich darauf warte, dass Favel ans Telefon geht.

    Die Zugbegleiterin aus dem Sprinter auf dem Hinweg. Es ist tatsächlich genau die vom Hinweg. Was sehr unwahrscheinlich ist. Aber sie ist es, denn sie spielt die gleiche Rolle wie auf dem Hinweg, sie steht für sowas wie die reale Welt mit ihren Anforderungen (und dem Schweißgeruch). Aber es gibt jetzt eine noch realere Welt als die reale Welt und die einzige Verbindung dorthin gibt es über das Telefon (es heißt nicht Smartphone, wie ich gerade merke, was es auch ein kleines bisschen zu einem mythischen Gegenstand macht. Ok, ich übertreibe womöglich beim Beobachten was hier passiert?).


    »Was ist passiert?«, frage ich meinen Sohn. Meine Stimme klingt, als würde mir jemand ein Kissen aufs Gesicht drücken.

    So ist Alex zu Beginn dieser Entwicklung...

    Und so am Ende dieser Entwicklung in dieser magischen Beschleunigungskapsel, es hat sich komplett gedreht. Und das Telefon pingt auch nicht, sondern er ist es, der anruft.

    Ich rufe Favel noch einmal an und erkläre ihm und meiner Tochter, dass ihre Mama gerade operiert wird.


    Dazwischen die Zugbegleiterin:

    »Oh«, sagt sie, bleibt aber neben mir stehen.

    Die reale Welt, wie ich sie oben genannt habe, vielleicht besser die alltägliche Welt mit ihren Anforderungen, sie bleibt stehen.


    Und:

    »Das ist die schnellste Verbindung«, erklärt die Zugbegleiterin neben mir. »Es hat keinen Sinn, den Zug anzuhalten. Schneller als mit dem ICE kommen Sie nicht nach Hause.«

    Alex sitzt quasi in einem Gefängnis, es gibt keine Möglichkeit auszusteigen. Er muss die Entwicklung in diesem magischen Tunnel durchleben, um dort anzukommen, wo er gebraucht wird.


    Später:

    Die Zugbegleiterin steht immer noch neben mir und starrt mich an, das Licht flackert nach wie vor vom raschen Wechsel der Wolken, und die Familie, die auf der anderen Gangseite sitzt, hat mit ihrem Siedlerspiel aufgehört, das bereits den gesamten Tisch einnimmt.

    Es ist kein wechselndes Licht mehr, wie am Anfang, sondern sogar ein flackerndes, wie in einem schnellen Zeitraffer. Maximale Geschwindigkeit. Alex entwickelt sich rasant, alles andere steht im Vergleich, alles andere wartet auf diese Entwicklung von Alex, darauf, dass er ankommt.


    Zum Schluss pingt es dann doch nochmal, das Telefon

    Mein Telefon piept und zeigt mir, dass ein unbekannter Anrufer mit mir sprechen will.

    Er geht ran, weil es das Krankenhaus sein könnte, es ist aber 'nur' ein Erpressungsversuch. Alex Reaktion wird nicht einmal beschrieben, denn - wie wir ja ausführlich diskutiert haben - es ist nicht wichtig. Alex bisherigen Ängste, sie spielen jetzt einfach keine Rolle mehr...


    Die eigentliche Kunstfertigkeit ist, finde ich, dass man das Kapitel lesen kann, ohne irgendwas von diesen Ebenen zu merken. Es ist dann einfach nur eine vordergründige Erzählung von dem was passiert.

    Für mich ist so eine Schülerliebe, die eine zehnjährige kontaktlose Trennung überdauert, unrealistisch. Die Erinnerungen werden da gerne verklärt.

    Das mag ja sein, aber es spielt für diese Geschichte keine Rolle. Statistisch gesehen mag es sehr unwahrscheinlich sein, dass es das gibt. In dieser Geschichte ist es aber so.
    Die beiden sind 10 Jahre auseinander, es kommt der Punkt, dass sie nach den 10 Jahren wieder zusammen sind, wir wechseln in die Gegenwart und sie sind immer noch zusammen und glücklich.

    Und wie SiCollier schon angemerkt hat: Eine weinende Frau nach zehn Jahren vor der Tür ist meistens eher der Ausgangspunkt einer Geschichte, nicht etwas, über das kommentarlos hinweggegangen wird.

    Das darüber hinweggegangen wird, ist der Kommentar.


    Edit:

    Diese Geschichte ist in dieser Hinsicht ja der Gegenentwurf zu 'Freitags bei Paolo':
    Dort die junge große Liebe ab dem ersten Moment und dadurch später die - aus meiner Sicht falsche - Einsicht, dass es trotz aller Harmonie wegen nachlassender Leidenschaft Zeit ist sich zu trennen.


    Hier hingegen die junge große Liebe mit anschließend 10 Jahren Trennung, die für beide Seiten sehr deutlich macht, dass sich das nicht mit anderen wiederholt

    Ich bin inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob ich in der LR etwas schreiben sollte - oder ob ich das Buch überhaupt richtig verstanden habe.


    Maarten , ich bewundere Deine Interpretationen. Ich schätze, da würde ich auch mit viel Überlegen nicht drauf kommen. (Allerdings: ich habe schon in der Schule im Deutschunterricht Interpretationen vielleicht nicht gerade gehaßt, aber - oder, wenn ich recht nachdenke, ich habe sie gehaßt und sie haben mir sogar Bücher, die mir eigentlich gefallen hätten, verleidet).

    Ich habe Deutschunterricht - insbesondere Interpretation - richtig gehasst, es geradezu als traumatisch empfunden. Ich weiß nicht ob das heutzutage noch so gemacht wird, aber mich hat insbesondere diese Behauptung irritiert, es gäbe ein 'richtig' beim Lesen eines Buches. Aus meiner Sicht ist das grober Unfug und ich habe mich wegen meinem damaligen Deutschunterricht und den Interpretationen dort, die ich als an den Haaren herbeigezogen empfunden habe, Jahrzehnte geweigert, überhaupt zu vermuten, dass in einem Text mehr stecken kann, als die vordergründige Handlung.


    Statt einem 'Richtig verstehen' scheint es mir eher ein unterschiedlich tiefes Eintauchen in ein Buch zu geben, was letzten Endes eine sehr persönliche Sache ist. Dieses Herauspressen von Interpretationen im Deutschunterricht scheint mir eigentlich nur destruktiv zu sein. Was ich oben geschrieben habe, sehe ich entsprechend auch nicht als ein 'Interpretieren' an, sondern eher eine Beschreibung, wie ich den Text beim erneuten Lesen erlebe.

    Und wie gesagt: Ich denke nichts von dem oben beim Lesen... wollte lediglich verdeutlichen, dass dieses Buch viel mitbringt um tief eintauchen zu können.

    Und Deine Beiträge hier in der Leserunde finde ich sehr lesenswert.

    Tom hat ja schon an anderer Stelle was dazu geschrieben, warum die 10 Jahre von Tabea nicht Teil dieses Romans sind. Ich versuche mal von einer anderen Seite aus deutlich zu machen, was warum Teil eines Romans ist und warum nicht und auch warum ich dieses Buch liebe.

    Tom lässt 10 Jahre Tabea einfach so weg und stattdessen schreibt er etwas, was eigentlich nicht mal einen Satz verdient hätte - eine verdammte Zugfahrt, bei der es nur darum geht von A nach B zu kommen - in aller Ausführlichkeit. Was hat ihn da nur geritten?!


    Also schlage ich mal die Zugfahrt auf, die Hinfahrt.


    Wenn alles gut geht, was ja der zweite Vorname der Deutschen Bahn ist, bin ich in kaum vier Stunden, also um kurz vor zwölf in München.


    Alleine für diesen Satz hätte es sich für mich schon gelohnt dieses Buch zu lesen.
    Es ist alles drin, was Toms Bücher ausmacht. Humor, Ambivalenz, die Dringlichkeit der Zeit, das auf dem Weg sein und ganz knapp vor Schluss ankommen - wenn alles gut geht - also auch Spannung. Und das ist kein Zufall, da stecken Jahrzehnte erworbener Kunstfertigkeit dahinter, gepaart mit Sorgfalt und Gedanken.


    Der gemütliche Alex, dessen Leben bisher dahingeschlendert ist, sitzt hier in einem Sprinter:

    Also habe ich noch vier Stunden Zeit, um mir Gedanken zu machen. Gerne auch über Anhaltewege, ...


    Also macht er was?

    Ich baue meinen Laptop auf und schließe ihn an, ich checke ins WLAN ein, schalte mein Smartphone auf Vibration, stelle meine Wasserflasche auf den Tisch, neben meinen Thermobecher, den ich mir später auffüllen lassen werde; ich habe den Bahnkaffee in guter Erinnerung.


    Sich jedenfalls keine Gedanken über Bremswege, den so ist er, unser Alex, am Anfang dieser Sprinter-Fahrt.


    Dann bin ich ratlos, was ich tun soll, und schaue aus dem Fenster, sehe die Landschaft vorbeifliegen, die uns früher, also vor dem Mauerfall, deutlich grauer und armseliger vorkam als die Landschaft weiter westlich, wenn wir hier langgefahren sind, meistens in unseren Autos oder in viel, viel langsameren Bahnen (in denen wir von DDR-Grenzpolizisten, genannt Grepos, kontrolliert wurden), und ich bin mir sicher, dass mich meine Erinnerung nicht trügt.


    Ok, losgefahren, was ist jetzt mit den Bremswegen? Wolltest Du Dir da nicht Gedanken machen?

    Deshalb kommt mir die Idee, mich dem Songtext zu widmen....


    Verdammt, ist es nicht gleich kurz vor 12? Komm mal zur Sache Alex

    Als ich diese Gedanken zu Ende gedacht habe, bin ich für ein paar Momente von meiner Kreativität ganz beglückt, aber viel Zeit, mich darüber zu freuen, habe ich nicht, denn eine deutlich nach Schweiß riechende Zugbegleiterin hat sich neben mir aufgebaut und verlangt nach meiner Beförderungslegitimation.


    Da holt es ihn ein, und nicht nur das

    Während sie den Ausdruck kontrolliert, pingt mein Telefon.


    Auch seine Ängste klopfen an (Das Telefon wird auch auf dem Rückweg eine große Rolle spielen. Der wieder in einem Schnellzug stattfindet...) und stellen vor allem Alex Platz an Tabeas Seite in Frage, im Prinzip seinen Platz in der Welt überhaupt.


    Und schließlich

    »Aber das ist ein Ticket mit Zugbindung und Platzreservierung, und ich bin der einzige Mensch, der auf diesem Platz sitzt. Sehen Sie.« Ich stehe kurz auf und präsentiere den dadurch leeren Sitz, während meine Gedanken weiter um Birger und Tabea kreisen. Die Zugbegleiterin nickt, ohne die Miene zu verziehen. »Das mag stimmen. Aber sollte es nicht stimmen, und die Person, die das Ticket gekauft hatte, beantragt eine Rückerstattung, dann wird es problematisch.«


    Was ja nicht nur exakt die Situation von Alex bzgl. seinen Büchern spiegelt, sondern auch seine Angst bzgl. Tabea. Tatsächlich hat er - ohne es zu wissen - Recht: Wenn er aufsteht, ist da niemand, weder an Tabeas Seite, noch als Autor der Bücher, die er geschrieben hat.


    Ich seufze. »Ich verstehe. Dann muss ich wohl an der nächsten Station aussteigen?« Ihr Gesicht bleibt unbewegt. »Das müssen Sie sowieso. Aber ich muss mit der Zugchefin sprechen.«


    Die in diesem Fall dann wohl Monika Westhaus sein wird, mit der Alex dringend sprechen muss.


    Es stecken hier in jedem Wort, jedem Satz, der Zusammenstellung der Szenen, die Strukturierung in Kapiteln so viel Sorgfalt, Kunstfertigkeit und Gedanken, dass es tatsächlich irritieren kann, wenn stattdessen hier darüber diskutiert wird, was nicht in diesem Roman steht. Wäre es nicht sinnvoller darüber zu diskutieren, was in diesem Roman steht? Es ist wahrlich genug da.


    Mich jedenfalls irritiert das.


    Nehmen wir den Rückweg:
    Tabeas Unfall wäre bei einem Fitzek ein Geschmader aus splitternden Knochen und spritzendem Blut gewesen (ich habe noch nie einen Fitzek gelesen, korrigiert mich, wenn es anders ist...). Wollte man den Horror der Situation geschmackvoller in den Vordergrund stellen, hätte man die Szene aus Lavidas Sicht geschildert, wie sie machtlos am Telefon zuhören muss. Tom geht in der Perspektive noch eine Ebene weiter weg.

    Die Diskussionen hier kommen mir zum Teil so vor, als hätte man einfach lieber einen Fitzek gelesen.
    Oder als wäre man auf einem Jazz-Konzert gelandet, wo man doch Schlager wollte.
    Oder so.

    Da können dann aber die Jazz-Musiker nichts für.
    Und dieser wunderbare Roman auch nicht.

    Edit: Ich denke übrigens nichts von dem, was ich oben geschrieben habe, beim Lesen. Für mich war dieser Teil des Romans ein Pageturner, mich interessierte tatsächlich die Handlung. Aber ich bekomme sie schon mit, diese Kunstfertigkeit. Es bleibt irgendwie unbewusst hängen. Und ich vermisse sie, sogar sehr, wenn sie nicht da ist.

    :gruebel Und warum empfindest Du es dann so irritierend, wenn die Leser*innen das im Rahmen einer Leserunde tun?

    Manche haben eben mehr Fantasie mit der sie Lücken füllen wollen (andere weniger) und Freude am Spekulieren.

    Eine Figur, die nur grob skizziert wird, lädt manche einfach zur Detailsuche ein.

    Tom hat doch bereits geschrieben, dass ihn das freut:

    Ich finde es - ganz im Gegensatz zu Deiner Unterstellung - sehr, sehr schön, nachgerade glücklichmachend, wenn (mein) fiktives Personal so viel auslöst, dass man mehr darüber wissen will, als im Text zu finden ist.



    Hingegen wenn es darum geht, dass 10 Jahre Tabea ausgelassen wurde:

    Zitat

    Tabea, die gerade die Terrassentür schießen wollte, hielt in der Bewegung inne. „In meiner Vorstellung warst du ritterlich, bis ich vor deiner Tür stand. Ich weiß, dass es anders gewesen ist, aber ich liebe meine Vorstellung. Die will ich nicht kaputtmachen.

    Hab das Buch nicht gelesen und werde es auch nicht, lese aber interessiert bei den Leserunden mit.

    Ja er antwortet ausführlich, aber mich persönlich würde die Art und Weise mit der Tom manche Kritik beantwortet, auch etwas anpissen.


    Es gibt nun mal Leute die sich für andere Menschen( in diesem Fall Tabea) interessieren, das macht Tom weder zum schlechten Erzähler, noch muss deshalb das Buch eingestampft werden.

    Ein ganz wesentlicher Teil jeder Kunstform ist zu entscheiden, was explizit gemacht wird, egal ob es erzählt, gezeigt, hörbar, erlebbar gemacht wird. Und eben was weggelassen wird, was im off passiert. Die Pause in einem Miles Davis-Solo (dessen 'spaces' der vielleicht prägendste Bestandteil seiner Musik überhaupt sind), die Auslassungen in einem impressionistischen Gemälde usw., die Szenen in einem Roman, was wird gezeigt, geschrieben, hörbar gemacht, was nicht...

    Ich kann gut verstehen, dass Tom irritiert und ein bisschen verärgert ist (seine Worte).
    Ich wäre an seiner Stelle einfach nur angepisst und ich bewundere die Geduld und Ausdauer, mit der er versucht, nicht nur zu erklären, warum er das so gemacht hat, sondern sich sogar die Mühe macht es sichtbar zu machen, indem er den 'fehlenden' Text schreibt, damit erkannt werden kann, dass nichts fehlt.

    Würde Monet uns nochmal eines seiner impressionistischen Gemälde fotorealistisch malen, um uns zu zeigen, dass sein impressionistisches Gemälde nicht nur bereits alles enthält, sondern auch das Wesen einer Szene hervorhebt.
    'Aber warum sehe ich noch immer nicht die Details eines Fotos, hier links unten ist der Schaum auf den Wellen noch immer nicht feinkörnig erkennbar...'

    Tom gibt sich wirklich allergrößte Mühe und erklärt mit Engelsgeduld, warum es ist, wie es ist.

    8)


    Diese Szene - und das ist die schlimmste Ausrede/Erklärung, die denkbar ist, denn eigentlich erklärt das im Hinblick auf den Text nichts - habe ich in fast identischer Dramaturgie selbst erlebt. Als mir das (indirekt, als Zeuge des Geschehens) passiert ist, stand ich eine ganze Weile ziemlich erschüttert da, während sich der Imbissbudenmensch schon wieder anderen Kunden gewidmet hat, und konnte den Anblick dieser Frau nicht loswerden, das knautschige Gesicht mit Ketchup beschmiert, aber auch ihren wütend-verzweifelten Blick, als sie mit der Pappe nach dem Imbissmenschen geworfen hat. Scheiße, habe ich da gedacht, nicht dass Dir sowas auch passiert, wenn Du über das Bisschen organische Material in Deinem Schädel allmählich die Kontrolle verlierst. Und deshalb ist es im Buch gelandet. Ich fand die Episode einfach sehr bemerkenswert, und brauchbar, weil sie einen Aspekt des Älterwerdens beleuchtet.

    Ja, im Leben erlebt man viele dieser Szenen, die, schreibt man sie in ein Buch, geradezu unglaubwürdig wirken.


    Puuuh, eine schreckliche Szene...

    Ich setze dem gerne mal ein Gegengewicht gegenüber (auch wenn es das im Buch mit Brahoon ja längst gibt):



    Und hier noch eines, wo er jung ist (irgendwas Anfang/Mitte 90 vermute ich):

    "Ich mag es sehr, in Großstädten zu sein und dort zu leben. In Großstädten gibt es vielleicht nicht weniger Arschlöcher als in kleinen Städten, prozentual betrachtet, aber in Großstädten ist es einfacher, ihnen aus dem Weg zu gehen." (aus 'Die Wahrheit über Metting' - Tom Liehr).


    Ich hatte ein wenig Angst vor dem neuen Roman 'Im wechselnden Licht der Jahre'. Ein melancholisch anmutender Titel, ein ebensolches Cover und ums Altern soll es auch noch gehen. Und es beginnt auch noch mit einem Prolog.

    Wird womöglich Tom Liehr langsam alt, und seine Romane auch?


    Nein, das eigentliche Thema dieses Romans ist das gleiche wie das aller Romane von Tom Liehr, das Leben an sich. (Und genau genommen fing schon 'Die Wahrheit über Metting' mit einem Prolog an...)


    Die Kulisse hier ist - und deswegen auch das obige Zitat - das Gegenteil einer Großstadt. Kleinmachnow zählt zwar zum Speckgürtel von Berlin, aber die direkte Umgebung dort von Alexander Bengt - dem Protagonisten dieses Romans - ist der Meisenring in Kleinmachnow und der ist wie ein kleines Dorf. Der Roman beginnt bereits deutlich davor in der Schulzeit von Alexander Bengt, aber auch da ist es immer seine direkte Umgebung, die beleuchtet wird. Zunächst seine Klasse, später die Bar, in der er arbeitet usw. bis eben zum Meisenring, der Gegenwart, die dann - ähnlich wie es auch in 'Die Wahrheit über Metting' war - im Präsens erzählt wird, in diesem für Liehr so typischen ungefilterten Stil bei dem man das Gefühl hat mitten im Kopf von Alexander Bengt zu sitzen. Womöglich sogar Alexander Bengt zu sein.

    Alexander Bengt ist dabei ein aufmerksamer, meist unvoreingenommener, empathischer Beobachter der, wie wir es von Liehr kennen, die Dinge sehr prägnant und häufig auch unkonventionell denkt - dabei gerne humorvoll durch starke Überspitzung. Altern ist tatsächlich ein Thema (die Dringlichkeit die das Verstreichen endlicher Zeit mit sich bringt, ist bei Liehr immer Thema), aber das eigentliche Thema ist die Interaktion zwischen Menschen, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander umgehen, die Dynamik des Lebens selbst. Das Ganze ist eingebunden in einer Handlung, die später im Roman sehr rasant wird und das Buch für mich zu einem Pageturner machte. Die eigentliche Action aber findet in den typischen überbordenden Sätzen mit ihren vielen Anspielungen und Betrachtungen statt.


    Dringende Empfehlung!

    Genau!

    (Edit: Auch bei zonaman eingestellt...)

    Unser Leben wird mit zunehmendem Alter immer stärker von unspektakulärer Routine bestimmt, die nicht in unsere Erinnerungen eindringt, weshalb die Lücken zwischen den guten Erinnerungen immer größere Zeiträume umfassen.

    Es kommt ein weiterer Effekt hinzu: Wir haben immer mehr bereits erlebt und dieses zum ersten Mal etwas machen und erleben und etwas dazulernen und zum ersten Mal schaffen, wird immer seltener. Das sind ja häufig die guten Erinnerungen.

    (Mal davon abgesehen, dass es sich auch umdreht: Zum ersten Mal etwas nicht mehr schaffen...)

    Edit: Ok, nicht hinzu, wie ich jetzt merke, es ist Teil des Mechanismus, den Du bereits beschrieben hast.

    Und noch einen:
    Das Gürsel stirbt, spielt eine erstaunlich geringe Rolle bei diesem HappyEnd. Das liegt natürlich auch daran, dass er in der Geschichte kaum auftaucht.

    Aber es ist auch ein Teil des Alterungsprozess:
    Wir verlieren Freunde aus den Augen, das macht nichts, es sind gute Freunde, man kann das jederzeit wieder auffrischen, man trifft sich und es ist wie in alten Zeiten. Bis man Freunde nicht nur aus den Augen verliert.

    In dem vorhergehenden Leseabschnitt und diesem stehen die vielen Katastrophen, die auf Alex hereinbrechen im Vordergrund. Einige davon sind selbst verschuldet, die schlimmste hingegen nicht.


    Ein wichtiges Thema in diesem und dem vorherigen Leseabschnitt scheint mir der Umgang mit Fehlern zu sein. Fehler haben diese unangenehme Eigenschaft, dass sie über die Zeit immer größer werden können und irgendwann sind sie so groß, dass sie nicht mehr eingefangen werden können. Es gibt vor allem 2 Fehler, die mit der Zeit größer geworden sind


    - Die abgekupferten Romane: Wir sind hier beim letzten Punkt, an dem Alex seinen Fehler noch eingestehen konnte.

    - Die Hetze gegen KK-Mann: Favel ist in der gleichen Situation wie Alex: Auch hier war es der letzte Punkt, an dem er seinen Fehler noch eingestehen konnte.


    Es geht aber auch um das Verzeihen von Fehlern. Monika Westhaus fällt es natürlich schwerer Alex zu verzeihen, als Alex seinem Sohn Favel bzgl KK-Mann. Was auch daran liegt, dass sich für Alex einiges wegen Tabeas Unfall stark relativiert.


    Alex prügelt sich kurz beim Einparken, es ist eine Situation, die typischerweise stark eskalieren kann. aber auch hier können sich beide verzeihen.


    Alex, kann auch sich selbst verzeihen, als er statt bei seinen Kindern oder bei Tabea im Krankenhaus zu sein, mit Big G und reichlich Herrengedecken die Nacht verbringt und sich am nächsten Tag auf die Suche nach alten, schlechten Erinnerungen macht. Und er kann diesen Fehler im Kontext der Situation auch richtig einordnen.


    Diese Fehler sind alle nichts gegen Tabeas Unfall, der aber nicht das Resultat eines Fehlers ist, sondern einer unglücklichen Ballung von Singularitäten. Wir wissen bereits aus dem Prolog was alles zusammenkam und das es ein Unfall ist, bei dem es ein Opfer gibt, aber keinen Schuldigen.


    Einen weiteren Fehler begeht Rafael, indem er nicht versucht das Erbe bei einem gemeinsamen Gespräch zu klären, sondern direkt die Anwaltskeule schwingt. Auch dieser Fehler wird verziehen.


    Wir bekommen auch die Auflösung bzgl. Tabeas angeblicher Misanthropie.
    Tom, da hast Du mich wirklich reingelegt. Ich habe an der Stelle als Tabea diesen Spruch bzgl. der Dummen bringt noch gedacht, was ist denn hier los: Die weiblichen Protagonisten sind bei Tom doch immer die weisen, klugen Menschen die ihre Männer an die Hand nehmen und ihnen zeigen, wie das so funktioniert mit dem Leben. Das kann hier nicht anders sein. Aber Alex hat an der Stelle die Introspektive, er scheint es zu glauben und später wird es immer wieder angedeutet, dieses Schauspieltalent von Tabea.

    Gerade die Stelle nochmal nachgelesen und tatsächlich

    'Du bist also genau genommen eine Misantropin", sagte ich und konnte das Lachen nicht unterdrücken. kann man auch so verstehen, dass Alex Tabea in dem Moment durchschaut hat. Ich habe mich jedenfalls gerne täuschen und hier aufklären lassen. Sehr gelungen...


    All das oben (und noch ein bisschen mehr) passiert in Relation zu Tabeas Unfall quasi nebenbei. All diese Geschehnisse spielen dabei kaum eine Rolle. Jedes dieser Ereignisse hätte ohne Tabeas Unfall ein großes Gewicht gehabt, jetzt passiert es alles gleichzeitig und ist trotzdem nahezu bedeutungslos. Gerade diese Phase in der Alex um Tabea Angst hat, fand ich sehr glaubhaft und packend geschrieben.


    Nach dem weitgehenden Happy-End (und wie viele andere hier, sehe ich das Aneurysma als ein Bewusstmachen der Kostbarkeit jedes Tages an. Tatsächlich ändert sich Tabeas Lebenserwartung dadurch ja nicht wirklich...) gibt es noch diese merkwürdige Currywurst-Szene. Eine Vegetarierein/Veganerin (vermute ich) bekommt einen unbezwingbaren Fressflash oder was ist das? Tom? Musstest Du mit dieser Szene eine verlorene Wette einlösen oder was?

    Das freut mich, dass Ihr das gelungen findet.

    Für mich hat dieser Wechsel große Bedeutung - was im Präteritum und dann auch noch von einer ich-erzählenden Person erzählt wird, ist reflektierend, verbindet das vergangene Ich mit dem gegenwärtigen, das die Vergangenheit hinter sich hat und, wichtig, die Erzählung bestimmt. Im Präsens ist die erzählende Person sozusagen unbefleckt, kennt ihre eigene, unmittelbare Zukunft noch nicht und muss mit dem Geschehen unvoreingenommen umgehen, während sie es gleichzeitig erlebt und davon erzählt.


    Edit: Im Präteritum sind der Ich-Erzähler und das Ich, von dem er erzählt, nahezu zwei verschiedene Personen, im Präsens ist es ein und dieselbe.

    Eine Stelle, die mir z.B. diesbezüglich positiv aufgefallen ist

    Zitat

    Es fühlt sich an, als wären der Hund und ich alleine auf der Welt, und für den Hauch eines Moments bemächtigt sich meiner ein anderes, ganz eigenartiges Gefühl: das Gefühl einer unerwarteten Freiheit. Es ist ein verklärter Augenblick, einer der die Vergangenheit falsch einschätzt und die Zukunft sowieso. Und der Moment, der mir vor mir selbst unangenehm ist, ist auch sehr schnell wieder vorbei. Dafür knockt mich der Gegengedanke fast aus, der eines zweiten, dieses Mal aber totalen, hoffnungslosen, endgültigen Verlusts.

    Der erste Gedanke ist eine Art Selbstschutz, eine irrationale Vorwegnahme des Verlusts, ein vorweggenommenes, behauptetes sich damit zurechtfinden, es ist ein Selbstschutz der tief aus dem Unterbewussten aufsteigt.
    Er wird ersetzt durch den bewussten Gedanken, verdammt, das passiert tatsächlich! Ein Gedanke, der durch das Erkennen des Selbstschutzmechanismus noch realer wird, quasi schon passiert ist.
    Und deswegen ausknockt!

    Es gibt in diesem Roman so viele gelungene Stellen, dass mir das Rosinen picken schwer fällt. Eine aus diesem Teil ist das Kapitel Zweihundertfünfzig bis zur Null, in dem es um Zeit geht, vor allem um die Endlichkeit der Zeit, aus subjektiver Sicht. Um den nicht greifbaren Kipppunkt an dem sich das Fortschreiten der Zeit von etwas positivem auf das man sich freut, in ein Zerrinnen des immer geringeren Rests dreht.

    Besonders gefällt mir dabei die Badezimmerszene...
    'Ich werde sterben'...

    'Das stimmt... Und willst Du im Bad sterben? Im Bett ist es viel gemütlicher.'

    Mehr kann man es doch nicht auf den Punkt bringen, oder?

    Hallo, Maarten.


    Tatsächlich ist die Kriki-Episode kurz vor dem Aufeinandertreffen mit Ayksen Brahoon ein Abschnitt, von dem ich mir beinahe gewünscht hätte, er wäre dem Lektorat zum Opfer gefallen. Er ist geblieben, weil es darin ja auch (wie an vielen Stellen) ums vorschnelle Urteilen geht, um ein Urteilen, das ins Weltbild passt, dem eigenen Weltbild dient, wofür nicht wenige über Leichen gehen, metaphorisch gesprochen. Die Rassismuskomponente darin kommt selbst mir beim Lesen ein gutes Jahr später ziemlich willkürlich vor, dramaturgisch gesehen. Inhaltlich ist das realistisch und zutreffend, dienen solche Vorgänge vor allem der Selbstüberhöhung, genau wie Du schreibst, aber trotzdem ist das ein bisschen verunglückt und macht einen Nebenschauplatz auf, wo es eigentlich schon genügend davon gibt.


    Deine Gedanken dazu fand ich trotzdem sehr spannend.

    Ich verstehe, warum Du es Dir beinahe gewünscht hättest. Mir geht es beim Lesen ja genau so.

    Ich habe mittlerweile geschaut, wo es in Präsens losgeht: Teil zwei - Kleinmachnow. Speckgürtel wird fast komplett in der Vergangenheit erzählt, weil die Entwicklung erzählt wird. Aber bis zu Gegenwart und dort im Präsens. Präsens kommt dabei fast nicht vor, aber immer mehr und es endet dann eben im Präsens. Und da geht's dann auch im nächsten Kapitel weiter. Es ist als würde von der Vergangenheit in die Gegenwart übergeblendet. Gefällt mir sehr. Und dieser Wechsel in das eher unübliche Präsens ermöglicht dann dieses Jonglieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit.