Tom schaltet irgendwann diverse Gänge höher, so dass ich das ganze Buch jetzt durch habe, wieder zurückblättern muss und nochmal die vielen Eindrücke einsammeln muss. Ist mir bei den 'Freitags' damals auch so passiert, meine ich...
Kleinmachnow...
Dieser Teil fing sehr unkonventionell an, viele Infos, die nicht direkt was mit der vordergründigen Geschichte zu tun haben, dabei sehr geschickt jongliert in Gegenwart (tatsächlich auch in Präsens, bin mir nicht sicher, wann Du, Tom, dahin gewechselt hast) und Rückblende. Die Zusammenstellung der Menschen in Kleinmachnow ist dabei arg bunt geworden, was mir erst mal unglaubwürdig vorkommt. Andererseits: Wenn ich über meine eigene Wohngegend nachdenke, die nichts unkonventionelles ist, fallen mir 2 Dinge auf:
Zum einen interessiert sich Alex wirklich für Menschen, nicht in einem 'Tratsch'-Sinn, sondern tatsächlich. Zum anderen, ja, es ist schon eine sehr bunte Gesellschaft, die man so um sich hat. Und ich vermute diese 'Diversität' sollte dargestellt werden, eine Diversität die sich nicht ergibt aus irgendwelchen Kategorien wie Hautfarbe, Religion, Ethnie usw., sondern einfach weil ohnehin jeder Mensch anders ist und es verdient individuell gesehen zu werden.
Und im Zusammenhang mit der Kriki-Szene: ...individuell gesehen zu werden, statt in irgendwelche Kategorien eingeteilt zu werden und daraus Vor- und Nachteile ableiten zu wollen, vor allem aber Vorteile für sich selbst, indem man sich als den besseren Mensch markiert und daraus eine Machtposition ableitet (Während Kriki in der Szene eben vor allem eine Lachnummer ist, ist Christoph Berninger die Steigerung, er kann nicht nur moralische, sondern sogar göttliche Macht für sich beanspruchen...).
Ich lese diese Szene im Zusammenhang mit der Kriki-Szene, nehme gedanklich Identitätspolitik mit ins Boot und fange an für mich selbst - mit meinem gesellschaftlichen Stammtischwissen und hoffentlich auch etwas gesundem Menschenverstand - das Ganze zu sortieren:
Ich/wir sind im Geist des Universalismus erzogen. Gleiche Rechte und Pflichten für alle, um's mal knapp zu sagen. Und wenn jeder sich daran hält, wird die Welt automatisch gut, es gibt dann z.B. keinen Rassismus mehr.
Jetzt ist schon wieder etwas Zeit vergangen und es ist die Frage aufgekommen, ob das wirklich so stimmt, ob das Prinzip des Universalismus tatsächlich ausreicht, um z.B. den Rassismus aus der Welt zu schaffen, warum stagniert die Entwicklung diesbezüglich dann? (Und ich frage mich, ob das nicht schon optimistisch ausgedrückt ist...)
Die aktuelle Antwort darauf scheint mir zu sein, dass es neben dem individuellen Rassismus, der, wenn wir uns alle an den Universalismus halten komplett verschwindet, etwas gibt, das unter dem Begriff struktureller Rassismus (im engl. auch systemic racism) läuft. Der strukturelle Rassismus ist ein widerspenstiges Ding, weil er sich nicht in individuellen Verfehlungen zeigt, es gibt keinen Täter, er entzieht sich den Rechten und Pflichten des Universalismus. Sichtbar wird er stattdessen in Statistiken, z.B. hier:
https://www.reuters.com/graphi…L-RACE/USA/nmopajawjva/#0
Struktureller Rassismus ist nie individueller Rassismus, das ist ja sein Wesen. Wenn z.B. jemand sein Kind lieber in eine Schule stecken möchte mit wenig Schülern mit Migrationshintergrund, dann ist das kein individueller Rassismus - es gibt keinen konkreten Täter, es gibt kein konkretes Opfer - es fördert aber strukturellen Rassismus.
Diese schwierige Herausforderung versucht Identitätspolitik zu adressieren, es ist eine Gratwanderung und an irgendeiner Stelle ist dabei was schiefgegangen, denn irgendwann wurde dieses strukturelle Problem, zu dem man strukturelle Lösungen finden muss, individualisiert. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Nimmt man obige Statistik, dann ist klar: Weiße Menschen sind gegenüber schwarzen Menschen in den USA in den angegebenen Bereichen privilegiert. Statistisch gehören damit alle weiße Menschen in dieser Hinsicht der privilegierten Klasse an, alle schwarzen Menschen nicht, vollkommen unabhängig von ihrer jeweiligen individuellen Situation. Natürlich stimmt der Umkehrschluss nicht, das ist das Wesen von Statistik und genau das ist ja auch das Wesen von strukturellem Rassismus, und damit auch von der Politik, die sie adressiert, der Identitätspolitik.
Irgendwann und irgendwie ist diese statistische Größe von irgendwem trotzdem individualisiert worden... Der falsche Umkehrschluss ist gezogen worden.
Ich vermute, es hängt mit folgendem zusammen:
Rassismus ist so verwurzelt in unserer Geschichte und Traditionen, dass es uns schwer fällt ihn zu erkennen. 'Sinterklaas und zwarte piet' scheint mir dafür ein gutes Beispiel.
Für Menschen, die nicht mit dieser Tradition aufgewachsen sind, ist klar zu erkennen, dass es keine gute Idee ist, einen weißen Mann mit Bart auf einen Schimmel zu setzen und Geschenke an liebe Kinder verteilen zu lassen und diesen mit einem Haufen schwarz geschminkter Menschen mit Afroperücke, großen goldenen Ohrringen und rot geschminkten Lippen zu umgeben, deren Aufgabe es ist, böse Kinder zu bestrafen.
Tatsächlich ist es ein langer gesellschaftlicher Umdenkungsprozess daran etwas zu ändern.
Vor - keine Ahnung 10-15 Jahren - hätte ich als Niederländer, der in dieser Tradition aufgewachsen ist, gesagt: 'Leute, das ist eine vollkommen harmlose Tradition an der alle Spaß haben, niemand - wirklich niemand - hat dabei irgendeinen Hintergedanken...' und hätte über 90% der niederländischen Bevölkerung inkl. Premierminister Rutte hinter mir gewusst. Heute begrüße ich es sehr, dass eine Abkehr vom zwarten Piet stattfindet, die rassistische Verkleidung durch eine neutrale ersetzt wird.
Es gibt ihn, diesen blinden Fleck und das scheint mir das Körnchen Wahrheit zu sein, was dazu geführt hat, dass dieser falsche Umkehrschluss gezogen wird. Dieser blinde Fleck ist etwas, was Zeit und Überzeugung braucht und eben auch jemanden der ihn sieht. Der eben nicht derjenige sein kann, der ihn hat.
Nun ist Rassismus nicht das Thema dieses Romans, auch Identitätspolitik ist nicht das Thema dieses Romans. Kriki leitet aus einer sich selbst verliehenen moralischen Überlegenheit eine persönliche Überlegenheit ab. Sie kombiniert diese moralische Überlegenheit mit einer ebenfalls sich selbst verliehenen Überlegenheit, indem sie sich der sozial unterprivilegierten Seite zuordnet und dabei diesen Umkehrschlussfehler macht und aus dieser statistischen Unterprivilegiertheit heraus Ansprüche stellt. Sie ist eine Lachnummer. Eine individuelle Lachnummer.
Wir sehen unterschiedlichste Fälle in diesem Roman, in dem Menschen für sich beanspruchen die Moral auf ihrer Seite zu haben und daraus etwas herleiten, oder auch Menschen, die feststellen, moralisch falsch gelegen zu haben und ihren Fehler korrigieren müssen (oder auch nicht). Oder auch das etwas schief geht, ohne dass jemand eine moralische Schuld hat und wie damit umgegangen wird.
Dennoch brauchte ich diesen Exkurs zum Thema strukturellem Rassismus um das alles für mich ein bisschen zu sortieren...