Beiträge von Maarten

    Die Christoph Berninger-Episode erinnert mich sehr an eine Artikelserie unserer Lokalzeitung für die die Redakteure aktuell für den Stern-Preis nominiert wurden:
    https://www.aachener-zeitung.d…s-nominiert/11848578.html

    Vorausgegangen war 2020 ein vom Bistum beauftragtes Gutachten:
    https://www.bistum-aachen.de/e…tachten_Bistum_Aachen.pdf

    Hier 2 Zitate aus dem Gutachten

    Zitat

    Noch schwerer als die unterbliebenen Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft wiegt, dass die kirchlichen Verantwortungsträger im Hinblick auf die nach Maßgabe der eigenen (rechtlichen) Vorgaben gebotenen Maßnahmen bis in die jüngere Vergangenheit hinein regelmäßig untätig geblieben sind und Missbrauchstäter insoweit keine Sanktionen oder auch nur spürbare Konsequenzen fürchten mussten. Zwar sind im Bistum einige (Verdachts-)Fälle durchaus kirchenrechtlich behandelt worden. Allerdings wurden bei weitem nicht alle Sachverhalte dem Kirchen(straf)recht zugeführt, vielmehr waren es in der Gesamtbetrachtung ausschließlich gravierende und/oder öffentlichkeitswirksame Fälle. In zahlreichen Fällen sind den Akten hingegen noch nicht einmal theoretische Überlegungen betreffend die Sanktionierung des Täters, geschweige denn zur Einleitung eines kirchen(straf)rechtlichen Verfahrens zu entnehmen.

    ...

    Festzuhalten bleibt damit, dass der innerkirchliche Umgang mit des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Klerikern bis zur Mitte der 2010er Jahre hinein von unangemessener Milde geprägt war. In zahlreichen Fällen ist es den Verdächtigen gelungen, sich selbst als Opfer vermeintlich unberechtigter Vorwürfe zu präsentieren und die eigene Lage und Situation als überaus bemitleidenswert darzustellen. Von der Bistumsleitung erfuhren sie daraufhin Verständnis und Fürsorge in einem Ausmaß, das in Anbetracht des Umstandes, dass die Ursachen für deren Lage in ihrem eigenen Handeln zu sehen ist, nicht nachvollziehbar ist und den Eindruck erweckt, dass der Unrechtsgehalt derartiger Taten nicht wahrgenommen wird. Es wäre allerdings falsch zu glauben, die Bistumsleitung sei zu einem harten Durchgreifen generell nicht in der Lage gewesen. Die beiden sich unter den von den Gutachtern gesichteten Akten befindlichen Sachverhalte betreffend

    anderweitige Verstöße gegen das 6. Gebot zeigen, dass es durchaus auch zölibatsrelevante Verfehlungen gegeben hat, die von den Verantwortlichen mit größter Entschiedenheit und insbesondere auch mit der grundsätzlichen Bereitschaft, den Schuldigen aus dem Priesterstand zu entlassen, geahndet wurden.


    Die Namen der Täter wurden auch nach dem Gutachten weiterhin nicht veröffentlicht. In meiner Erinnerung hatte sich das Bistum bis zum Erscheinen oben genannter Artikel-Serie auf den Standpunkt gestellt, es könne die Namen der Täter nicht veröffentlichen, da es nicht die Kapazitäten hätte die Opfer bei den wieder aufbrechenden Traumata begleiten zu können. (Wir sprechen hier von einem Bistum mit - wie war das noch 'Fensterkreuz mal Pi'? - einem jährlichen Umsatz von etwa 300 Millionen Euro, davon etwa 10% Gewinn und einem Vermögen von etwa 1 Milliarde, davon etwa 1/3 reserviert für Altersvorsorge...)

    Oben genannte Redakteure recherchierten dann die Täter und begannen mit der Veröffentlichung der Taten bereits verstorbener Täter. Taten die - man kann es eigentlich nicht glauben, auch angesichts der nüchternen Zitate in obigem Gutachten - sich durchaus noch drastischer lasen, als der hier geschilderte. Mir ist nie vorher schlecht geworden beim Lesen der Tageszeitung...


    Die Artikelserie hat dazu geführt, dass das Bistum seine Haltung aufgegeben hat und selbst eine Liste mit Tätern veröffentlich hat.

    Meine Meinung von dummen Menschen ist eh nicht die beste. Warum soll ich mir den letzten Rest an Respekt mutwillig zerstören?

    Nach meiner Alltagsbeobachtung kann ich keine Korrelation zwischen Intelligenz und sozialem Verhalten feststellen. Und das Intelligenz nicht vor Dummheit schützt, begegnet mir ebenfalls sehr häufig.

    (Mal davon abgesehen, dass mit Intelligenz meist nur logisches Denken und/oder Bildung verbunden wird, was mir eine recht eindimensionale Vorstellung von Intelligenz zu sein scheint... Und mit Dummheit häufig Menschen, die anderer Meinung sind...)

    Wir erfahren in diesem Leseabschnitt vor allem mehr über Alexander.
    Alexander ist nach klassischer 'Status'-Beurteilung ein ziemlicher Looser, der sich von Job zu Job hangelt, gleichzeitig aber wenigstens versucht die Richtung beizubehalten und sich dabei auch nicht verarschen lässt, schon ein gewisses Rückgrat zeigt.


    Alexander ist groß, aber es ist eine unscheinbare Größe. Genauso wie seine körperliche Größe nur sehr nebensächlich im ersten Teil impliziert wurde, wird auch seine menschliche Größe nicht erwähnt. Zumal er sie an sich selbst auch nicht wahrnimmt und die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt wird. Er sieht sich selbst wohl eher symbolisiert in dem schlechten Nachbau der Fender-Bassgitarre, die ohne Nutzen an einer Wand hängt. Seine Lektoren-Laufbahn ist gescheitert, stattdessen schreibt er ausgerechnet Fake-Rezensionen.

    Tatsächlich besitzt Alexander aber sehr viel menschliche Größe, ist liebenswürdig, aufmerksam, empathisch, gutmütig und durchaus neugierig auf andere Menschen.

    Er ist in gewisser Weise das Gegenteil von Tabea. Während sie damals in der Klasse kurzzeitig alle oberflächlich zusammenbrachte, ein Zauber der nur kurz wirkt, da er aus der falschen Motivation passiert, verbindet Alexander Menschen mit einem langsamer wirkenden, aber tiefergreifenden, viel stärkeren Zauber.

    Geht es hingegen nach den typischen Kriterien ist er bestenfalls ein sehr durchschnittlicher Mensch, mit seinen Fake-Rezensionen und seiner gescheiterten Lektorenlaufbahn. Diese Selbsteinschätzung wird aber enorm verbessert durch Tabea, Kinder, Haus, Hund.

    Und dem Prolog nach zu urteilen, fährt was das angeht, gerade wieder ein TGV ungebremst in einen Kopfbahnhof...

    Philosophen, Germanisten, Publizisten, Altphilologen, Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker, Psychologen, oft auch TWLAKs und viele andere Geisteswissenschaftler und -innen. Gerne auch Mathematiker. Das waren alles Studiengänge mit zweifelhaften Jobchancen.

    Was nicht zuletzt daran lag, dass es in der Generation einfach mehr Arbeitskräfte als benötigt gab.
    Für Mathematiker wendete sich allerdings das Blatt mit dem Aufkommen des Internets und für viele andere auch. Um die Jahrtausendwende wurde doch quasi alles als Programmierer angestellt, was Lesen und Schreiben konnte. Ok, die meisten waren nach dem Platzen der Blase 2 Jahre später ihren Job dann allerdings auch wieder los... (Nicht die Mathematiker, die waren da gut untergebracht...)

    Aber ja, ein paar Jahre davor sah es noch anders aus. Die erste Stellenanzeige auf die ich mich beworben hatte, war Anfang der 90er eine Kleinanzeige zwischen einer für eine Putzkraft und einer für einen Hausmeister.
    Irgendwas in der Art:
    C/C++-Programmierer, X11/Motif für Verkehrsrechneranlagen auf freiberuflicher Basis gesucht Tel.

    Etwa so. Mehr war's nicht.

    Bist Du nun Metal-Fan? Oder hast Du Dir selber solche Logos tätowiert?

    Nein, es hat nichts mit dem vordergründigen Inhalt zu tun, sondern eher mit dem was Tom in einem anderen Beitrag geschrieben hat

    Zitat

    Und eine Geschichte besteht ja nicht nur aus ihren Themen und Figuren und Kulissen, sondern vor allem aus der Art, wie sie erzählt wird.

    Nehmen wir nochmal den Satz

    Zitat

    Am Anfang stünde ein schnittiges Logo, das sich Schüler - vor allem Schülerinnen - meines Alters dann mit Kulis auf die Unterarme oder ihre Federmappen tätowieren würden, wie ich das eine Zeit lang mit den coolen Logos einiger Metal-Bands gemacht hatte, obwohl ich Metal eigentlich scheiße fand und von den meisten Bands kein einziges Stück kannte (außer "United" von Judas Priest, die hatten auch den besten Schriftzug, wie ich fand)

    Bei vielen Autoren sind die Sätze einfach nur eine Aneinanderreihung von Geschehnissen, eine Reihung von Worten um etwas zu beschreiben. Und gerade unter denen, die einen Prolog aus einer anonymen Perspektive erzählen, gibt's davon reichlich.

    Hier hingegen:
    "Am Anfang stünde ein schnittiges Logo" bezieht sich für Alex zwar in diesem Moment tatsächlich auf ein Logo, aber in der Szene doch vielmehr auf Tabea. Tom wechselt nicht umsonst von 'schnittigem Logo' (Tabea) zu 'coolem Logo'.

    "...das sich Schüler - vor allem Schülerinnen -" ist:
    - ein Zeitdokument (es wurde nicht gegendert)
    - ein Seitenhieb (gegendert wäre es z.B. '...das sich Schüler*innen - vor allem Schülerinnen' was einfach sch*** ist)
    - ein Sprung in die Gegenwart (Alex würde auch heute genauso denken: '...das sich Schüler - vor allem Schülerinnen -) Was wiederum ein Seitenhieb ist
    - die eigentliche Motivation von Alex eine Band zu gründen, es geht nicht um Musik und auch nicht um's Logo

    "meines Alters dann mit Kulis auf die Unterarme oder ihre Federmappen tätowieren würden"
    Hier gefällt mir vor allem die Wahl des Verbs tätowieren. Es trifft hervorragend die Ernsthaftigkeit mit der Alex das hier macht, die Kulis hingegen die Oberflächlichkeit, die Kombi Unterarme/tätowieren die Dauerhaftigkeit und Sichtbarkeit, die Federmappen hingegen wieder die Austauschbarkeit.


    Das explizite Erwähnen von "Judas Priest" lässt mir genau diese Schrift vor dem inneren Auge erscheinen. Und die Sorte Jungs, die ein solches Federmäppchen hatten. Und dieses 'United' - irgendeiner Gruppe anzugehören - ist ein ganz wesentliches Motiv bei dem sich selbst markieren mit solchen Logos eine große Rolle spielt. Geht es nicht genau darum, bei Logos, Marken, Äußerlichkeit?

    Passt es nicht wunderbar dazu, dass Alex über das Erstellen dieses Logos Tabeas Vorstellung erst mal verpasst? Und er genau durch dieses 'Desinteresse' Tabeas Aufmerksamkeit bekommt, wie wir später erfahren?

    Nebenbei: Beim Lesen denke ich nicht all das, was ich da oben geschrieben habe. Das ist irgendwas unbewusstes in mir, das da mitliest und solche Stellen besonders mag...

    Weil sie keinen gesucht hat, genau wie Alex umgekehrt?

    Beide haben auch nicht gesucht an dem Tag, als Tabea sich in der Klasse vorgestellt hat.

    Aber für mich ist die Stelle vollkommen glaubwürdig. Tabea wird in den 10 Jahren mit anderen Männern Beziehungen gehabt haben. Die aber alle im Vergleich zu der Beziehung mit Alex nicht mithalten konnten. Die Beziehung mit Alex wiederum wird mit der Zeit in der Erinnerung immer besser geworden sein.

    Was genau passiert liegt im Off. Zumindest bisher. Ist für mich vollkommen ok. Es passiert tagtäglich wirklich weitaus verrückteres und unglaubwürdigeres in unserer Welt, als das Tabea nach 10 Jahren zu Alex zurückkehrt.

    Ich lese keine Bücher mit
    - melancholischen Titeln

    - melancholischen Covern

    - Sinn-Sprüchen vor dem Anfang (oder auch sonstwo)

    - Prolog

    - und schon gar nicht mit Prolog aus der Perspektive einer anonymen Person

    Also wenn man die Qualität eines Buches daran misst, wie viele Vorurteile man beim Lesen in Frage stellen muss, ist dieses bereits auf den ersten Seiten ganz weit vorne... ;)

    Nach dem Prolog habe ich dann erst mal 'Running on empty' gehört...
    Und dann im Verlauf der Einführungsphase 'The pretender'.


    Zitat


    Am Anfang stünde ein schnittiges Logo, das sich Schüler - vor allem Schülerinnen - meines Alters dann mit Kulis auf die Unterarme oder ihre Federmappen tätowieren würden, wie ich das eine Zeit lang mit den coolen Logos einiger Metal-Bands gemacht hatte, obwohl ich Metal eigentlich scheiße fand und von den meisten Bands kein einziges Stück kannte (außer "United" von Judas Priest, die hatten auch den besten Schriftzug, wie ich fand)

    Ok, spätestens hier waren alle oben genannten Vorurteile passé... :)

    In den 70er und 80er Jahren, als Saxophon auch in Pop/Rock usw. eine wichtige Rolle spielte, war er in meiner Wahrnehmung der einflussreichste Saxophonist überhaupt. Omnipräsent und mit seinem ganz eigenen Sound und seiner Phrasierung sofort erkennbar. Viele haben versucht ihn zu imitieren, er blieb aber dennoch unverwechselbar.

    Hier mit Billy Joel - New York State Of Mind

    Ebenfalls aus dem Artikel:

    Auch Roald Dahl, der Kinderbuchautor, dessen Familie sich kürzlich für seinen Antisemitismus entschuldigte, ließ kürzlich Versionen seiner Bücher überarbeiten, um potenziell anstößige Formulierungen zu entfernen.

    Das wirkt so - zusätzlich verstärkt durch die Nennung im Kontext von Agatha Christie - als hätte es in Roald Dahls Bücher antisemitische Äußerungen gegeben. Tatsächlich hat Roald Dahl sich in Interviews antisemitisch geäußert, nicht aber in seinen Büchern.


    (Mal ganz davon abgesehen, dass Dahl 1990 gestorben ist und wohl kaum 'kürzlich Versionen seiner Bücher überarbeiten ließ')

    Im Guardian-Link sind leider doch nicht alle Tweets enthalten. Hier eine andere Quelle mit allen Tweets von 'The right sort', der 'Kurzgeschichte' die dann später umgearbeitet zum 1. Kapitel von Slade House wurde:
    https://themillions.com/2014/0…right-sort-collected.html

    Ich habe gerade die Tweets mit der Ausarbeitung in 'Slade House' verglichen, es ist spannend zu sehen, was sich da geändert hat. 'The right sort' bildet eine Art Skelett für die spätere Ausarbeitung, die viel stärker ausgeschmückt ist.

    2023 war für mich sowas wie ein David Mitchell-Jahr. Nachdem ich vor einigen Jahren von ihm “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” gelesen habe, habe ich 2023 zunächst “Die Knochenuhren” gelesen (brillant), anschließend “Der Wolkenatlas” und dann eben “Slade House”.

    David Mitchells Werk hat einen starken inneren Zusammenhang. Seine Romane spielen in einer phantastischen Welt, in der er etwas erzählt, was er selbst ‘a sort of sprawling macronovel’ nennt. Diese phantastische Welt tritt zuweilen deutlich in den Vordergrund (Slade House, Knochenuhren), manchmal ist sie aber auch so stark im Hintergrund, dass sich ihr Vorhandensein erst erschließt, wenn man weitere Bücher von ihm kennt (z.B. in “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet”).

    Er lässt sich keinem Genre zuordnen, in gewisser Weise müsste man jedes seiner Bücher unter Phantastik einordnen, auch die Romane, bei denen das nicht der Fall zu sein scheint, wie 'Die tausend Herbste des Jacob de Zoet' oder sicherlich auch 'Utopia Avenue'. Andere, bei denen der phantastische Anteil größer ist, z.B. Knochenuhren, spielen dennoch überwiegend und überzeugend in unserer realen Welt. Er lässt sich auch deswegen keinem Genre zuordnen, weil er gerne auch innerhalb eines Buches zwischen verschiedenen Genres wechselt, indem er eine übergreifende Geschichte in verschiedenen Genres aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Besonders gelungen ist das aus meiner Sicht in Knochenuhren, dem Roman in dem Holly Sykes den Fixpunkt des Romans bildet. Knochenuhren wird erzählt in folgenden 6 Teilen/Genres chronologisch im Kontext von Holly Sykes (also wiederum anders als in Wolkenatlas wo Zeit/Raum/Perspektive symmetrisch um den Mittelpunkt des Romans gespiegelt wurde):

    • Coming of age aus der Perspektive von Holly Sykes in ihrer Jugend
    • Elitärer Campusroman aus der Perspektive des intelligenten und bösartigen Hugo Lamb, der sich in Holly verliebt
    • Kriegsreportage aus der Perspektive des Ehemanns von Holly (Irak-Krieg)
    • Literaturroman aus der Perspektive des Schriftstellers Crispin Hershey, der mit Holly befreundet ist (in dem es viel um den Literaturbetrieb geht)
    • Fantasy
    • Dystopische Science-Fiction

    In den ersten 4 Teilen bricht dabei immer auch mal die phantastische Welt kurz ein, wird aber immer wieder von den Protagonisten verdrängt.

    Mitchells Stärke scheint mir bei Knochenuhren vor allem in den literarischen Formaten Campusroman und Literaturroman zu liegen, wenn die Perspektive eine höchst intelligente Stimme erfordert. Z.B. die Art, wie Mitchell Crispin Hersheys Kindheit auf gerade mal 1,5 Seiten skizziert, hat mich völlig umgehauen in ihrer brillanten Kunstfertigkeit. Mitchell kann aus meiner Perspektive literarisch eigentlich alles was er will, er scheint grenzenlose Möglichkeiten zu haben. Dennoch ist es eine Art Hass-Liebe die ich zu seinen Büchern empfinde, es ist mir manchmal einfach zu viel Kunst, es ist wie ein Musiker, der in seiner ganzen Virtuosität den Raum vergisst, um das Ganze auch mal wirken zu lassen. Vermutlich kann ich ihm zu oft einfach nicht mehr folgen…

    Aus meiner Sicht schwächelt Mitchell dabei leider ausgerechnet in den Genre-Teilen Fantasy und Science-Fiction. Dabei ist Fantasy die eigentliche Wurzel seines kreativen Schaffens, so nennt er Ursula K. Le Guins ‘Magier von Erdsee' als wesentlich für seine Motivation Schriftsteller zu werden und liest nach eigenen Angaben regelmäßig diesen Roman erneut (https://www.theguardian.com/bo…-tolkien-george-rr-martin). Deswegen gehörte zu meinem ‘Mitchell-Jahr’ auch ‘Der Magier von Erdsee’, den ich selbst zwar als kunstvoll, aber doch recht altbacken erlebt habe.


    Und damit komme ich endlich zum Slade House - wenn man erst mehrere Mitchells gelesen hat, macht es eigentlich keinen Sinn mehr, die Bücher unabhängig voneinander zu betrachten und Knochenuhren scheint mir - von denen die ich gelesen habe - das Buch zu sein, das am meisten Licht auf diese Macronovel wirft, die Mitchell erzählt. Knochenuhren und manche Zitate aus anderen Büchern, z.B. aus Number9Dream: “Dreams are shores where the ocean of spirits meets the land of matter. Dreams are beaches where the yet-to-be, the-once-were, the-will-never walk awhile with the still are.”

    Knochenuhren ist allerdings noch enger mit Slade House verknüpft, denn Slade House ist entstanden aus Ideen, die in Knochenuhren nicht verwendet worden sind. Diese Ideen hat Mitchell in einem Twitter-Projekt in einer Folge von 280 tweets noch vor der Veröffentlichung von Knochenuhren erzählt. Ein Tweet hat dabei maximal die Länge von 140 Zeichen. Um einschätzen zu können, wie viel da rein passt, hier ein Tweet von David Mitchell 2016: Afternoon, all. SLADE HOUSE is out today in paperback. Escape from Brexit fallout thru the small black iron door. What cld go wrong?
    Dieses Twitter-Projekt wiederum wurde umgearbeitet zum ersten Teil von Slade House.


    Diese Fragmentierung in Tweets passt wunderbar zu David Mitchells fraktaler Erzählweise. Eigentlich ist es eine natürliche Sache, diese Zusammenstellung von Wörtern zu Sätzen zu Absätzen, zu Geschichten. Natürlich ist es ein Unterschied, ob Schriftsteller dabei tatsächlich aus Buchstaben und Wörtern immer wieder etwas Neues erschaffen oder ob sie aus den Klischees des Mainstream schöpfen. David Mitchell stellt fraktales Erzählen in den Mittelpunkt seiner Romane. Im Kleinen - wie in diesem Fall besonders augenfällig bei den Tweets der Vorabversion von Slade House - wie im Großen. Wer ein einzelnes Buch von ihm liest, wird es tatsächlich ganz anders lesen, eine ganz andere Sicht auf die Personen haben, als andere, die bereits ein anderes Buch von ihm gelesen haben. Es setzt sich alles immer wieder zu einem neuen Bild zusammen.


    Slade House ist eigentlich ein klassischer Spukhausroman. Ich ordne ihn dennoch hier mal unter 'Zeitgenössisch' ein, weil er mit den anderen Romanen von Mitchell, den zumeist als zeitgenössisch empfundenen, eng verbunden ist. Aber zum einen eben eingebettet in diese Mitchellsche Macronovel - mit besonderer Nähe zu Knochenuhren - und zum anderen folgt er auch dieser für Mitchell typischen Fragmentierung in Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven mit einem gemeinsamen Fixpunkt. In diesem Fall eben eine kleine schwarze Tür zu diesem Spukhaus, die nur alle 9 Jahre ganz kurz auftaucht. Ein winziger Punkt in Zeit und Raum, ein einzelner Tropfen in einem grenzenlosen Ozean…

    Erzählt werden 5 Episoden in denen unterschiedliche Menschen diesem Eingang begegnen. Wie aus anderen Romanen gewohnt, prägen hierbei die einzelnen Personen stark die von Mitchell verwendete Erzählweise. Es beginnt mit Nathan Bishop, einem Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung und seiner Mutter.


    Hier wie die Geschichte tatsächlich auf Twitter veröffentlich wurde, alle 280 Tweets:

    https://www.theguardian.com/bo…hells-twitter-short-storyUnd hier David Mitchell zur Entstehung von Slade House:

    https://www.theguardian.com/bo…rimal-slade-house-twitter

    Tom Von Percival Everett habe ich hier 'Die Bäume' liegen. Gekauft wegen einer vielversprechenden Besprechung, liegen gelassen, weil ich ich den Verdacht habe, dass die Übersetzung das Buch verhunzt. Auf dem Klappentext ist von 'Detektiven' die Rede, tatsächlich sind es 'detectives from the Mississippi Bureau of Investigation', also meinetwegen Ermittler des MBI. Ich glaube, ich greife da lieber zum Original...

    Auch sein neuer Roman - James - klingt spannend. Es wird die Huckleberry Finn-Geschichte aus Sicht von Jim erzählt.

    Percival Everett talks about race and identity in the United States: