Ich bin jetzt auch durch die ersten 10 Kapitel durch und es hat mir sehr gefallen.
Ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:
Die Sequenz der Erzählung fand ich bisher sehr gelungen. Der Prolog greift ja erst mal weit vor und lässt auch schon einiges für die Zeit nach der Denunziation erahnen.
Wie die Sequenz in den Kapiteln danach dann erst mal ist, kann ich im Nachhinein nicht wirklich sagen, sie war jedenfalls nicht chronologisch, sondern zumindest durchsetzt mit Rückblenden. Ich müsste es nochmal nachlesen, um es für mich zu ordnen, aber jedenfalls: Für mich war das sehr gelungen. Es wirkte auf mich erst mal, als ginge es vor und zurück, wie es ja auch bei Lieselotte vor und zurück geht in ihrer Erkenntnis, wie sie jetzt zu Berta steht. Eine verschlungene Erzählung, die mich aber nie verwirrt hat, sondern sehr gut Personen und Situationen (trotz auktorialer Erzählstimme fast immer aus Lieselottes Sicht meine ich) nahegebracht hat.
Der Höhepunkt in diesen ersten 10 Kapiteln war für mich der Kuss vor der Windmühlendiele. Wunderbar beschrieben diese Szene, die mich als Leser genauso verwirrte, wie sie Lieselotte verwirrte. War sie real oder nur ein Wunschtraum? Ist sie wirklich geküsst worden? Nun, der Kuss war wohl echt, aber von Berta wird er wohl vollkommen anders intendiert gewesen sein, als von Lieselotte erhofft. Eher eine Art Erweckungskuss, in dem eine gewisse Verbundenheit und Ermutigung liegt, aber auf eine ganz andere Art als von Lieselotte interpretiert.
Mir scheint Berta erkennt in Lieselotte sehr viel von sich selbst. Diese Härte der Haltung. Die beiden sind sich in vielem ähnlich und sie werden sich womöglich nie mehr so nahe sein, wie in diesem kurzen Moment. In dem wir nicht ganz wissen, was Berta wirklich zu Lotte gesagt hat. In dem Lotte auch nicht wirklich weiß, was Berta zu ihr gesagt hat.
Diese kurze Szene der Annäherung, die aber dazu führt, dass Lieselotte anders abbiegt, einen anderen Weg geht, als Berta ihn in ihrem eigenen Leben gegangen ist.
Berta, die auf eine ganz andere Art den äußeren Anschein wahrt, als Lieselotte das tut. Berta schafft sich mit ihrer harschen Art, ihrer Haltung eine Umgebung, in der sie ihren Willen durchsetzen kann. Sie selbst ist Frau, die anderen bleiben Fräuleins. Sie macht das über Diziplin und Führung der anderen und sehr viel über Körperlichkeit, zum Teil auch auf eine Art, die ich als verbissen empfinde. Es scheint mir auch eine Rolle zu sein, in der sie in gewissem Sinne gefangen ist, die ihr aber die Möglichkeit gibt, auf eine andere Art mit sich selbst im Reinen zu sein. Sie definiert die Gesetze, die in ihrer Umgebung gelten. Das zwingt sie allerdings in die Rolle, diese auch durchzusetzen.
Und sie glaubt die Veranlagung für diesen Weg auch in Lieselotte zu sehen.
Lieselotte ist fasziniert von Berta, ihren Augen und ihrer Möglichkeit die Welt für sich passend zu gestalten. Sie selbst gestaltet ihre Welt aber nicht, ordnet sich ihr vielmehr unter. Die eiserne Disziplin, die Berta in ihr sieht, richtet sie gegen sich selbst. Sie diszipliniert sich in die Welt, wie sie von außen vorgegeben wird, hinein, akzeptiert die Anforderungen, die an ihr gestellt werden. Deswegen benötigt sie Berta. Sie sieht sich nicht in der Lage, ihre Umgebung selbst zu gestalten, braucht in Berta eine Partnerin, die das für sie passend macht.
Der Kuss scheint mir eine Wende zu sein. Aus Sicht von Berta ein Kuss der Erweckung, ein Stups in die richtige Richtung. Der Lieselotte aber komplett aus der Bahn wirft.
Neben Berta und Lieselotte gibt es noch viele andere spannende Personen. Irma Dorn hat offensichtlich für sich eine ganz andere Lösung gefunden als Berta und Lieselotte. Fräulein Bragge ebenfalls (Dorothea? Den Vornamen habe ich gerade nicht präsent).
Die Eltern von Lieselotte geben sie quasi als Tochter weg, obwohl sie ihr einziges verbliebenes Kind ist (3 verstorbene Brüder). Lieselotte gilt als arm und bürgerlich, dabei wächst sie bei Onkel und Tante auf, die selbst keine eigenen Kinder haben und gutsituiert sind.
Else Marie finde ich ebenfalls eine sehr interessante Person.
Das Buch spielt in diesen ersten Kapiteln in den 20ern und schafft es sowohl diese Zeit (von der ich nur wenig weiß und die fast 100 Jahre her ist) in meiner Vorstellung aufleben zu lassen als auch gleichzeitig sehr aktuell zu wirken. Sprachlich wie thematisch.
Ich freue mich schon auf den nächsten Teil...