Beiträge von Maarten

    In diesem Teil fand ich vor allem interessant zu beobachten, wie die einzelnen Personen sich gegen die Übernahme der Gesellschaft durch die Nazis wehren (oder eben nicht). Die Weltwirschaftskrise beginnt im Oktober 29 und bereitet den Boden für eine Radikalisierung.

    - Der Künstler Roger geht bereits im Herbst 31 ins Exil nach Frankreich. Und nimmt damit Berta auch einen gewissen Schutz.
    - Berta und Dorothea stecken bzgl. der Politik ihren Kopf in den Sand. Schule und Konfrontation mit Lotte innerhalb der GEDOK scheinen wichtiger zu sein.
    - Bernhard ist als Jude nicht in der Lage sich zu wehren und ist damit auch kein Schutz mehr vor Dorothea. Dass Dorothea umgekehrt ein Schutz für Bernhard sein könnte, die Idee kommt ganz kurz auf, ihr wird aber nicht weiter nachgegangen (Warum nicht?!!!)
    - Lotte steckt wie Berta und Dorothea ebenfalls bzgl. der Politik ihren Kopf in den Sand. Schule und Konfrontation mit Berta scheinen auch für sie wichtiger zu sein. Auch als Else davon erzählt, dass Artjom wegen der Lage bei ihrem Vater wohnt, kommt sie nicht auf die Idee zu helfen. Es sind Juden die Juden helfen.
    - Lottes Mutter scheint mit drin zu stecken im braunen Dreck.
    - Erwin ist bei der KPD. Diese bekämpft zu diesem Zeitpunkt die SPD unter dem Begriff Sozialfaschismus (was im Buch für mich so nicht deutlich wurde, vielleicht ist es mir auch entgangen, aber ich google auch ein bisschen nebenher...) und verhindert so ein Bündnis dieser Kräfte gegen die NSDAP (in gewisser Weise ähnlich wie Berta und Lotte, die nicht an einem Strang ziehen können). Vor der Reichstagswahl 32 gab es einen dringenden, von Künstlern und Wissenschaftlern (z.B. Albert Einstein) unterschriebenen Appell des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes der dazu aufrief, dass SPD und KPD für diese Wahl sich gemeinsam gegen den Faschismus aufstellen: Dringender Appell (Es sind nur wenig Unterschriften). Der blieb allerdings folgenlos. Die republikfeindliche KPD lehnte die parlamentarische Demokratie ab. Die NSDAP profitierte von der Radikalisierung aber deutlich mehr als die KPD.

    Mein Herz in diesem Buch schlägt weiterhin für Else. Die mir ja schon immer sympathisch ist.
    Wenn Lotte über Redefett redet, ist das aus meiner Sicht immer eine Aussage über Lotte, nicht über Else.
    Else ist weltoffen, tolerant und vor allem sehr mit sich selbst im Reinen. Mit Menschen wie Else würde es viele der Probleme in diesem Buch nicht geben.
    Und Else stemmt sich mit ihrem Theaterprojekt wenigstens ein bisschen gegen die NSDAP.

    Allerdings ist das jetzige Verhältnis zwischen ihr und Erwin schwierig. Es belastet sie (und entlastet Lotte). Mal sehen, wie sich das entwickelt.

    Und es gibt natürlich noch die geheimnisvolle Irma Dorn.

    Was mir beim Lesen und beim Googlen der geschichtlichen Hintergründe bewusst wird, wie schnell es dann letztendlich doch gekippt ist. Gut, die Weltwirtschaftskrise kochte schon 2 Jahre vor sich hin, als die NSDAP Juli 32 die stärkste Partei wurde. Bei der Wahl November 32 verlor die NSDAP wieder etwas an Boden und die politische Linke - SPD und KPD - waren stärker als die NSDAP, wegen ihrer großen DIfferenzen (u.a. der Sozialfaschismus-Vorwurf) hatte das aber keine Bedeutung. Am 30. Januar 33 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt und die Verfolgung politisch Andersdenkender setzte ein.

    Ich bin gespannt, wo die Brosche abgeblieben ist...

    Ich hatte die GEDOCK so verstanden, dass hier weibliche Unternehmerinnen gefördert werden sollen. Nicht weibliche Kunst.

    Die GEDOK ist historisch. Es ist ein Akronym für Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen.

    Heute könnte man denken, das I wäre versehentlich klein geschrieben. Es ging aber wirklich um die Förderung von Künstlerinnen (kein Gender-Binnen-I).

    Natürlich kann Lotte mit Männern arbeiten und Aenne Männer fotografieren.
    Bei der GEDOK und entsprechend auch bei einer GEDOK-Aufführung geht es aber explizit um Förderung von Künstlerinnen, nicht nur im Sinne einer Choreographie, sondern auch im Sinne von Tänzerinnen.
    Es geht dabei nicht um eine Trennung, sondern um die Förderung einer speziellen Gruppe. In diesem Fall der Frauen.

    Aber es ist auch eine aktuelle Diskussion die derzeit innerhalb des Feminismus stattfindet. Z.B. zwischen FeministInnen der 2. Welle und Feminist*innen der 3./4. Welle.
    In diesem Sinne ist eine gewisse Androgynität von Artjom vielleicht kein Zufall in dieser Geschichte. Dein Einwand und diese Diskussion innerhalb des Feminismus scheint mir Teil dieser Geschichte um Berta und Lotte zu sein.

    Das ist Dreh- und Angelpunkt des Stückes. Von Berta als erwachsene und gestandene Frau mit Erfahrung hätte ich einfach mehr Fingerspitzengefühl, ja und auch mehr gefühlsmäßigen Abstand gegenüber Lottes Liebesleidenschaft erwartet. Ja, Dorothea ist da nüchterner, sagt Berta, wie sie richtigerweise reagieren hätte können und sollen, aber leider viel zu spät.

    Dorothea hat aus meiner Sicht durchaus einiges zur Situation beigetragen. Es dürften vor allem ihre Zweifel gewesen sein, die dazu geführt haben, dass Berta gegenüber Lotte reserviert war, ihr nie gesagt hat, was sie in ihr sieht. Berta wäre womöglich mit Lotte offener umgegangen, wenn Dorothea nicht immer so große Zweifel an Lotte gehabt hätte.
    Und tatsächlich war es ja Berta, die Recht hatte: Lotte hat Durchsetzungsvermögen und unternehmerisches Denken. Sie hat das, was Berta unter dem Begriff Haltung subsumiert.


    Hätte Dorothea nicht immer dagegen gehalten, Lotte als Nachfolgerin wäre vermutlich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Vielleicht spielte doch auch eine gewisse Rivalität mit rein? Vielleicht kam Dorothea nicht wirklich gut damit zurecht, dass Berta so vieles von sich selbst in Lotte sah?

    Die Situation mit der Brosche hier: Dorothea hätte die Möglichkeit gehabt auf Lotte zuzugehen, ihr die Brosche anzubieten und damit den Bruch zwischen Berta und Lotte kleiner zu machen. Sie hat sich für das Gegenteil entschieden. Sie könnte vermitteln, wenn sie wollte. Sie will aber nicht.

    Das ist Dreh- und Angelpunkt des Stückes. Von Berta als erwachsene und gestandene Frau mit Erfahrung hätte ich einfach mehr Fingerspitzengefühl, ja und auch mehr gefühlsmäßigen Abstand gegenüber Lottes Liebesleidenschaft erwartet. Ja, Dorothea ist da nüchterner, sagt Berta, wie sie richtigerweise reagieren hätte können und sollen, aber leider viel zu spät.

    Es ist eine verfahrene Situation, die eigentlich nur im griechischen Drama, mit dem Tod eines Beteiligten gelöst werden kann.

    Ich hoffe auf ein besseres Ende. Aber wer weiß, wir gehen in der Geschichte ja ohnehin düsteren Zeiten entgegen...

    Das Ärgerliche ist ja: Die Konkurrenz zwischen Berta und Lotte ist überflüssig.
    Sie könnten an einem Strang ziehen und hätten dadurch beide mehr Erfolg, sind aber nicht dazu in der Lage, weil Lotte in Berta verliebt war und Berta da nicht mit umgehen konnte.

    Stimmt, die Männer bleiben reichlich blass, selbst wenn sie wie der Alibi-Liebhaber mal näher beleuchtet werden. Selbst Erwin, der ja wohl zusammen mit Lieselotte ihre Schule leitet, läuft eher so nebenbei her.


    WIe nebensächliches Inventar

    Ich empfinde die Männer nicht als blass und auch nicht als Inventar. Sie stehen nur nicht im Mittelpunkt. Ich habe den Eindruck, dass dieses nicht im Mittelpunkt stehen besonders auffällig ist, weil es in den meisten Büchern die ich lese, genau umgekehrt ist. Ich finde es angenehm, dass es hier mal anders ist.

    Berta denkt am Ende von Kap. 26:
    Die Eigenschaften und den Einfluss, den Männer besaßen, forderte sie eben auch für sich. Das war nicht zu viel verlangt. Und dazu gab es Bereiche, in denen mussten Frauen ungestört üben dürfen, stark zu sein. Nicht alle waren wie sie selbst. Es gab überall weniger Begabte. Sogar eine Lieselotte Daube hatte davon profitiert. Diese Domänen mussten geschützt werden. Von starken Frauen. Dazu gab es schließlich die GEDOK...

    Ich hatte bewusst das Bild von Laban gepostet, weil ich finde, dass es die übliche Darstellung - zumindest in der damaligen Zeit, aber häufig genug auch heute noch - typisch wiedergibt.
    Der große Laban und sein Inventar: Laban

    Die GEDOK wurde 1926 von Ida Dehmel gegründet. Ihr Anliegen war die Förderung künstlerischer Talente von Frauen. Es ist tatsächlich merkwürdig, dass Lotte dort mit 10 Männern aufkreuzt und mit Artjom einen Mann in den Mittelpunkt stellt, der allen anderen die Schau stiehlt (Artjom z.B. ist ein Mann, zu dem man sicher auch eine eigene Geschichte erzählen könnte, weder blass noch Inventar. Aber das hier ist die Geschichte von Berta und Lotte, nicht von Artjom).
    Lotte untergräbt den ganzen Sinn der Veranstaltung. Sie kämpft auch in dieser Hinsicht sozusagen gegen sich selbst, gegen ihre eigenen Interessen. (Sie wollte selbst ursprünglich ausschließlich Frauen unterrichten...)

    Wie sagt Berta über Artjom:
    Ein Prachtstück, ohne Zweifel, aber bei einer GEDOK-Aufführung völlig deplatziert.

    Und Lotte selbst:
    "Er tanzt wie ein Mädchen!", hatte Lotte Erwin während der ersten Probestunde voller Staunen zugeflüstert.


    Wenn das so ist, warum stellt sie dann auf einer GEDOK-Aufführung nicht eine Frau in den Mittelpunkt ihrer Aufführung, statt einen Mann, der wie ein Mädchen tanzt? (Egal wie gut er darin ist...)

    Ich möchte meinen, dass Tom kreativ genug ist, sich ein paar rein fiktive Titel und Namen auszudenken.

    Kann natürlich sein, dass da Anspielungen dabei sind - das erkennen aber wohl nur besser Belesene als ich.

    Ich finde, Tom ist tatsächlich sehr kreativ darin, reale Autoren hinter fiktiven Titeln und Namen zu verstecken. ;)

    Das hat mich aber gestört: Die fiktiven Autoren und Buchtitel. Da hätte man wohl etwas Adäquates in der Literatur finden können. Aber das ist wohl mehr meine ganz persönliche Befindlichkeit.

    Ich finde es ja gerade spannend herauszufinden, welche Autoren sich hinter den fiktiven Autoren, Buchtiteln und Inhalten tatsächlich verbergen.
    Aber ich rätsele da auch noch herum...

    Dass Berta da der Ruf der Schule wichtig(er) ist, kann ich einerseits verstehen. Aber woher soll Lotte denn von den Nachfolgeplänen wissen? Wie so oft - miteinander reden würde helfen.

    Tatsächlich hat Lotte in Kap. 1 ein entsprechendes Gespräch zwischen Berta und Dorothea belauscht.
    Sie kann es sich daraus zusammenreimen.

    Aber diese Sichtweise von Berta ist ja auch umstritten. Dorothea ist ja gänzlich anderer Meinung. Es wundert mich deswegen nicht, dass Berta es Lotte nicht sagt. Aber es wäre wirklich ein leichtes gewesen, in dieser Situation empathischer zu sein. Aber das ist ja nicht gerade Bertas Stärke.

    Die beiden könnten wohl beide von dieser Freundschaft provitieren. Lotte könnte Else helfen auf dem Teppich zu bleiben trotz ihrer Vergnügungssucht. Und Else könnte ihr ein wenig mehr Lockerheit beibringen.


    Ich fürchte, Else manövriert sich in gefährliche Situationen, die von der damaligen Spaßgesellschaft ausgehen, wie z.B. Drogensucht oder Geschlechtskrankheit oder Abtreibung - mal ganz abgesehen von einem "Guten Ruf".

    Ich zitiere da einfach mal eine Stelle:
    Vor ein paar Tagen hatte Else Marie ihr gezeigt, wie sie durch die richtige Schattierung den ungünstigen Eindruck ihrer eng stehenden Augen mit etwas Rouge und Puder aufheben konnte. Das brachte auch ihre blauen Augen zum Leuchten. Ihr Gesicht strahlte dadurch viel mehr Offenheit aus, und die brauchte sie jetzt am allermeisten. Weltoffenheit, nicht Engstirnigkeit.

    Weltoffenheit hat Else Marie.
    Und Else Maries Weltoffenheit weckt bei mir keine Ängste, im Gegenteil.
    Lotte hingegen scheint mir eine wandelnde Zeitbombe zu sein...

    Kap. 18-24...

    Zitat

    Drei Monate später war Lieselotte verheiratet, natürlich nicht wegen des motorisierten Versprechens, sondern weil sie endlich eine weitere Ausbildung in Hamburg beendet hatte.

    Während Lieselotte bei Berta eine Ausbildung von einer Frau für Frauen genossen hatte und es Almut war, die sie gefördert hatte, begibt sie sich jetzt in eine Männerwelt. Die Ausbildung wird von ihrem Onkel bezahlt, ein Kredit, den sie zurückzahlen muss. Es ist eine Ausbildung beim großen Rudolf, Rudolf Laban (Laban). Sie lebt in Hamburg bei seinem Bruder und hilft dafür in der Hauswirtschaft. Sie heiratet dann Erwin, weil ... eine Ausbildung geendet hatte. Das alles passiert, als der Gagat verschwunden ist.


    Zitat

    Es war schade, aber Else hatte sich entfernt.

    Für mich sieht es so aus, als wäre es genau andersherum.


    Zitat

    Seit sie wieder in Hannover war, hatte sie beschlossen, sich häufiger um Else zu kümmern. Das Uferlose in ihrer Art beunruhigte sie.


    Mir kommt es so vor, als wäre es vielmehr Lotte, die weiterhin die Unterstützung von Else braucht. Auf eine ganz andere Art.

    Lotte lernt Aenne Heise kennen (sie ist eine historische Person), gleichzeitig taucht hin und wieder der Gagat wieder auf. Aenne Heise hat braune Augen und nennt Lieselotte Lilo.

    Ansonsten bin ich gespannt, auf ein späteres Treffen zwischen Lieselotte und Irma Dorn.
    Ich finde ihre Frage spannend: Dem bergeversetzenden Glauben von der Macht des Tanzes sind nun also auch Sie verfallen?
    Das kann ein interessantes Treffen werden...

    Und bei einem Buch von einer 42er-Autorin halte ich natürlich die Augen auf:
    ... - Alice im Wunderland.
    Ehrfürchtig schob Lieselotte die Fahrstuhltür zu und drückte auf die Ziffer Vier.
    ...
    Zwei Hosenbeine über glänzenden Schuhen fuhren senkrecht in die Tiefe.
    8)

    Ich bin mit diesem Abschnitt auch noch nicht durch, möchte aber auch schon mal was dazu schreiben, weil für mich mit Kapitel 17 sowas wie ein erster Teil zu enden scheint und mit Kapitel 18 ein Sprung stattfindet.

    Zunächst ein paar Worte zur Gagat-Brosche. Sie passt so wunderbar in diese Geschichte:

    Zitat

    Das daumennagelgroße Oval aus schwarzem Gestein mit Anstecknadel hatte sie bekommen, kurz bevor sie zu den Brostels zog. "Großmamas Auge", hatte Mutter gesagt, "vielleicht wacht es besser über dich als ich." Selten hatte die Mutter so warme Worte für sie übriggehabt.


    Nichts braucht Lieselotte wohl weniger, als "Großmamas Auge", ein Edelstein aus Braunkohle im Übergang zur Steinkohle der über ihren rechten Weg wacht. Ein Trauerstein. Was für eine Last. Er symbolisiert für mich ihr Leben im Umgang mit den erstarrten Gepflogenheiten der Gesellschaft und den Erwartungen der Familie.

    Sie verliert den Stein kurz nach der Kussszene mit Berta, bekommt ihn aber verbunden mit einer Lügengeschichte wieder zurück.
    Um ihn dann später mit einem sehr aufrichtigen Brief Berta zu geben. Sie vertraut sich damit Berta an, scheint damit aber auch die Verantwortung für sich selbst an Berta zu übertragen.
    Die offensichtlich nicht in der Lage ist damit umzugehen. Eigentlich genau das Gegenteil will, sie als Nachfolgerin von sich selbst sieht.

    Berta ist in dieser Situation überfordert. Wie heißt es schon bei den Schulstunden? Auf Irma Dorn ist Verlass, es ist Berta, die die Einsätze verpasst und auf Improvisation angewiesen ist. Mit Harschheit ihre Unsicherheit überspielt. So auch hier.
    (Irma Dorn hingegen lässt mit ihrer Art alles in einem besseren Licht erscheinen (auch Lottes Prüfung)).

    Ab Kapitel 11 wechselt die Erzählstimme häufiger weg von Lieselotte, wir bekommen mehr Einblicke in die Beziehung zwischen Berta und Dorothea. Dabei wird deutlicher, dass auch Berta in einem Korsett feststeckt. Das Buch auf dem Kopf, mit dem sie ihre Haltung bewahren möchte, sichert ihr keine ewige Jugend. Die Grenzen ihres Körpers werden deutlicher und damit auch die Grenzen ihres Lebensentwurfs, der so stark auf Haltung fixiert ist.

    Großmamas Auge verbleibt derweil in ihrem Besitz...

    Ich bin jetzt auch durch die ersten 10 Kapitel durch und es hat mir sehr gefallen.

    Ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

    Die Sequenz der Erzählung fand ich bisher sehr gelungen. Der Prolog greift ja erst mal weit vor und lässt auch schon einiges für die Zeit nach der Denunziation erahnen.
    Wie die Sequenz in den Kapiteln danach dann erst mal ist, kann ich im Nachhinein nicht wirklich sagen, sie war jedenfalls nicht chronologisch, sondern zumindest durchsetzt mit Rückblenden. Ich müsste es nochmal nachlesen, um es für mich zu ordnen, aber jedenfalls: Für mich war das sehr gelungen. Es wirkte auf mich erst mal, als ginge es vor und zurück, wie es ja auch bei Lieselotte vor und zurück geht in ihrer Erkenntnis, wie sie jetzt zu Berta steht. Eine verschlungene Erzählung, die mich aber nie verwirrt hat, sondern sehr gut Personen und Situationen (trotz auktorialer Erzählstimme fast immer aus Lieselottes Sicht meine ich) nahegebracht hat.

    Der Höhepunkt in diesen ersten 10 Kapiteln war für mich der Kuss vor der Windmühlendiele. Wunderbar beschrieben diese Szene, die mich als Leser genauso verwirrte, wie sie Lieselotte verwirrte. War sie real oder nur ein Wunschtraum? Ist sie wirklich geküsst worden? Nun, der Kuss war wohl echt, aber von Berta wird er wohl vollkommen anders intendiert gewesen sein, als von Lieselotte erhofft. Eher eine Art Erweckungskuss, in dem eine gewisse Verbundenheit und Ermutigung liegt, aber auf eine ganz andere Art als von Lieselotte interpretiert.

    Mir scheint Berta erkennt in Lieselotte sehr viel von sich selbst. Diese Härte der Haltung. Die beiden sind sich in vielem ähnlich und sie werden sich womöglich nie mehr so nahe sein, wie in diesem kurzen Moment. In dem wir nicht ganz wissen, was Berta wirklich zu Lotte gesagt hat. In dem Lotte auch nicht wirklich weiß, was Berta zu ihr gesagt hat.
    Diese kurze Szene der Annäherung, die aber dazu führt, dass Lieselotte anders abbiegt, einen anderen Weg geht, als Berta ihn in ihrem eigenen Leben gegangen ist.

    Berta, die auf eine ganz andere Art den äußeren Anschein wahrt, als Lieselotte das tut. Berta schafft sich mit ihrer harschen Art, ihrer Haltung eine Umgebung, in der sie ihren Willen durchsetzen kann. Sie selbst ist Frau, die anderen bleiben Fräuleins. Sie macht das über Diziplin und Führung der anderen und sehr viel über Körperlichkeit, zum Teil auch auf eine Art, die ich als verbissen empfinde. Es scheint mir auch eine Rolle zu sein, in der sie in gewissem Sinne gefangen ist, die ihr aber die Möglichkeit gibt, auf eine andere Art mit sich selbst im Reinen zu sein. Sie definiert die Gesetze, die in ihrer Umgebung gelten. Das zwingt sie allerdings in die Rolle, diese auch durchzusetzen.
    Und sie glaubt die Veranlagung für diesen Weg auch in Lieselotte zu sehen.

    Lieselotte ist fasziniert von Berta, ihren Augen und ihrer Möglichkeit die Welt für sich passend zu gestalten. Sie selbst gestaltet ihre Welt aber nicht, ordnet sich ihr vielmehr unter. Die eiserne Disziplin, die Berta in ihr sieht, richtet sie gegen sich selbst. Sie diszipliniert sich in die Welt, wie sie von außen vorgegeben wird, hinein, akzeptiert die Anforderungen, die an ihr gestellt werden. Deswegen benötigt sie Berta. Sie sieht sich nicht in der Lage, ihre Umgebung selbst zu gestalten, braucht in Berta eine Partnerin, die das für sie passend macht.

    Der Kuss scheint mir eine Wende zu sein. Aus Sicht von Berta ein Kuss der Erweckung, ein Stups in die richtige Richtung. Der Lieselotte aber komplett aus der Bahn wirft.

    Neben Berta und Lieselotte gibt es noch viele andere spannende Personen. Irma Dorn hat offensichtlich für sich eine ganz andere Lösung gefunden als Berta und Lieselotte. Fräulein Bragge ebenfalls (Dorothea? Den Vornamen habe ich gerade nicht präsent).
    Die Eltern von Lieselotte geben sie quasi als Tochter weg, obwohl sie ihr einziges verbliebenes Kind ist (3 verstorbene Brüder). Lieselotte gilt als arm und bürgerlich, dabei wächst sie bei Onkel und Tante auf, die selbst keine eigenen Kinder haben und gutsituiert sind.
    Else Marie finde ich ebenfalls eine sehr interessante Person.

    Das Buch spielt in diesen ersten Kapiteln in den 20ern und schafft es sowohl diese Zeit (von der ich nur wenig weiß und die fast 100 Jahre her ist) in meiner Vorstellung aufleben zu lassen als auch gleichzeitig sehr aktuell zu wirken. Sprachlich wie thematisch.

    Ich freue mich schon auf den nächsten Teil...

    Ich habe mich bisher ja nicht für diese Leserunde angemeldet und weiß auch nicht, ob ich es zeitlich untergebracht bekomme. Aber tatsächlich lese ich auch gerade den 1. Teil und ich versuch's mal, ob ich es hinbekomme.

    Kurz zum Prolog:
    Ich hasse Prologe geradezu. Sie sind meist fürchterlich schlecht und stereotyp geschrieben. Irgendwas mit einer anonymen Person, die irgendwas Schreckliches macht oder so. Solche Bücher schlage ich dann direkt zu.

    Deswegen war ich so überrascht hier einen zu lesen, der mir richtig gut gefallen hat

    Zitat

    Die Luft war gesättigt vom Duft der Auspuffgase. Dem Geruch der Zukunft. Ihrer Zukunft. Einer Zukunft ohne Berta.

    Das verspricht einiges.
    Da lese ich gerne weiter.

    Kurze Ergänzung zu dem Vorherigen:
    Bei einem Buch wie diesem, frage ich mich wieviel in der Übersetzung verloren geht, deswegen habe ich hin und her überlegt, ob ich die deutsche Übersetzung oder das englische Original lese. In meinem Fall geht dann entweder etwas beim Übersetzen beim Übersetzer verloren oder bei mir selbst, weil mein Englisch für dieses Buch sicherlich nicht ausreichen wird.
    Ich habe mich für die deutsche Version entschieden und sie scheint mir sehr gut gelungen zu sein.
    Aber es gibt unübersetzbare Stellen, die zentral sind. Der Titel wurde im Deutschen übersetzt zu Das Haus, der Originaltitel bleibt aber sinnvollerweise auch erhalten: House of Leaves. Die mehrfache Bedeutung von Leaves ist nicht übersetzbar.

    Besonders gelungen ist im Englischen aber die Stelle, die ich im letzten Beitrag angesprochen habe, an der nur noch 1 verdrehter Buchstabe übrigbleibt. Im Deutschen ist es der Buchstabe a als Teil des Wortes Klatsch, verteilt auf 3 Seiten Kl-a-tsch.

    Im Englischen ist es das Wort snaps verteilt auf 3 Seiten sn-a-ps. Es ist eine Stelle an der ein Seil reißt, the rope sn-a-ps. Das Wort zerreißt wie das Seil auch.


    Rückwärts gelesen ist es sp-a-ns. Also das Gegenteil von snaps, eine Verbindung schaffend. Das Wort schafft rückwärts gelesen eine Verbindung über die 3 Seiten.

    Es verdeutlicht sehr schön Derridas Begriff Dekonstruktion, einer künstlichen Verschmelzung der Wörter Destruktion und Konstruktion, ist aber leider nicht ins Deutsche übertragbar.

    Eine Rezension zu Danielewskis House of leaves zu schreiben ist schwierig.

    Wie schreibt man eine Rezension zu einem Buch, das Metaebenen stapelt, ohne zu viel zu verraten?


    Was passiert also vordergründig?


    Es gibt eine Familie bestehend aus Will Navidson, Karen und den Kindern Chad und Daisy.

    Will Navidson ist ein Fotograf, der für seine Fotos bereits einen Pulitzerpreis gewonnen hat.

    Sein neues Projekt ist ein Dokumentarfilm über seine Familie, die in ihr neues Haus einzieht. Hierzu montiert er im Haus überall Kameras.

    Hierbei entstehen 2 Filme, die ein merkwürdiges Phänomen im Haus dokumentieren. Es handelt sich dabei um einen zunächst kleinen dunklen Flur, der sich schließlich zu einem unendlich groß erscheinenden dunklen Labyrinth mit zum Teil riesigen Hallen entwickelt. Die Filme sind

    - Der Fünfeinhalb-Minuten-Flur

    - The Navidson Record


    Diese Filme werden auf akademische Weise ausführlich von Zampanò kommentiert. Einem alten Blinden, der sich bei seinen Kommentaren auf die Hilfe einer Vielzahl von Frauen stützt, von denen er sich Texte vorlesen lässt, Verweise suchen lässt usw.

    Er hinterlässt ein Konvolut aus Notizen, Dokumenten usw. gespickt mit unzähligen Fußnoten in einer Truhe.


    Dieser Nachlass fällt Johnny Truant in die Hände, der verbissen darin nach der Wahrheit sucht, selbst dabei aber immer mehr in eine Art Wahnsinn verfällt.

    Die durch Johnny Truant sortierten und kommentierten Notizen von Zampanò werden als Buch herausgegeben und dabei durch diesen anonymen Herausgeber ebenfalls wieder um Fußnoten ergänzt.


    Im Anhang des Buches finden sich außerdem Briefe seiner Mutter Pelafina an Johnny Truant. Sie schreibt diese aus dem Irrenhaus.


    Diese unterschiedlichen Erzähler/Erzählebenen werden jeweils durch eigene Schrifttypen dargestellt.


    Das Buch lässt sich auf verschiedene Art lesen. So kann z.B. die vordergründige Horrorstory gelesen werden, also die Geschehnisse um Will Navidson und seiner Familie in dem Haus.

    Zum anderen kann die künstlerische Umsetzung des Buches gesehen werden, die Metaebenen, die Dekonstruktion, bei der unterschiedliche Erzählstimmen unterschiedliche Interessen an der Wahrheit haben und auch einen unterschiedlichen Anspruch an der Wahrheit mit sich bringen (vom preisgekrönten Dokumentarfilmer bis zur im Irrenhaus sitzenden Mutter von Johnny Truant).


    Ich selbst konnte mich beim Lesen nicht wirklich auf die Horrorgeschichte einlassen, sie war für mich zu offensichtlich eine Metaebene.

    Was mir gut gefallen hat, war tatsächlich die Übernahme der Metaebene auch im Layout, die Dekonstruktion der Wahrheit in Form von Labyrinthen die den Text förmlich durchlöchern, eine riesige schwarze Halle in Form einer Fußnote oder auch ein fast vollständiges Verschwinden von allem, bis nur noch 1 einziger Buchstabe auf einer Seite übrig ist und auch der ist verdreht.


    Eine häufig im Internet verbreitete Erklärung dafür dass das Haus in blau gedruckt ist, ist ein Verweis auf das Bluescreen-Verfahren, es soll verdeutlichen, dass jeder in das Buch hineindeuten kann, was immer er möchte.

    Aus meiner Sicht steckt mit dieser Farbe was anderes dahinter, aber das gehört wohl zum Teil, den man selbst erlesen und empfinden sollte.


    In Foren zum Buch wird nach tieferen Erkenntnissen zu dem Buch gesucht. Nach versteckten Codes, übersehenen Anspielungen usw. Es wird da mit Sicherheit vieles zu finden geben, aber ich verstehe das Buch auf eine andere Weise, die die Suche nach Codes usw. überflüssig macht (wobei es sicherlich trotzdem Spaß macht, danach zu suchen und welche zu finden.)

    Für mich ist es ein Buch, das wie ich vermute, Dekonstruktion ala Derrida erlebbar macht (ich habe Derrida nie gelesen, es ist also eine gewagte These von mir...).

    Und für Danielewski ist es sicherlich auch ein sehr persönliches Anliegen, das er in diesem Buch verarbeitet hat.

    House of leaves ist ein Buch das eine eigene Kategorie bildet (mit wenigen anderen wie S oder Gedankenhaie). Es macht deswegen aus meiner Sicht keinen Sinn ihm Punkte zu geben. Es zu lesen war für mich mehr Erlebnis als eine Lesefreude. Es ist ein besonderes Buch. Ich werde es sicher wieder in die Hand nehmen und zumindest darin blättern.

    Hat jemand von Euch schon die Serie "His Dark Materials" gesehen?

    Ich wusste gar nicht, dass es dazu eine Serie gibt, das habe ich gerade zufällig beim Stöbern entdeckt.

    Lohnt sich die Serie?:)

    Sie wurde mir sehr empfohlen von jemandem, dessen Geschmack ich traue. Es wäre sehr viel besser als die Kinoverfilmung.
    Wird aber weder bei Amazon Prime, noch bei Nextflix gestreamt, daher habe ich es noch nicht gesehen.

    Maarten Dann vergiss aber nicht dass die muslimischen Kinder außerhalb der Schule Koranunterricht erhalten und die Eltern Religionsunterricht großteils abgelehnt hätten. Das lässt sich dann nur durch Ethikunterricht für alle so hinbiegen, wie du es gerne hättest. Und an einer katholischen Grundschule fände ich das etwas seltsam, schließlich ist es so ziemlich das einzige was sie katholisch macht. Es gibt hier im Ortsteil mindestens fünf Grundschulen, da gibt's durchaus Alternativen die auch nicht weiter weg sind. Alle paar Wochen waren die Kinder ab der dritten Klasse sogar in der Kirche - in einer evangelischen, weil die direkt nebenan ist. Religion wurde ökumenisch gehandhabt.

    Dass die muslimischen Kinder lediglich Koranunterricht außerhalb der Schule haben und keinen gemeinsamen Unterricht zu den wichtigen Fragen des Lebens zusammen mit Kindern anderer Glaubensbekenntnisse ist doch gerade Teil des Problems (genauso wie andersherum).

    Teil eines Problems, dass sich tatsächlich über einen gemeinsamen Unterricht zu den wichtigen Fragen des Lebens lösen ließe. Dieser Unterricht würde es ermöglichen Gemeinsamkeiten zu erkennen, ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln und Antworten auf wichtige Fragen diskutieren zu können.

    Es gibt keine anderen Fächer in denen solche Fragestellungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Es ist eine Chance, die nicht wirklich genutzt wird.