Beiträge von John Dowland

    Ich bin jetzt bis zum fünfzehnten Auftritt vorgedrungen, weiter komme ich in dieser Woche nicht mehr. Bei dieser letzten Szene habe ich allerdings herzlich gelacht – zuerst fragt man sich ja, was das Ganze hier soll, warum Prothoe ihrer Anführerin vorgaukelt, Achilles besiegt zu haben. Durch diesen kleinen Trick gelingt es Kleist aber, den „wahren“ Charakter der Amazonenkönigin zu offenbaren, die schon zu Beginn der hoffnungsvollen Beziehung einen kleinen Nachhilfekurs in Sachen Partnerschaft nötig hätte. Sehr schön also ihre Bemerkung gegenüber dem griechischen Helden:


    „Doch weil mich, auf dem Zuge, du begreifst , / So manche Sorge fesselt, wirst du dich / Noch zu den übrigen Gefangnen halten: / In Themiscyra erst, Neridensohn, / Kann ich mich ganz, aus voller Brust, dir weihn.“ (15. Auftritt)


    Achilles soll hier offenbar dem Streichelzoo einer vielbeschäftigten Heerführerin zugeführt werden. So viel Zuwendung kann ihm, der, zunehmend entsetzt, den Ausführungen der vermeintlichen Siegerin über martialische Amazonenbräuche lauscht, natürlich nicht verborgen bleiben. Ein paar Sätze später begreift er denn auch, dass „aus voller Brust“ hier durchaus wörtlich gemeint ist:


    „Die ungeheure Sage wäre wahr? / Und alle diese blühenden Gestalten, / Die dich umstehen, die Zierden des Geschlechts, / Vollständig, einem Altar gleich, jedwede / Geschmückt, in Liebe davor hinzuknien, / Sie sind beraubt, unmenschlich, frevelhaft - ?“


    Unserem Helden, sonst nicht auf den Mund gefallen, gehen an dieser Stelle die Vokabeln aus. Prima also, dass die Sache für Achilles ein bloßer Alptraum bleibt, aus dem er getrost wieder erwachen darf.


    In den letzten Szenen ist auch klar geworden, dass Kleist die Begegnung mit Penthesilea zu einem Zeitpunkt stattfinden lässt, als dieser den Streit mit Agamemnon bereits beigelegt und den Erzfeind Hektor schon besiegt hat.

    Von Kleist, dem Autor der „Penthesilea“ hat ja jeder schon gehört, das eine oder andere sicher auch gelesen – das Trauerspiel um die Amazonenkönigin war mir selbst allerdings unbekannt. Umso neugieriger bin ich auf den Inhalt.


    Beim Lesen der ersten sieben Auftritte ist mir Folgendes aufgefallen:


    Zunächst die (verhältnismäßig) geringe Anzahl der handelnden Personen. Vergleicht man diese mit Homers Ilias, den Königen, Helden, Priestern, Jungfrauen, Heerführern, Sehern und Gefolgsleuten, die der blinde Sänger auffährt, so wird deutlich, dass sich Kleist bewusst auf einige wenige Charaktere – gerade einmal vier Griechen, vier Amazonen und eine Oberpriesterin - beschränkt.


    Noch auffälliger ist die Abwesenheit der Götterwelt – bei Homer sind das ja wichtige Akteure, die nach Lust und Laune ins irdische Geschehen eingreifen: gleich im ersten Gesang wird Zeus, der Göttervater, nach allen Regeln der Kunst (Kniefall, Augenaufschlag, Berührung ...) von Thetis umgarnt und löst mit seinem Kopfnicken ein Blutvergießen unter den ahnungslosen Kriegsparteien aus. Bei Kleist taugen die Götter nur noch zum fernen Anrufungsobjekt des Bodenpersonals (und das auch noch falsch(?): „Beim Jupiter!“ entfährt es Odysseus im ersten Auftritt, damit ist wahrscheinlich nicht gemeint, dass der griechische Held zum römischen Götterglauben konvertiert ist).


    Hauptpersonen sind ohne Zweifel Penthesilea, die Amazonenkönigin, und Achill, neben Odysseus der griechische Held schlechthin. Von dessen Streit mit Agamemnon um „Brises rosige Tochter“, „dem“ Thema der Ilias, ist in den ersten sieben Auftritten keine Rede. Achill ist in die Schar der griechischen Heerführer integriert und wirft sich hochmotiviert in die Schlacht – kein Wort von der erlittenen Demütigung, kein Anzeichen von Verweigerung und Passivität, kein Wunsch nach Wiedergutmachung. Das Stück siedelt Kleist also möglicherweise im Vorfeld des Beutestreits im griechischen Heerlager an.


    Der Grieche und die Amazone - beide Anführer treffen mit Leidenschaft gefährliche Entscheidungen, setzen zur Erreichung persönlicher Ziele das eigene Leben und das ihrer Gefolgsleute aufs Spiel, sind „beratungsresistent“, unkalkulierbar, ungestüm und impulsiv und dabei doch von Freund und Feind geachtet und geehrt. Beifall verdient Prothoe, die es wagt, der Anführerin offen zu widersprechen (und dabei doch mit ihren ungeschickt erhobenen Vorwürfen wirkungslos bleibt). Wichtigstes Thema scheint bislang die Liebe zwischen Achill und Penthesilea zu sein, die hier eine sehr beachtenswerte Ausprägung des Besitzenwollens, der Unterwerfung, des Denkens in den Kategorien von Sieg und Niederlage findet.



    Zitat

    Original von Babyjane:


    Sehe ich das richtig, daß das Heer von Achilles von den Amazonen überrannt wurde und er dann im Kampf mit Penthesliea selbige aber besiegte. Sie daraufhin mit ihren Heerführerinnen in Streit gerät?


    Ich habe den Plot so verstanden:


    • Die Griechen belagern Troja mit dem Ziel, dieses zu erobern und insbesondere die geraubte Helena dem Bruder des griechischen Heerführers, Menelaos, zurückzugeben.
    • Plötzlich greift ein Amazonenheer in das Geschehen ein – die Griechen vermuten zunächst, dass es sich um Verbündete der Trojaner handelt, beobachten dann aber, wie Deiphobus, ein trojanischer Feldherr, von den Amazonen bekämpft wird.
    • Es kommt zu einer Begegnung zwischen Achill, Odysseus und Penthesilea; letztere verweigert sich, ein Bündnis mit den Griechen einzugehen, ist aber von der Erscheinung Achills nachhaltig beeindruckt.
    • Die Amazonen stehen im Kampf mit Griechen und Trojanern – es geht ihnen offenbar darum, „Beute“ zu machen, d.h. feindliche Krieger gefangen zu nehmen und nach Themiscyra, dem Herkunftsort der Amazonen, zu verbringen.
    • Penthesilea rettet Achill das Leben, als Deiphobus diesen im Kampf zu bezwingen droht.
    • Achill, dessen Wagen sich bei einem Unfall verkeilt, entgeht nur knapp der Gefangennahme durch die Amazonen.
    • Penthesilea nimmt entgegen Prothoes Ratschlag den Kampf mit den Griechen auf mit dem Ziel, Achill gefangen zu nehmen und die Griechen entscheidend zu schwächen; Achill widersetzt sich dem Rückzugsbefehl Agamemnons und stürzt sich erneut in die Schlacht.

    Mir hat das Ende so gut gefallen, dass ich Tränen gelacht habe...


    Die Menschen, soviel steht fest, müssen selbst entscheiden, wie sie ihren Mitmenschen begegnen - ob sie ihren Tag mit mürrischen oder ermutigenden Gedanken beginnen; ob sie einen Sinn im Leben finden, der über die scheinbare Vermehrung des eigenen Vermögens hinausgeht. Scrooge, so scheint es, hat am Ende die Kurve gekriegt. Wie lange hält der Eindruck bei denen nach, die ihn als Leser durch seine geisterhaften Traumwelten begleitet haben?


    Unter den Lesern aus der Runde des Jahres 2005 ist die Frage nach dem besonderen Rhythmus bzw. der Liedform von „A Christmas Carol“ aufgeworfen worden. Im Nachwort zu meiner Reclam-Textausgabe (ohne deren Vokabellisten ich wahrscheinlich erst nächstes Weihnachten fertig geworden wäre) findet sich hierzu ebenfalls ein kurzer Hinweis. Textpassagen wie
    “For the people who were shovelling away on the housetops were jovial and full of glee;
    calling out to one another from the parapets, and now and then exchanging a facetious snowball - ...” (Strophe III)
    Oder: “He had no further intercourse with Spirits, ...” (Strophe V)
    sind im Blankvers, zumindest in Jamben (Versfuß, bei dem auf eine „leichte“ Silbe eine „schwere“ Silbe folgt) verfasst.


    Die Radikalität, Geschwindigkeit und damit auch die Glaubwürdigkeit der Verwandlung des Uncle Scrooge hat offenbar schon zahlreiche Kritiker gefunden (auch das wurde oben schon diskutiert). Ich habe den Text als Märchen verstanden, als kurzen Ausflug an einen Ort, wo die Gesetze von Raum und Zeit mal für eine Weile außer Kraft gesetzt werden dürfen.

    Dieses Kapitel habe ich mit angehaltenem Atem gelesen: der Geist lässt unseren Scrooge in einen wahrhaft finsteren Abgrund blicken! Das wirkt m.E. deshalb so stark auf den Leser, weil der Kontrast mit den zuvor geschilderten Episoden so groß ist (dem fröhlichen Blindekuhspiel bei Scrooges Neffen, dem Festtagsessen bei den Cratchits...) Und dann die Reaktionen auf Scrooges Tod! Ich frage mich, an welcher Stelle Dickens wohl näher an die Realität herankommt, die Welt wirklichkeitsgetreuer beschreibt: wenn es um die Schilderung eines ausgelassenen Festes oder einer liebevollen Familiengemeinschaft geht - oder wenn er den achselzuckenden Dialog zweier „Geschäftsfreunde“ protokolliert, die mit einer Bemerkung über das Wetter voneinander scheiden und sich dann an die Erzählung der dunklen, an Lk 23, 34 erinnernden Szene der „Nachlassverteilung“ macht.

    Beim Lesen dieses Abschnitts sind mir zunächst die vielfältigen Formen von „Licht“ aufgefallen, ein Thema, das Dickens immer wieder variiert: der erste Geist verschwindet, weil Scrooge sein Leuchten zum Erlöschen bringt; auch der zweite Geist kündigt sich durch Licht an, zunächst nur durch ein schwaches rötliches Schimmern, das später zum hellen Schein eines prasselnden Feuers wird; der Geist trägt eine Fackel in der Hand; ein Nachtwächter entzündet die Straßenlaternen; Scrooge besucht Männer in einem Leuchtturm am Meer ...


    Überhaupt die Schauplätze – sie werden, von der Hütte der Bergarbeiter bis zu den Matrosen auf dem Schiff, immer unwirtlicher, als ginge es darum, einen Ort zu finden, der so entlegen ist, dass dort unter gar keinen Umständen Weihnachten gefeiert werden könnte. So düster diese Behausungen aber sein mögen – stets wird Scrooge zu Menschen geführt, die ebendiese Düsternis nicht als Hindernis betrachten, glücklich zu sein.


    Als wäre diese Reihe schöner Bilder am Ende ein wenig zu farbenfoh, zu ausgelassen-optimistisch geraten, zieht der Geist seinen Schüler am Ende auf den harten Boden der Wirklichkeit zurück und präsentiert zwei Kinder, die Scrooge offenbar eine Warnung sein sollen (das legt der englische Ausdruck „beware them both“ nahe). Aber: Zwei kleine Kinder als Sinnbild einer Gefahr – mit diesem Bild komme ich nicht gut zurecht. Auch die Namen der beiden („Ignorance“, also Unwissenheit im Sinn von Beschränktheit und „Want“ im Sinne von Mangel, Not, Bedürftigkeit) scheinen mir nicht recht zusammen zu passen: weil das eine, die Ignoranz, ein Vorwurf an Menschen wie Scrooge und das andere, die Not, die Folge davon ist.

    Liebe Mit-Lese-Eulen,


    vor unserem kleinen Ausflug in den Kongo muss ich nochmals wegen des Termins nachhaken. Anfang März sieht´s schon recht gedrängt aus und der 1. des Monats ist der Starttermin für Autorenleserunden. Passt Euch auch der 7. März? Ich würde gern nächste Woche das Formular absenden, damit unsere kleine Runde schon einmal installiert ist.


    Viele Grüße


    J.D.

    Der Geist (vielen Dank übrigens für die Hinweise zum Unterschied zwischen „ghost“ und „spirit“!) führt Scrooge zu fünf längst vergangenen Weihnachtsfesten, die zugleich so etwas wie einen Wendepunkt für sein Leben bedeuten:


    • Scrooges Kindheit / Schulzeit (Märchen von Ali Baba etc.)
    • Scrooges Internatszeit (Besuch von seiner Schwester Fan)
    • Scrooges Lehrzeit (Weihnachten bei Fezziwigs)
    • die Trennung von Scrooge und Belle
    • Weihnachten in Belles Familie (Zeit vor sieben Jahren)


    Einige hier haben darauf hingewiesen, dass die Entwicklung Scrooges zu dem Scheusal, das er am Ende zu sein scheint, nicht richtig herausgearbeitet wird. M. E. hat das mit den Beschränkungen zu tun, von denen im Vorwort die Rede ist – für die schlüssige Herausarbeitung der Charaktere hätte es eines Romans bedurft, abzuliefern war eine viel kürzere Variante und so kommt es auch Dickens selbst nicht auf die „Schlüssigkeit“ seiner Geschichte an.


    Das schriftstellerische Verdienst Dickens liegt m. E. darin, dass es ihm gelingt, den (ausschließlich inneren) Konflikt, den Scrooge hier mit sich ausmacht, die „Bilanz“, die er über sein Leben zieht, in eine spannende und farbenfrohe äußere Handlung zu verwandeln: den Dialog mit einem Geist nämlich und die Reise an verschiedene Orte der Vergangenheit.


    Zum Geist: eine merkwürdige Erscheinung! Die „starken“ Arme bedeuten wohl, dass wir dem Griff, mit dem uns die Vergangenheit festhält, nicht entkommen können. Auch Scrooge kann sich – jedenfalls zu Beginn – nicht davon lösen. (Das Mittel, den Geist zu besiegen, hat aber auch er schnell entdeckt: die Vergangenheit muss nur verdrängt bzw. verfinstert werden und darf nicht in hellerem Licht stehen, als die Gegenwart.)


    Mich persönlich hat der kurze Dialog zwischen Scrooge und Belle am meisten berührt. Und ich wüsste nicht, wie man besser ausdrücken könnte, dass man einen Menschen liebt, als Belle das hier tut: „´It matters little,´ she said softly. `To you, very little. Another idol has displaced me; and if it can cheer and comfort you in time to come, as I would have tried to do, I have no just cause to grieve.`”

    Von Karl Valentin stammt, glaube ich, der böse Satz: „Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem!“


    Ein klein wenig trifft das vielleicht auch auf diesen Thread zu. (Ist allerdings, bei der Vielgestaltigkeit des Themas, auch nicht weiter erstaunlich). Ich gebe auch gerne zu, dass ich zwischenzeitlich den Überblick verloren habe, welche Aspekte bereits diskutiert worden sind und mit welchem (mehrheitlichen) Ergebnis. Damit diese wichtige Debatte nicht im Sand verläuft, ist es vielleicht hilfreich, die zahlreichen Aspekte und Beiträge ein wenig zu ordnen. Aus meiner Sicht wurden hier (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) diskutiert:


    • Ziele von Leserunden
    • Mindestteilnehmerzahl
    • Aufgaben des Moderators
    • Aufgaben des Themenstarters
    • Beiträge zu Leserunden
    • ...


    In einem zweiten Schritt könnten dann Vorschläge für inhaltliche / formale Hinweise zugeordnet werden. Ziel wäre die Erarbeitung einiger weniger (aber wichtiger) Spielregeln, auf die wir uns hier mehrheitlich verständigen. Wichtig wäre aber, denke ich, dass es sich (zunächst) um Empfehlungen handelt - wenn das nicht funktioniert, können später immer noch Regeln daraus gemacht werden. Bei Empfehlungen ist erfahrungsgemäß die Akzeptanz größer, sie lassen Abweichungen zu und alle haben die Möglichkeit, die neuen Verfahren erst einmal auszuprobieren...


    Zweckmäßig könnte es auch sein, wenn sich ein paar Eulen an einen virtuellen Ort zurückziehen und einen ersten Vorschlag für solche Empfehlungen erarbeiten, über den dann wieder alle diskutieren / abstimmen können. (Da ich den Vorschlag gemacht habe, würde ich mich auch bereit erklären, mitzuhelfen – allerdings wird das vor der Weihnachtspause fast nicht mehr möglich sein.)


    Abschließende Anmerkung: Ich habe keine Ahnung, ob solch ein basisdemokratisches Verfahren hier üblich ist, oder ob das Erstellen von „Spielregeln“ den Moderatoren vorbehalten ist.... Vielleicht stehen solche Empfehlungen auch schon irgendwo und ich hab´s nur überlesen...

    Zitat

    Origial von SiCollier


    Stimmt, in Relation zur vorherigen Beschreibung Scrooges bekommt er recht schnell „kalte Füße“.


    Genau das wollte ich damit sagen: es geht ein wenig zu schnell... Das scheint Dickens übrigens selbst gemerkt zu haben. In einem der beiden Vorworte führt er aus, keine „detailreiche Herausarbeitung“ seiner Charaktere angestrebt zu haben, da ihm bei der Veröffentlichung offenbar Grenzen auferlegt worden waren: „I never attempted great elaboration of detail in the working out of charakter within such limits, believing that it could not succeed”.


    Mir scheint es, als ob Scrooge sieben Jahre nach dem Tod seines Kollegen Marley so etwas wie die Ahnung seines eigenen Schicksals überkommt. Als würde er sich plötzlich der unaufhörlich verrinnenden Zeit bewusst. Darauf deuten zumindest die vielen Kirchenglocken und Rathausuhren hin, die in der Geschichte immer wieder anklingen.

    In der ersten Strophe fällt ja auf, dass wir es bei Scrooge mit einem wirklich außergewöhnlich „harten Knochen“ zu tun haben. Bemerkungen wie diejenige über die (volkswirtschaftlich) positiven Folgen der Armensterblichkeit („...they decrease the surplus population...“) etc. bringen die Gefühlskälte, Boshaftig- und Überheblichkeit von Dickens Hauptperson ja besonders deutlich zum Ausdruck. Aus diesem Grund habe ich mich gefragt, was es eigentlich genau ist, das den eiseskalten Scrooge hier so nachhaltig aus der Bahn wirft?


    Darüber befasst sich diese Strophe mit dem Thema Wahrnehmung: Scrooge begegnet einem Geist. Und Geister, das war schon zu Dickens Zeiten klar, gehören ins Reich der (Ammen)märchen. Man kann bestenfalls ein Kind damit erschrecken. Folgerichtig gehen Scrooge zunächst alle möglichen rationalen Argumente gegen die Existenz von Geistern durch den Kopf: es muss sich um eine Sinnestäuschung handeln, hervorgerufen durch halbgare Speisen etc... Am Ende allerdings kniet unsere beinharte Hauptperson vor eben dieser „Sinnestäuschung“ auf dem Fußboden und gibt zu, dass er ihr Glauben schenken „muss“.

    Ein paar Eulen haben ja oben die Auffassung vertreten, dass sich zu lange Vorlaufzeiten / Ankündigungen als nachteilig erweisen (weil man im vorhinein nicht so genau sagen könne, ob eine Teilnahme an der LR dann auch möglich sei...etc. ) Auch wenn´s nur ein weiteres Beispiel für die Gegensätzlichkeit der hier vertretenen Meinungen und Herangehensweisen ist: für mich ist eine längere Vorlaufzeit günstig; ich freue mich über die Chance zu planen, mit welchem Buch ich mich befassen möchte und mit welchem nicht. Das eindrucksvolle Lesepensum von beowulf werde ich nicht schaffen. Deshalb sind bei mir Auswahlentscheidungen unerlässlich – und so muss ich, wenn ich mich gerade mit Dickens befasse, halt leider auch Julian Green verzichten, so gern ich bei der jetzt angekündigten Runde mitgemacht hätte.


    Aus diesem Grund stimme ich millas statement, wonach sich eigentlich jeder diese Frage stellen sollte, hundertprozentig zu...!

    Zitat

    Original von SiCollier


    Seite 30, zu Beginn der Unterhaltung zwischen Scrooge und Marley, hat es im Original ein sinniges Wortspiel, das im Deutschen verloren geht. Es heißt: Du stammst mehr aus den Bereichen des Magens als denen des Grabes, was auch immer du bist!“ Und im Original: There’s more of gravy than of grave about you, whatever you are!“


    Eine Eule aus der Leserunde 2005 hat auch schon über diese Passage nachgedacht und auf eine wirklich gelungene Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeld hingewiesen:


    Zitat

    "There´s more of gravy than of grave about you, whatever you are." wird in meiner Ausgabe (übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt) so übersetzt: "Du hast mehr mit einer fetten Sauce als mit der fetten Erde eines Grabes zu tun, wer du auch seist!"


    Edit: Zitat eingefügt

    Zitat

    Original von SiCollier


    Gleich auf der ersten Seite fehlt ein ganzer Absatz, und zwar zwischen: Der alte Marley war so tot wie ein Sargnagel. und Wußte Scrooge, daß er tot war? Im Original steht da ein Absatz, in dem Dickens darüber sinniert, weshalb ein Türnagel „toter“ sein soll als ein Sargnagel.


    Auch wenn´s ein hartes Stück Arbeit ist: aus ebendiesem Grund quäle ich mich durch die englischen Originale hindurch (zu irgend etwas muss die Paukerei ja gut gewesen sein). Die zitierte Passage hat den Übersetzer überfordert, weil es das Bild "tot wie ein Türnagel" in der deutschen Sprache nicht gibt. Wir würden "mausetot" sagen und könnten´s auch nicht erklären. Der Text verliert von tatsächlich von seinem Charme, wenn man die feine Ironie mit der Dickens seine Vorväter hier ein wenig auf die Schippe nimmt, einfach weglässt.

    Von H. P. Lovecraft habe ich außer „Schatten über Innsmouth“ nur eine weitere Erzählung gelesen und zwar „Träume im Hexenhaus“ („The Dreams in the Witch-House“ – diese Erzählung wurde vom Autor im Jahr 1933 in der Zeitschrift „Weird Tales“ [„Unheimliche Geschichten“] veröffentlicht). Da es Horrorgeschichten wie Sand am Meer gibt, denke ich, dass es sich – abschließend - vielleicht lohnt, mal über den speziellen Charakter der vorliegenden Erzählung nachzudenken. Aus meiner Sicht kommen dabei folgende Aspekte in Betracht:


    1) Vermischung von konkreter und sichtbarer Erfahrungswelt mit einer unbegreiflichen, unsichtbaren und bösen Parallelwelt. Die Handlung von „Schatten über Innsmouth“ spielt sich, nach dem Konzept des Autors, in der Gegenwart ab. Die Region Neuengland, die der Erzähler hier besucht, kann auch vom Leser bereist werden – es gibt zahlreiche der in der Erzählung zitierten Orte (z.B. Boston) in der realen Welt und auch die erwähnten geschichtlichen Ereignisse (z.B. der Unabhängigkeitskrieg) haben tatsächlich statt gefunden. Innsmouth und Arkham, die Orte, in denen sich in beiden Erzählungen das eigentlich unheimliche Geschehen abspielt, sind jedoch fiktive Städte. Da der fiktive Schauplatz nun auch sämtliche Merkmale der realen Schauplätze aufweist (Straßennamen, Bahnlinien etc.) wird diese Vermischung ziemlich perfekt. Die Krönung erfährt die Vermischung mit dieser Parallelwelt, die im Grunde eine Vereinnahmung durch das Böse ist, allerdings erst im fünften Kapitel: da der Autor einen „Ich-Erzähler“ zur Haupt- und Identifikationsfigur gemacht hat, kommt die Vermischung beider Welten hier mit voller Wucht sogar beim ahnungslosen Leser an, der sich plötzlich selbst für die Geschichte seiner Vorfahren zu interessieren beginnt...


    2) Grenzüberschreitungen. Das eigentlich beunruhigende Merkmal der vorliegenden Geschichte (und auch der „Träume im Hexenhaus“) besteht m.E. im bewussten Übertritt seiner Akteure in „verbotene“ Regionen bzw. im Willen zur Ausforschung von Bereichen, die für menschliche Lebewesen schlicht unzugänglich sind. Man könnte das auch als Tabubruch bezeichnen. Die erste „Grenzüberschreitung“ wird hier von Kapitän Obed mit seinem Pazifikhandel und der Kontaktaufnahme zu den Eingeborenen betrieben. Dann gibt es die Grenze zwischen Land und Meer, die auch eine Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ist. Es gibt eine Grenze zwischen Mensch und Tier und zwischen Gut und Böse. All diese Grenzen werden von den Bewohnern unseres netten Küstenstädtchens systematisch und mit Vorsatz überschritten. (Übrigens haben mich die „Fischwesen“ oder „Fischteufel“, die Lovecraft hier aufwatscheln lässt, ganz entfernt an die „Frösche“ aus Pinols „Im Rausch der Stille“ erinnert...). Die Motive, die dabei eine Rolle spielen, sind zunächst die Sehnsucht nach wirtschaftlichem Wohlergehen, später ist es die Hoffnung auf ewiges Leben. Beim Erzähler ist es – jedenfalls zu Beginn - schlichte Neugier. Sämtliche Warnungen (etwa vor dem Betreten des Küstenstädtchens, vor dem Kontakt mit seinen Bewohnern) schlägt er in den Wind. Der Autor schildert nun die drastischen Folgen solcher Erkundungen – sowohl Kapitän Obed als auch der Erzähler werden für ihren Leichtsinn übel bestraft. Obed erkennt irgendwann, dass ein Rückzug aus dem Geschehen nicht mehr möglich ist. Der Erzähler lässt kostbare Zeit verstreichen, zu der er noch „handlungsfähig“ wäre.


    3) Erschaffung eines eigenen „Kosmos des Bösen“. Einem Teil von Lovecrafts Erzählungen liegt die Idee von der Existenz einer eigenen bösen Welt, mit eigenen, festen Gottheiten und eigenen Gesetzmäßigkeiten zugrunde. (Bei Wikipedia lässt sich einiges darüber nachlesen). In vielen Geschichten – auch in „Schatten über Innsmouth“ tauchen daher wiederholt Namen geheimnisvoller Regionen und Städte, Zauberbücher oder auch Gottheiten (hier ist es vor allem der „Große Cthulhu“) auf. Bis heute besteht offenbar Streit, wie viel hiervon tatsächliche historische Wurzeln aufweist und was davon der alleinigen Phantasie unseres Autors entsprungen ist. Auch in dieser Hinsicht ist es Lovecraft offenbar perfekt gelungen, die Grenze zwischen Realität und Fiktion auf beunruhigende Weise zu vernebeln.