Glücklichmachziegel
Fast anderthalb Kilo bringt es auf die Waage, knapp 1250 Seiten ist es stark, dieses eckige, gleichsam scharfkantige, ziegelförmige Buch. Die etwas irritierende, von einem Eye-Catcher weit entfernte Coverillustration ist schwarz-weiß, der sperrige, unlyrische Titel in zurückhaltenden Versalien und mit dem kaufmännischen Und dazwischen wirkt wie drübergestreut, und wenn man das Buch in die Hände nimmt, scheint es zu sagen: Kauf mich besser nicht. Lies lieber etwas anderes. Du weißt ja nicht einmal genau, was die "Tet-Offensive" war oder ist.
Aber wenn man ganz genau hinhört, dann murmelt es leise und mit anheimelnder Stimme: Doch, kauf mich unbedingt. Du wirst mich aus anderen Gründen als aus denen, die du siehst, lieben lernen.
Und von diesen anderen Gründen gibt es viele.
Ich weiß nicht, ob Marathonläufer so nach fünfzehn, zwanzig Kilometern zu bedauern beginnen, fast die Hälfte geschafft zu haben, ob sich Bergsteiger auf halber Höhe wünschen, dass der Gipfel noch weiter weg wäre, sie also traurig darüber sind, dass es bald vorbei ist, dieses großartige Erlebnis, über 40 Kilometer auf den eigenen Füßen zurückzulegen oder mehrere tausend Meter senkrechtes Gestein zu überwinden. Ich nehme eher an, dass sie das Ende herbeizusehnen beginnen, dass sie zum x-ten Mal die Entscheidung bereuen, diese Tortur auf sich genommen zu haben, dass sie umstandslos jede Ausrede akzeptieren würden, um den Lauf oder die Besteigung abzubrechen.
Beim Lesen dieser anderthalb Kilo allerfeinster, unterhaltender, dramatischer, origineller, schillernder, fantasie- und wissensreicher, komischer, tieftrauriger, optimistischer und nicht zuletzt wahnsinnig kluger Literatur habe ich ungewöhnlich oft geprüft, wie viele Seiten es noch sind, wie lange mir dieses Buch noch bleibt, es mich noch begleiten wird. Um im Marathon-Vergleich zu bleiben: Ich wäre auch tausend Kilometer gelaufen. Mit seiner Länge macht dieser Roman auch physisch auf das aufmerksam, worum es in ihm geht, nämlich um die genaue Bedeutung der Dinge, um die Wirkung von Leben, um die Nachhaltigkeit unseres Daseins, um die Nutzung der Zeit, um das intensive Sich-Vertiefen. Um die Liebe. Um Kunst, Musik, Theater, um Ausdrucksformen und Selbstverwirklichung. Um Freundschaft. Und Trauer. Und, vor allem, darum, was es bedeutet, irgendwo oder bei irgendwem zu Hause zu sein.
Max Larsen ist ein Teenager im norwegischen Stavanger. Wir befinden uns in den Achtzigern. Sein Leben wird unspektakulär und vorhersehbar verlaufen, glaubt er, aber eigentlich macht er sich noch nicht viele Gedanken über solche Dinge, obwohl Max sehr klug ist und eine hohe Auffassungsgabe besitzt. Er ist ein glühender Fan von Francis Ford Coppola und dessen bahnbrechendem "Apocalypse Now". Mit seinen Freunden spielt er im Wald Vietnamkrieg. Aber Max wird aus dem übersichtlichen, beschaulichen Leben gerissen, als die Eltern beschließen, in die U. S. of A. auszuwandern, weil dem Vater, der Pilot ist, ein Job bei American Airlines angeboten wurde. So landen sie auf Long Island im Staate New York. Aber Max will dort nicht sein, zieht und hält sich zurück, bis er beim Schulschwimmen Mordecai begegnet - und sich augenblicklich eine Seelenverwandtschaft offenbart. Wer das Glück hat, über einen im Wortsinn besten Freund, einen intimen, verlässlichen Vertrauten zu verfügen, wird sofort verstehen, wovon Johan Harstad hier sehr ausführlich und anschaulich erzählt. Aber das ist nur der Anfang.
Max und Mordecai entwickeln eine Leidenschaft für das Theater, während Max' Familie ganz allmählich zerbricht, sich die Eltern voneinander entfernen, sich vor allem der Vater zurückzieht, der aber sowieso pausenlos in der Luft und außerdem dadurch belastet ist, dass sein Bruder Ove Jahre vor ihm nach Amerika ging und vermutlich im Vietnamkrieg gefallen ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand aus der Familie, dass Ove inzwischen Owen heißt, nach dem Krieg eingebürgert wurde und ganz in der Nähe lebt.
Und dann, eines Sommers, lernen die beiden jungen Männer Mischa kennen, die junge Frau, die der Schauspielerin Shelley Duvall ähnelt, die auch auf dem Buchcover zu sehen ist - eine eigenwillige, ambitionierte Frau, deren Attraktivität sofort spürbar, aber nicht gleich sichtbar ist. Es wird der Beginn einer sehr, sehr großen Liebe sein, die sich durch das gesamte Buch zieht. Mischa ist Malerin, die mit hyperrealistischen Gemälden von Waschmaschinen ihre ersten Erfolge feiern wird. Sie ist sieben Jahre älter als Mischa und Mordecai.
"Max, Mischa und die Tet-Offensive" spielt vor allem in Nordamerika, und es fühlt sich an wie ein Roman, der den amerikanischen Erzähltraditionen im besten Sinne folgt - also in der Nähe von Upike, Roth, DeLillo und anderen angesiedelt ist, obwohl Harstad moderner und oft viel eindringlicher zu erzählen scheint, was sich auch in endlosen, in endloser Schönheit dahinmäandernden Sätzen niederschlägt. Sprachlich und bezogen auf die Bildhaftigkeit ist dieser Roman allerdings jenseits von vielem, das ich bisher gelesen habe. Er ist einfach ein Genuss von hoher Dichte und großer aromatischer Bandbreite. Er macht Lust auf Kunst und Theater und Musik, Lust auf das Leben und seine intensivere Wahrnehmung, unter Einsatz aller Nerven und der gesamten Sensorik. Aber "Max, Mischa und die Tet-Offensive" ist auch ein politisches Buch, und eigentlich ist es ein Über-Buch, ein Metaroman, eine Gussform für die gesamte Welt in der zeitgenössischen Literatur.
Man hätte die ganze Geschichte fraglos auf viel weniger Seiten erzählen können. Aber anders als bei Romanen, die zweifellos einfach zu lang geraten sind, bietet diese Geschichte zwischen ihren Höhe- und Wendepunkten eine ganze Welt an, die zu erfahren und zu erleben ist, das Universum von Max, dem Theaterregisseur, Owen, dem Pianisten, Mordecai, dem Schauspieler - und Mischa, der Malerin. Ein Universum voller Bedeutung im Kleinen und vielen Gedanken, die sich endlich mal jemand macht. Johan Harstad ist kein zu langer Roman passiert, sondern ein Bild, ein literarisches Gemälde gelungen, an dem man sich, wenn es wirklich ein Bild wäre, nie sattsehen könnte. Aber Romane sind nun einmal leider keine Bilder, sondern Kunstwerke, die der Wahrnehmung eine Chronologie aufzwingen, weshalb es am Ende nur die Entscheidung geben kann, dieses ganz wunderbare Buch schnellstmöglich noch einmal zu lesen - und nicht zum letzten Mal.