James Meek - Die einsamen Schrecken der Liebe (OT: The People's Act of Love)

  • James Meek, Die einsamen Schrecken der Liebe. Roman. 432 S. - 21,50 x 14,00 cm, geb. mit SU. Droemer, München 2005. ISBN 3-426-19710-3; Preis: Euro[De] 19,90 / Euro[At] 20,50 / sFr ?


    OA: The People's Act of Love. 400 S., geb. mit SU. Canongate Books, Edinburg 2005. ISBN 1841956627; Preis ca. 17 Euro


    Über den Autor
    James Meek wurde 1962 in London geboren und wuchs in Dundee auf. Seit 1985 arbeitet er als Journalist, die Jahre 1991 bis 1999 verbrachte er als Auslandskorrespondent in der ehemaligen Sowjetunion. James Meek lebt heute in London. »Die einsamen Schrecken der Liebe« ist sein erstes Buch in deutscher Sprache.
    (Klappentext)


    Über das Buch
    Die große Liebe zu ihrem im Ersten Weltkrieg verschollen geglaubten Mann verschlägt die schöne Anna Petrowna in den postrevolutionären Wirren in das kleine sibirische Städtchen Jasyk. Von einer mystischen Gemeinschaft bewohnt, wird der Ort kurz darauf durch die Ankunft eines geheimnisvollen Fremden in seinem Frieden bedroht. Wer ist dieser Fremde, der durch Schnee und Eis aus einem Gefangenenlager im hohen Norden bis nach Jasyk geflohen ist? Und was hat es mit seinem angeblichen Verfolger auf sich, der Unaussprechliches getan hat und nun die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt? Und welchen Zauber verübt der fremde Ankömmling auf Anna Petrowna?
    »Die einsamen Schrecken der Liebe« ist eine abgründige Liebesgeschichte in der Tradition der großen russischen Romane des 19. Jahrhunderts -- und zugleich ein Werk von fesselnder sprachlicher Modernität.

    (Klappentext)


    Meine Meinung
    Mehr als zehn Verlage veröffentlichen in einer konzertierten Aktion mit großem Werbeaufwand gegenüber den Buchhändlern nahezu gleichzeitig den ersten großen Roman eines englischen Autors, der mehrere Jahre in der ehemaligen Sowjetunion gelebt hat, dort die Frau seines Lebens fand und noch immer von der endlosen Weite Sibiriens fasziniert ist.
    Eine rätselhafte Geschichte erzählt Meek, eine Geschichte, die um die kleine kleine Stadt Jasyk kreist, einen vergessenen Ort an einer Bahnlinie durch Sibirien. Die Oktoberrevolution ist (noch) nicht bis hierher vorgedrungen, obwohl sich Weiße und Rote Armee auch hier begegnen. Das Denken der Menschen bewegt sich zwischen europäischer Aufklärung und sibirischem Schamanismus, militärischem Ehrgeiz und altorthodoxem Sektierertum.
    Neben einem Posten der Weißen Armee wird Jasyk fast ausschließlich von Angehörigen der altorthodoxen Sekte der Skopzen bewohnt, radikalen Pazifisten, die glauben, durch Kastration und Genitalverstümmelung schon im irdischen Leben zu Engeln werden zu können und die sich zum gemeinsamen Gebet wie die Sufis um die eigene Achse drehen. Die Rolle eines Gemeindevorstehers hat der ebenso charismatische wie tiefgläubige Balaschow übernommen. Vor einiger Zeit hat sich am Rande der Stadt die Russin Anna Petrowna mit ihrem kleinen Sohn niedergelassen, eine Fremde in dieser aufeinander eingeschworenen Gemeinschaft, die durch eine Beziehung mit einem Major der Weißen Armee einen gewissen Schutz genießt.
    Als ein Fremder am Rand der Stadt aufgegriffen wird, erbietet sie sich, diesen den Militärs verdächtigen bei sich unterzubringen. Sie verliebt sich in diesen Samarin, ohne zu ahnen, wem sie Aufnahme in ihre Haus gewährt hat.


    Ganz allmählich wird der Leser an die Geheimnisse herangeführt, die diese Menschen haben und die sie vielfach miteinander verknüpfen. Es geht um Glauben und Vertrauen, um Macht und Mißbrauch, um Einsamkeit und in der Tat um die Schrecken, die gewaltsam zerstörte Liebe auslöst.
    Verraten möchte ich nichts, auch nichts andeuten, da dieses Buch davon lebt, daß sich die Geschichten wie beim Pellen einer Zwiebel langsam enthüllen, bis man auf den Kern stößt, und damit auf den klassischen tragischen Gedanken, daß man manchmal genau dann, wenn man glaubt, das Richtige zu tun, sich schwer versündigt, und sich manchmal an seinen Idealen versündigen muß, um das Richtige zu tun.


    Sprachlich ein sehr schön erzähltes Buch, wobei das langsame Erzähltempo aufgrund des Stils überaus fesselnd ist. Ich habe es schlichtweg nur sehr schwer aus der Hand legen können. Nur gelegentlich habe ich das Gefühl gehabt, hier fehlt der allerletzte Schliff, was mein erstes Urteil gleich nach der ersten Lektüre eingefärbt hat. Aber dabei handelt es sich wirklich um stilistische Finessen, die man dem grundsätzlichen Problem, das sich bei Übersetzungen ergibt, anlasten kann.
    Das Buch hallt lange und sehr angenehm nach und weckt Interesse an diesem Land und seinen Menschen -- ich habe danach sofort wieder nach Dostojewskij gegriffen! :-)


    Die wunderschöne Aufmachung, angelehnt an die englische Originalausgabe (wobei ich die deutsche sogar noch gelungener finde!) tut ein Übriges: Dieses Schmuckstück sollte man sich tatsächlich als HC kaufen, es ist jeden Cent wert!


    Großes Kompliment an Droemer-Verlegerin Doris Janhsen, die unter deutschen Autoren den Ruf hat, schwierig zu sein, aber schon bei Classen ein sicheres Händchen für anspruchsvoll unterhaltende Literatur bewies (ich erinnere an Antoine Audouards Abschied von Heloise).

  • Komme gerade aus der Stadt und habe im Buchladen die ersten Seiten des Buches überflogen. Der Schreibstil gefiel mir auf Anhieb, sodass ich das gute Stück direkt mitgenommen habe.


    Viele Grüße
    Kalypso

  • Ich habe das Buch jetzt auch gelesen! Hat mir ausnehmend gut gefallen. Ich frage mich, welche Flachzange sich diesen bescheuerten Herz-Schmerz-Titel aisgedacht hat.


    Jedenfalls werde ich demnächst ernsthaft darüber nachdenken, wenn mich jemand auf eine längere Wanderung mitnimmt, ob der Betreffende auch ausreichend Essen eingepackt hat. :lache

  • Zitat

    Original von Rabarat
    Jedenfalls werde ich demnächst ernsthaft darüber nachdenken, wenn mich jemand auf eine längere Wanderung mitnimmt, ob der Betreffende auch ausreichend Essen eingepackt hat. :lache


    :yikes
    Ich ahne Schreckliches.
    Will aber lieber vorab gar nichts weiter wissen, da ich das Buch
    schließlich noch lesen will.


    :wave
    Kalypso

  • Zitat

    Original von Iris
    <Iris legt sich einen Knebel an, setzt sich auf ihre Finger und macht sich ganz schwer ...>


    Das ist in diesem Fall sehr nett von dir :grin, da ich ansonsten doch
    alles weitere zum Buch lesen würde :fetch


    :-)
    Kalypso

  • Habe das Buch jetzt durch und bin begeistert.
    Es ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite, so dass man es wahrlich nur sehr schwer aus der Hand legen kann.
    Für sanfte Gemüter halte ich diesen Roman allerdings nur bedingt geeignet, da er sich auch durch bedrückende Offenheit auszeichnet.
    Es ist ein außergewöhnliches Buch, das man nach dem Lesen sicher nicht so schnell vergessen wird. Es ist grausam, aber dennoch schön, in einer wunderbaren Sprache:


    "Einen Moment lang drängt die Freude die Erinnerungen an die Stunden vor dem tiefen Schlaf noch zurück, und diese wenigen Sekunden gehören vermutlich zu den wahrhaft raren, in denen die Welt jemals Gnade zeigt." :anbet



    Viele Grüße
    Kalypso

  • Seltsames Buch. Einerseits hat es mich gefesselt, andererseits aber auch irgendwie befremdet.


    Manchmal fand ich, dass der Autor ein paar Szenen verschenkt hat, weil er Dinge zu früh angedeutet hat, so dass der eigentliche :wow-Effekt bei mir ausblieb, wo er sonst möglich gewesen wäre.


    Ich hab gemischte Gefühle, dem Buch gegenüber. Einerseits hab ich es verschlungen, andererseits bin ich aber auch irgendwie froh, dass ich jetzt wieder etwas anderes lesen kann.

  • Ich habe gerade mit diesem Buch begonnen und bin völlig fasziniert von der Sprache und dem feinen hintergründigen ironischen Ton (zumindest auf den ersten Seiten).
    Übrigens besitze ich die TB-Ausgabe, die jetzt gerade erschienen ist:

  • Danke für die Rezi (und den Link heute an anderer Stelle hierher, das wäre mich sonst glatt entgangen).


    Zitat

    Iris
    ich habe danach sofort wieder nach Dostojewskij gegriffen!


    Ja, das war auch mein Gedanke beim Lesen der Rezension.


    Das Buch ist sofort auf die "Beschaffungsliste" ganz nach oben gewandert (dann muß ich "nur" noch die Zeit zum Lesen finden...).

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")