Leïla Slimani: Das Land der Anderen

  • Verschenktes Potential


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    Im Jahr 1944 begegnet der attraktive Marokkaner Amine im Elsass der nicht weniger beeindruckenden Mathilde, und aus den beiden wird schnell ein Paar. Der junge Mann, der als Offizier in der französischen Armee viele Kriegsgräuel erlebt hat, nimmt die Elsässerin mit in die Gegend von Meknès, wo er Anspruch auf ein Gut hat, das er landwirtschaftlich nutzen will. Mathilde ist dazu ebenfalls bereit, aber ihr ist nicht wirklich klar, was auf sie zukommen wird. Amine allerdings ebenso wenig. Für die beiden beginnt ein großes Abenteuer, wenn man so will.


    Leïla Slimani erzählt in diesem knapp 400 Seiten starken Buch, das offenbar der erste Teil einer Reihe sein soll, die Geschichte ihrer eigenen Großeltern nach. Sie erzählt von den Schwierigkeiten, dem kargen, steinigen Land ein paar Früchte abzutrotzen, sie erzählt von Rollenbildern und Traditionen, vom Protektoratsdasein Marokkos, von Kolonialismus und der Rolle der französischen Gutsbesitzer, vom erstarkenden Nationalismus, von Frauenrechten, von Familie, Kindererziehung, von Liebe und Lust und Gewalt, von Homosexualität und vielen anderen Themen. Dafür fährt sie ein an Unübersichtlichkeit grenzendes Personal auf, wobei die Autorin auch noch zwischen den Figuren hin- und herspringt und die Perspektiven manchmal innerhalb eines Satzes wechselt. Nicht immer wird klar, warum eine bestimmte Person den Staffelstab übernommen hat, und nicht selten bleibt dieses Gefühl bis zum Ende einer Episode erhalten.


    Das hätte wirklich spannend werden können, ein Roman über eine, wie man sagte, „gemischte“ Ehe, die in einer sich stark wandelnden Gesellschaft mit Tradition und Nationalismus konfrontiert wird, mit falschen Erwartungen und platzenden Träumen, mit wirtschaftlichen und emotionalen Problemen, vor allem aber mit dem (titelgebenden) Gefühl, sich in einer Welt zu befinden, in die man nicht gehört, was letztlich für beide gilt, für Mathilde wie für Amine. Aber Leïla Slimani lässt sich auf keine ihrer Figuren wirklich ein, wodurch die an Szenen zwar reiche, an Dramaturgie jedoch eher arme Erzählung distanziert bleibt, hölzern und oft recht willkürlich. Mehrfach wechselt die Richtung, manchmal werden große Zeiträume übersprungen, und Entwicklungen in Behauptungen zusammengefasst, Episoden enden abrupt, Handlungsstränge scheinen zu versanden, vieles, das hilfreich als Erklärung gewesen wäre, wird einfach weggelassen. Gut möglich, dass einiges davon in den Folgeromanen aufgelöst, erläutert und zusammengeführt wird, aber leider ohne mich. Denn es ist vor allem der zähe, ermüdende Erzählstil von Slimani, der das Lesevergnügen nachhaltig trübt, der aus der explosiven Situation in einer wahrlich explosiven Zeit etwas so Langweiliges macht, dass alles Interesse versiegt. Schade.


    Die Autorin gehört in Frankreich zu den literarischen Stars, sie hat im Jahr 2016 den Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres gewonnen, und „Das Land der Anderen“, der in Frankreich ein veritabler Bestseller war, ist bereits ihr sechster oder siebter Roman. Möglicherweise liegt es an der autobiografischen Ebene, dass dieses Buch so lahm und sperrig auf mich wirkt. Oder an mir selbst.


    ASIN/ISBN: 3630876463

  • :gruebel Könnte es an der Übersetzung liegen? Vielleicht liest es sich in französisch und für die geschichtsbewussten Franzosen besser.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Könnte es an der Übersetzung liegen?

    Teilweise. Aber die vielen Perspektivwechsel, die eigenartige Dramaturgie und die sperrige, abgehackte, hölzerne Erzählweise dürften aufs Konto der Autorin gehen.


    Für viele französische Leser mag der Zugang zur Thematik ein anderer sein, aber mir sind kulturelle, historische oder andere Hintergründe nicht so wichtig, solange eine Geschichte gut erzählt ist. Das ist hier aber nach meinem Dafürhalten nicht der Fall.

  • Dann ist das wirklich schade. Eine gut erzählte Geschichte könnte gerade mit solch realem Bezug einiges zur Völkerverständigung beitragen.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Eine gut erzählte Geschichte könnte gerade mit solch realem Bezug einiges zur Völkerverständigung beitragen.

    Ich bin der Meinung, dass "Völkerverständigung", was auch immer das ganz genau ist, eigentlich anders funktionieren sollte (mir ist "Menschenverständigung" wichtiger, und ich halte "Völker" für konzeptionell überbewertet, eigentlich sogar für Auslaufmodelle), aber, ja, natürlich helfen Romane dabei, andere Situationen und Lebensweisen und Paradigmen u.v.a.m. zu verstehen, allerdings sollte man nicht zu viel Hoffnung in diesen Ansatz investieren.

    Und es ist auch nicht so, dass Leïla Slimani für irgendwas wirbt, beispielsweise für Verständnis für die Marokkaner oder die Franzosen oder die französischen Marokkaner oder die marokkanischen Franzosen. Sie zeigt, und das gelingt ihr bisweilen ganz gut, eben jene, die nicht (mehr) zu ihren "Völkern" gehören, weil es andere Dinge gibt, die ihnen wichtiger als das sind, etwa Liebe, die Verwirklichung eines eigenen Lebenstraums, Freiheit usw. Das ist genau genommen das Gegenteil von "Völkerverständigung", bei der es nach meinem Verständnis des Begriffs darum geht, Leuten manchmal ganz schön eigenartige Verhaltensweisen sozusagen qua Abstammung abzukaufen oder durchgehen zu lassen. Ich bin eher ein Freund davon, dass jeder Mensch auf dem Planeten bisweilen darüber nachdenkt, ob seine Traditionen und herkunftsverursachten Verhaltensweisen und sozialisierten Lebensstrukturen noch angebracht sind und ob sich die Welt nicht vielmehr in einer Weise geändert hat, die zumindest einen etwas kritischeren Umgang mit diesem Hintergrund gebietet. "Das Land der Anderen" zeigt Mathilde und Amine in einer Situation, in der sich das Land vom Protektorat zum unabhängigen Königreich "emanzipiert", aber beides ist für sie als Menschen nicht wirklich hilfreich. Es bleibt ein Land der anderen. Und das sind viele Länder für viele Menschen. Möglicherweise, weil die anderen sich als "Völker" begreifen.

  • Ich meinte es schon so im weiteren Menschenverständnis - wobei ich nicht außer Acht lassen möchte, dass sich die meisten Menschen schon gern in ihrer zugehörigen Gruppe einrichten und ihre eigene Lebensweise den Gegebenheiten anpassen. Kleine Freiheiten gehören zur Individualität dazu. Bei größeren gerät man leicht ins Abseits oder muss seine Energie darauf verwenden, gegen den Strom zu schwimmen :schwimmen

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • In der Reihe "Am Morgen vorgelesen" hatt ich das stark gekürzte Hörbuch zum Roman begonnen und habe es dann relativ schnell abgebrochen. Leila Slimani erzählt eine Liebesgeschichte vor geschichtsträchtiger Kulisse, wobei die Autorin noch größeren Bedacht auf eine Inszenierung als auf das eigentliche Erzählen legt. Die Figuren blieben mir weitestgehend fremd, die Sprünge in den Ebenen nicht nachvollziehbar (was ich der Kürzung des Hörbuchs zuschrieb) und Leila Slimanis Sprache erweckte in mir den Eindruck, dass sie selbst hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt.

    Die zugrundeliegende Idee hat mir prinzipiell gefallen und ich halte sie für einen zeitgenössischen Romanstoff mehr als tauglich, allein die mangelnde erzählerische Stärke hat mich am Ende dazu veranlasst, das Hörbuch abzubrechen. Schade, dass hätte mit mir und der Geschichte durchaus etwas werden können.