Julian Barnes, Elizabeth Finch

  • ASIN/ISBN: B09YCLQQQK


    Klappentext:


    Der neue Roman Julian Barnes' über eine platonische Liebe und den Tod einer besonderen Frau, der zum Anlass für die tiefere Auseinandersetzung eines Mannes mit Liebe, Freundschaft und Biografie wird.


    Neil, gescheiterter Schauspieler, Vater und Ehemann, besucht an der Abenduni eine Vorlesung zur Kultur und Zivilisation und ist fasziniert von der stoischen und anspruchsvollen Professorin Elizabeth Finch. Er hat zwar Affären und Liebeleien, doch prägt das Ringen um ihre Anerkennung sein Leben. Auch nach Beendigung des Studiums bleiben die beiden in Kontakt. Als sie stirbt, erbt Neil ihre Bibliothek und Aufzeichnungen - und stürzt sich in ein Studium Julian Apostatas, der für Elizabeth Finch ein Schlüssel zur Bedeutung von Geschichte an sich war: Der römische Kaiser wollte im 4. Jahrhundert das Christentum rückgängig machen. Wer war Julian Apostata? Und was wäre passiert, wenn er nicht so jung gestorben wäre? Der Schlüssel zur Gegenwart liegt nicht selten in der Verhangenheit, das zeigt dieser kenntnisreiche Roman auf unnachahmliche Weise.

    Das Buch ist eine intelligente Hommage an die Philosophie, ein Ausflug in die Geschichte, eine Einladung, selbst zu denken.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Ich-Erzähler Neil besucht im Abendkurs ein historisches Seminar. Neil ist kein strahlender Held. Er ist als Schauspieler gescheitert, seine beiden Ehen gingen in die Brüche, und seine Kinder bezeichnen ihn mit gutem Grund als „König der unvollendeten Projekte“. Aber die Kursleiterin Elizabeth Finch ist für ihn die ideale Lehrerin. Ihre Methoden und vor allem ihr Wesen fangen Neil ein. EF, wie sie bald genannt wird, ist völlig uneitel, spricht immer frei mit ruhiger und klarer Stimme, hat ihren Vortrag ausgearbeitet im Kopf und strahlt eine Autorität aus, der sich die Studenten nicht entziehen können. Ihre Methode ist die Mäeutik, in bester sokratischer Tradition: sie konfrontiert ihre Studenten mit einem Zitat, z. B. des Stoikers Epiktet, und regt zum Selber-Denken an. „Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu helfen. ... Ich bin hier, um Ihnen zur Seite zu stehen, wenn Sie sich im Denken und Argumentieren üben und eine eigene Meinung entwickeln.“ (Pos. 185). Sapere aude! Neil ist fasziniert von dieser intelligenten und souveränen Frau und bleibt ihr ihr Leben lang und auch nach ihrem Tod verbunden. Die Frage treibt ihn um, wer Elizabeth Finch denn nun eigentlich gewesen sei.


    Nach ihrem Tod erbt er ihre Unterlagen und versucht hier, Persönliches zu finden – vergeblich. Stattdessen findet er jede Menge Sentenzen und Aphorismen, aber auch Notizen zu einer historischen Gestalt und zu einem Wendepunkt der Geschichte, zu dem EF offensichtlich eine Veröffentlichung plante. Neil beschließt, EFs Arbeit fortzusetzen und den Essay zu schreiben, den sie nicht mehr schreiben konnte. Es geht um den spätrömischen Kaiser Flavius Claudius Julianus des 4. Jahrhunderts n. Chr., den letzten der Claudischen Kaiser, dessen Onkel Konstantin der Große das Christentum neben den bisherigen paganen Religionen zugelassen hatte (Konstantinische Wende). Julian versuchte vergeblich, die Bedeutung des Christentums, das er als Religion des Leidens sah, zurückzudrängen und den fröhlicheren und weltzugewandteren paganen Religionen wieder Bedeutung zukommen zu lassen. Weshalb ihn dann die christlich orientierte Geschichtsschreibung des Mittelalters als „Apostata“, als Ketzer, verunglimpfte, und als Julian Apostata ging er auch in die Geschichte ein.


    Barnes lässt seinen Protagonisten der faszinierenden Lebensgeschichte dieses letzten heidnischen Kaisers nachspüren, und der Leser erfährt von Julians Liebe zur Philosophie, seiner religiösen Toleranz, seinen unmäßigen Opferschlachtungen, seinen Feldzügen etc. und seiner Auffassung, dass Menschen mit Vernunft und nicht mit Gewalt zu überzeugen seien. Die Todessehnsucht der Christen lehnt er ab, das ist nicht seins, schnell das irdische Jammertal zu verlassen, um in die ewigen Freuden des Himmels zu gelangen! Daher schiebt er dem Märtyrer-Tod einen Riegel vor: niemand wird wegen seiner Religion hingerichtet, sondern er nötigt die Christen, den „langsamen, verschlungenen steinigen Pfad des irdischen Lebens zu gehen“ (Pos. 1258). Eine interessante Biografie!


    Neil nimmt auch die Wirkungsgeschichte des Julian Apostata in den Blick, ausgehend von dem Gedicht Swinburnes „Hymne an Proserpina“, in dem der tödlich verletzte Kaiser seine Niederlage gegenüber dem Christentum eingesteht: Du hast gesiegt, o bleicher Galiläer; die Welt ist grau geworden von deinem Atem. Montaigne, Voltaire, Milton, Ibsen, James Joyce, sogar Hitler, der zeitgenössische Autor Butor u. a. befassen sich mit diesem Kaiser und diesem historischen Wendepunkt.


    Der Leser wird nun, so wie EF es getan hätte, auch zum Nachdenken angeregt: Was wäre gewesen, wenn nicht der „bleiche Galiläer, sondern das „Heidentum“ gesiegt hätte? Führt ein Weg von diesem Wendepunkt „zu der Gefühlskälte und dem päpstlichen Autoritarismus des christlichen Europa – zum freudlosen schuldbeladenen Protestantismus wie zum korrupten schuldbeladenen Katholizismus“ (Pos. 2278)?


    Das Buch ist ein anregender Ausflug in die Philosophie, in die Geschichte und ihre möglichen Alternativen, auch in die Fragen des Umgangs mit unsicheren historischen Fakten. Das Lesen wird zum Vergnügen durch die Ironie und die Respektlosigkeit, mit der Barnes auch „heilige“ Stoffe wie den Märtyrertod betrachtet.


    Barnes hat, wie gewohnt, hervorragend recherchiert. Allerdings leiden darunter seine Personen, die man sich gerne lebendiger gewünscht hätte.

  • Ich habe das Buch gemocht.

    Für mich war der Erzähler Neil die wichtiger Person als Elizabeth Finch.

    EF wirkte auf ihn, er bewunderte sie. Sie ist schließlich eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Nach ihrem Tod recherchiert er mit den Notizbüchern über sie, lernt den Bruder gut kennen.

    Der Mittelteil ging, ehrlich gesagt, mehr oder weniger an mir vorbei.

    Dennoch würde ich das Buch als gelungen einstufen.

  • ob es da wohl zu einem Verständnisfehler gekommen ist und es nur 11 waren

    :)

    Ohne Dich spoilern zu wollen: natürlich waren es keine 11.000 Jungfrauen, die da von England nach Rom und retour nach Köln gereist sind. Und dort von den Hunnen schön der Reihe nach geköpft wurden.

    Die Sache verhält sich viel einfacher, aber die Katholiken halten an den 11000 Jungfrauen fest.


    Na ja. Es muss auch beharrende Kräfte geben :).

  • :)

    Ohne Dich spoilern zu wollen: natürlich waren es keine 11.000 Jungfrauen, die da von England nach Rom und retour nach Köln gereist sind. Und dort von den Hunnen schön der Reihe nach geköpft wurden.

    Die Sache verhält sich viel einfacher, aber die Katholiken halten an den 11000 Jungfrauen fest.


    Na ja. Es muss auch beharrende Kräfte geben :).

    Zumal man in der Kölner Kirche St. Ursula in der "Goldenen Kammer" noch die Reliquien der 11 000 Jungfrauen besichtigen kann. Die Wände und Decke des großen Raumes sind völlig von zierlichen Schädel- und anderen Knochen bedeckt, in sinniger Spruchform angeornet, oder mit Goldbrokat umgeben.

    Über Jahrhunderte hielt sich diese Legende und spülte viel Geld von Pilgern in die reichsstädtischen, wie auch kirchlichen Kassen. Im 19. Jahrhundert setzte sich die ernüchternd Erkenntnis durch, daß die Knochen wohl vom mittelalterlichen Gemeindefriedhof St. Ursula stammen, der um die Kirche herum lag. Die Menschen erschienen damals nun einmal zierlicher.

    Eigentlich ja schade! ;)


    Mir gefällt das Buch ausgesprochen gut bislang, zumal die Figur des Julian II., der nur drei Jahre regierte und glücklos die Perser bekämpfte, mir schon öfter über den Weg lief. Und eine solche machtvolle und beeindruckende Lehrerinnenfigur, wie EF, hatte ich tatsächlich auch selbst. In gewisser Weise ein deja - vu - Erlebnis.:)

  • Diese Sache mit den Gebeinen der Märtyerer (oder eben nicht) und Heiligen hat mich schon als Kind zutiefst verstört.

    Meine Familie ist nicht weit gereist. Mainz und Regensburg waren die beiden Pole, zwischen denen ich mich bei Verwandtenbesuchen bewegt habe. Welche Knochen es da nun tatsächlich gab, weiß ich nicht mehr, aber die Behauptung, die Verehrung dieser Knochen würde eine wie immer geartete himmlische Fürsprache bewirken mochte ich schon da nicht glauben.

    Und ich war ein leichtgläubiges Kind.

    Noch gruseliger finde ich noch heute, wenn in diversen Kirchen gold-und juwelengefasste Schädel von wem auch immer ausgestellt werden und die Kinder genötigt werden, davor kniend zu beten.


    Lupus sobald ich Elizabeth Finch gelesen habe, kann ich entscheiden, ob ich mich mit dem Thema weiter befassen möchte. :)

  • Im 19. Jahrhundert setzte sich die ernüchternd Erkenntnis durch, daß die Knochen wohl vom mittelalterlichen Gemeindefriedhof St. Ursula stammen, der um die Kirche herum lag.

    Lag der Ort der Knochenfunde nicht außerhalb der damaligen Stadt? Und entsprach damit der Lage der römischen Friedhöfe? Barnes - wenn ich mich da richtig erinnere - spricht von einem römischen Friedhof.

    Du kommst noch zu der Stelle.


    Wer die Sache um Julian II. noch etwas vertiefen möchte,

    Ich habe gehofft, dass Du einen Hinweis gibst, vielen Dank!

    Diese Sache mit den Gebeinen der Märtyerer (oder eben nicht)

    Eher nicht :), die katholische Kirche hat laut Barnes fleißig Märtyrer erfunden.

    Von einem unserer Söhne habe ich mich gestern belehren lassen, dass eine Reliquie nicht nur ein Knochen etc. ist, sondern auch ein Gegenstand, den der Heilige berührt hat.

    In einem Nachbardorf haben wir nämlich aktuell einen Reliquientaumel um irgendetwas von der Heiligen Anna Schäffer, so ähnlich wie der Tanz ums Goldene Kalb im Alten Testament. Manchmal verschlägt es sogar mir die Sprache.

    Anna Schäffer – Wikipedia

    Märtyrer: wirklich ein interessantes Thema.

  • Lag der Ort der Knochenfunde nicht außerhalb der damaligen Stadt? Und entsprach damit der Lage der römischen Friedhöfe? Barnes - wenn ich mich da richtig erinnere - spricht von einem römischen Friedhof.

    Du hast mich daran erinnert, dracoma ,mich exakt auszudrücken. Denn Du hast Recht, die Kirche St. Ursula hatte einen hufeisenförmigen Vorgängerbau mit ungeklärter Funktion. Sicher ist, unter der heutigen Kirche befand sich ein römisches Gräberfeld, das sich zu römischer Zeit durchaus noch außerhalb der Kernsiedlung befand. Es ist aber der gleiche Ort.

    Um den ersten Bau der Kirche herum wurde ab dem 9/10. Jhdt. begraben, also im frühen Hochmittelalter.

    Man kann davon ausgehen, die sich in der Kirche befindlichen Reliquien entstammen beiden Gräberfeldern. Nur eine C14 Bestimmung der Gebeine könnte da wohl im Einzelnen weiterhelfen.

    So zumindest mein Stand, dabei ist es gar nicht weit von mir, ich habe mir ohnehin für nächstes Jahr vorgenommen, alle romanischen Kirchen der Stadt mal wieder heimzusuchen.:)

  • unter der heutigen Kirche befand sich ein römisches Gräberfeld, das sich zu römischer Zeit durchaus noch außerhalb der Kernsiedlung befand. Es ist aber der gleiche Ort.

    Ah gut, danke fürs Erläutern, jetzt hat sich das bei mir geklärt. Die Ordnung im Kopf ist wieder hergestellt!


    in zahllose Kirchlein und Kapellen der niederbayrischen Provinz.

    ... was ja an sich kein Fehler ist, wenn man es mal unter dem kunsthistorischen Aspekt betrachtet :)!


    Vielleicht gefällt Dir Barnes bissige und respektlose Art zu dem Thema!:heiigenschein

  • Glück ist nichts weiter, als das richtige Verständnis des Lebens, wie es die Stoiker sagen. Das ist nun mal die Art von Glück, die Figuren wie EF zu geben vermögen, so man sie denn lässt. Die Liebe der Kyniker zu einer Welt, die die langsam tötet, nicht nur theoretisch. Die monogame, monotheistische, monologe Welt. Und da hilft auch Epikur nicht und Epiktet, da wird man zur Eremitin in der Masse, zur Ursula aus Britannien, wieder besseres Wissen ausziehend auf eine zerstörerische Reise, ein Häuflein Getreue, nein, keine elftausend, vielleicht nicht mal elf.

    Aber es ist keine traurige Reise, munter plätschern die Literaturwellen ans Boot, die Montaigne, Woodhouse, Ibsen, Goethe und ...und..., es ist eine wahre Lustreise durch die Geistesverwandtschaften des Abendlands, zum Sterben schön.

    Ob EF eine reale Person ist, ob man sie fassen kann?

    Wer in aller Welt will das wissen?

    EF ist unser Wissen und Gewissen, unser Leben und Lernen, das da währet vielleicht siebenzig Jahr und wenn wir Glück haben, dann war es eben nicht nur Arbeit und Mühsal.

    EF und Julian, Reinkarnationen des Polyglotten, der Vielfalt, der

    Apostasie, mit Schildpattbrille und Zigarettenetui, Tweedkostüm, voller Märtyrergeschichten, Wundertaten und dann wieder bei den Stoikern, voller Gleichnisse, historischer Fakten und herrlicher Geschichten.

    Vor Träumen sollte man sich hüten, sagt EF. Die sollte man leben, wie Julian, der den Euphrat überschritt und nach Assyrien ging, oder man sollte sie schnell wieder vergessen.

    Ich habe sie genossen, die Elizabeth Finch, die Lichtbringerin, genauso wie Julian, den Apostaten, was für eine schöne Geschichte und mir bleibt vor allem dieser Satz:

    "Ihr Metier waren nicht die Wahrheiten früherer Generationen, sondern früherer Epochen, Wahrheiten, die sie am Leben hielt, die andere jedoch hinter sich gelassen hatten."

    ASIN/ISBN: B09YCLQQQK

  • Wer über die Legende der heiligen Ursula mehr erfahren möchte, für den habe ich noch eine Studienarbeit im Fach Legendengeschichte der FU Berlin von 2003 ausgegraben.

    Die wissenschaftliche Facharbeit umfasst den Zeitraum von der ersten Erwähnung im 4/5. Jahrhundert bis zum 10. Jahrhundert. Dabei werden Versuche zur Beweisführung nach den umfangreichen Grabungen im 12. Jahrhundert geprüft.

    Die umfangreichste Grabung wurde in den Kriegsjahren 1942/43 vorgenommen.

    Archäologische Evidenz wird mit der Legende abgeglichen.

    Liest sich sehr interessant und flüssig !🙂

    ASIN/ISBN: B007NQML6K