Insel 34 – Annette Pehnt

  • Das Buch mit diesem seltsamen Titel ist der zweite Roman von Annette Pehnt und sein Inhalt mutet ebenso seltsam an wie der Titel.


    Wir begegnen einer namenlosen Ich-Erzählerin in ihrer Kindheit. Sie ist ein eher stilles Kind, zum Beobachten geneigt. Da ist nichts besonderes an ihrer Umwelt, nicht die Nachbarn, nicht die Schulfreunde, nicht der Alltag, alles ist normal, banal. Sie steht ein wenig außerhalb, da sie begabt ist, allerdings für alles, was sie anfaßt, gleichermaßen. Auch hier also im Grunde Banalität und Gleichmaß. Ein Ziel fehlt, etwas Bestimmtes, Besonderes. Das meinen vor allem die Eltern, schließlich soll man auffallen, einzigartig sein. Sich unterscheiden. Sie machen ihr Angebote, reisen, fördern Hobbies, sehen in jeder Regung einen ersten Ansatz zum gewünschten Anderssein. So fühlt sich die Erzählerin ständig beobachtet und belauert. Ihre Verzweiflung wächst.
    Um dem Druck zu entgehen, beginnt sie, sich mit Inseln zu beschäftigen, einfach so, ohne eine besondere Neigung zu Inseln zu haben, nur um eine Beschäftigung vorweisen zu können. Zuerst sammelt sie Informationen ganz allgemein über alle Inseln der Welt, dann aber konzentriert sie sich mehr und mehr auf die Inseln vor der namenlosen Küste, in deren Nähe sie lebt. Schließlich widmet sie sich nur einer einzigen, der gänzlich unbekannten Insel 34, der letzten und äußersten der Inselgruppe. Das Wunder geschieht: kaum widmet sie sich endlich einem einzigen Gegenstand, läßt die Aufmerksamkeit der anderen nach.


    Leute mit Leidenschaften hält man sich auf die Dauer lieber vom Hals
    Dieser Satz fällt sehr früh und hier setzt auch die Wende ein in dieser eigenartigen Geschichte: eine Leidenschaft zu wählen ist legitim, sie zu verfolgen schließt aber zugleich aus, es macht einsam auf Dauer. Einsam selbst unter Gleichgesinnten. Die Erzählerin hat es ‚erwischt’, sie ist süchtig geworden nach dem Einen, nach dieser Insel, nach der Leidenschaft. Die Insel wird zum Lebenssinn, zum Sehnsuchtssort. Ihn zu erreichen wird das einzige Ziel. Am Ende macht sich die Erzählerin dann auch auf den Weg zur Insel 34.


    Dieser kleine Roman ist nur der äußeren Form nach eine ‚Geschichte’ und ein ‚Entwicklungsroman’ eines jungen Mädchens. Alles entwickelt sich schrittweise und logisch, jedes Kapitel ist zudem mit einem Motto überschrieben, das den Grundton für die nachfolgende Entwicklung gibt.
    Tatsächlich aber handelt es sich um eine sehr intelligente Diskussion des Themas ‚Leidenschaft’, Passion, wie man früher gesagt hätte. Um den Teil ‚Sucht’ im Wort Sehnsucht. Hinter der Erzählung verbirgt sich eine bewundernswert aufgebaute Argumentationskette. Die Geschichte dient der Illustration. Die verwendete Sprache ist ebenso kunstvoll eingesetzt. Auf den ersten Blick lesen wir eine schlichte Beschreibung, in einfachen Sätzen. Doch die Sätze wirken zusammen und entwickeln sehr schnell böse Widerhaken.


    Die Entwicklung der Hauptperson und die Reaktionen der Umwelt sind ausgezeichnet beobachtet und nicht selten scharf kommentiert. Es ist streckenweise eine unangenehme Lektüre, weil die Autorin so tiefe Einblicke bietet und zwar schonungslos und unbarmherzig. Zugleich sind Situationen und auftretende Charaktere ungemein liebevoll gezeichnet. Es gibt Verrücktheiten, die einen beim Lesen laut auflachen lassen, nur um einen im nächsten Moment, beim nächsten Satz schon heftig zu erschrecken, wenn einem aufgeht, wie grausam, ja was ist? Menschen? Das Leben? Es ist ein stilles Buch und doch rasante Lektüre.
    Eltern-Kind-Beziehungen werden angesprochen, Freundschaften unter Gleichaltrigen, die Konsumgesellschaft und ihre Folgen, Wissen und Wissenschaft, Alt und Jung, die Bedeutung von Erfahrungen, von Tradition und Neuem, von Liebe.


    Es ist eine Art Märchen, und doch wahr, eine Fabel, in der die auftretenden Personen aber keineswegs maskiert sind und nicht überlebensgroß, sondern erschreckend lebensgroß. Ob die Erzählerin ihre Insel erreicht, erfahren wir nicht und auch das ist richtig. Die Diskussion über Passion kann man nicht abschließen.
    Sehnsucht ist zum ewigen Sehnen da, Leidenschaft enthält unabänderlich einen Anteil ‚Leid’. Und mit der Hauptfigur ist im Grund jede und jeder von uns gemeint.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ach, Magali, wie schön, daß Du das mal hier vorstellst! :-]


    Ich kopiere mal meinen Beitrag dazu in Deinem "Jakobi"-Thread (oder darf man das nicht? Bin zu faul um das neu zu schreiben):


    Zitat

    Ich habe die "Insel 34" auch vor ein paar Jahren gelesen, und was das Ende betrifft, fand ich es auch irgendwie unbefriedigend.
    Die Sprache von Pehnt hat mich sehr fasziniert. Das Hauptthema, der junge Mensch auf der Suche, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, wird durch sehr eigenwillige Bilder untermalt, und so führt uns die Autorin von Insel zu Insel, die Inselbwohner werden immer skuriller, die Episoden absurder, und der Höhepunkt verpufft irgendwo im Nirgendwo.
    Mich reizen Geschichten, die am Meer oder auf Inseln spielen im allgemeinen sehr, und von dieser habe ich es trotz des etwas enttäuschenden Ausgang doch sehr genossen.


    Zufällig habe ich gestern im 2006er Spiegel Special geblättert und bin dem neuen Buch der Pehnt begegnet.
    "Das Haus der Schildkröten", das in einem Altersheim spielt.
    Ist gleich auf meiner Wunschliste mit Priority-Zeichen gelandet.


    LG
    Wilma :wave

  • Hi, Wilma,


    Haus der Schildkröten hat Ines hier besprochen.


    Ich habe mir gerade Pehnts Erstling: Ich muß los, oben auf den SUB gelegt.


    Freut mich, daß Dir Insel 34 auch gefallen hat. Das war entschieden mein Buch.


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Die Insel 34 hatte ich auch schon ein paar Mal in den Händen... verblieb aber unentschlossen. Mal sehen, wie das beim nächsten Mal sein wird ;-).


    Danke für die Rezi - wirklich klasse!

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Magali, Du bist ne Wucht. :knuddel1
    Vielen Dank für die ausführliche Rezi, die ich jedoch erst lesen werde, nachdem ich meine Insel 34 gelesen habe. Was hoffentlich in den nächsten 2 Wochen stattfinden wird.

  • Annette Pehnts zweiter Roman kann den Vergleichen zu Kafka und Saint-Exupéry nicht gut ausweichen. Die Bezüge sind einfach zu klar, wenn auch nicht die Rede davon sein kann, es handele sich bei „Insel 34“ um einen lauen Aufguss der Literaturgeschichte. Mit dem „Petit Prince“ verbindet Pehnts Buch das Motiv des Inselhoppings, das bei Saint-Exupéry bekanntlich ein „Planetenhopping“ ist. Wie der kleine Prinz, so begegnet auch die Ich-Erzählerin auf ihrem Weg eigenartigen Gestalten, mit denen sie in Dialog tritt. Wie bei Kafka ist dieser Dialog allerdings höchst unbefriedigend und zermürbend für die junge Sprachwissenschaftlerin.


    Im ersten Teil ihres Romans, in dem die Ich-Erzählerin erst eine Leidenschaft für die vor der Küste ihres nicht näher benannten Heimatlandes liegenden Inseln entwickelt, wird nicht ohne Reiz diese Geschichte der erwachenden Leidenschaft ins Zentrum gestellt: Aus einem überall gleichermaßen hochbegabten Mädchen wird mit der Zeit und mit der Pubertät eine etwas dickliche junge Frau, deren einziges Interesse sich auf die namenlosen Inseln bezieht, die sie in der zweiten Hälfte des Buches schließlich auch bereist, wenn sie auch nur auf drei von ihnen einen Fuß setzt, nämlich auf die Nummern 28, 32 und 33. Während auf „Achtundzwanzig“ noch eine sehr abweisende Dorfgemeinschaft wohnt und die junge Frau nur von den zugereisten reichen Damen wirklich gern gesehen ist, die ihr im Gegenzug für eine Auflockerung ihres uninteressanten Alltags ein Forschungsstipendium gewähren, scheint es auf den nächsten Inseln schon gar keine Einheimischen mehr zu geben. Auf 32 findet eine archäologische Grabung an einem mysteriösen Weg statt, der quer über die Insel und schließlich ins Meer zu führen scheint, auf 33 lebt nur noch ein einziger Mensch, der die die gesamte Insel bedeckende Mülldeponie leitet. An ihr eigentliches Ziel, die letzte und 34. Insel, gelangt die Ich-Erzählerin hingegen nicht, sie kann sie nicht einmal aus der Ferne betrachten, da sie sich hinter einem undurchdringlichen Nebelschleier befindet.


    Anders als Kafkas „Schloss“, sind die Inseln allerdings keine Machtzentren, auf denen unvorhersehbare, aber wirkungsvolle Entscheidungen getroffen werden. Vielmehr erscheinen die Inseln völlig uninteressant. Sie bilden ein Biotop für ihre Bewohner, das auch nur für diese und im Zusammenhang mit deren Leben eine Bedeutung zu entfalten scheint. Eine Forscherin von außen kann auf ihnen ebenso wenig finden wie die Tätigkeiten der Inselbewohner irgendeine Relevanz für Außenstehende entwickeln. Die Inseln wirken nicht bedrohlich, sondern eher hermetisch. Ihr anfänglich geheimnisvoller Charakter entzaubert sich mit der Zeit, es gibt auf ihnen und auch im sie umgebenden Meer nichts, dessen Erforschung sich lohnen würde, so dass am Ende, als sich durch die Gezeiten die Möglichkeit zu ergeben scheint, einfach durchs Watt nach 34 zu gehen, die Ich-Erzählerin sich gegen diese Möglichkeit entscheidet.


    Unabschließbarkeit von Sehnsucht, keine Leidenschaft ohne Leid? Ich würde vielleicht noch ein bisschen drastischer formulieren und sagen: Wonach man sich sehnt ist nur aus der Ferne transparent, verliert aber seine Konturen, je näher man kommt. Schreibe ich da gerade einen Gemeinplatz hin?

  • Danke, v.a. @ Magali und Bartlebooth für diese wunderbaren Gedanken zum Buch!
    Es ist gar nicht einfach, Inhalt und Interpretationsansätze auf einen Punkt zu bringen, so vielschichtig ist dieses Buch.


    Es ist eine sehr eigene, nach außen hin sehr unspektakuläre Geschichte, die aber trotzdem nie langweilig wird. Auf knapp 190 Seiten erfährt der Leser von dieser stetig wachsenden Leidenschaft für diese namenlose Insel, verspürt die Sehnsucht des Mädchens, die allmählich zur Sucht wird und wird sein Begleiter auf dem Weg zum großen Ziel.


    Das Ende finde ich eigentlich recht passend, unter dem Motto "Der Weg ist das Ziel" kann ich mich damit anfreunden.


    Ein sehr eigenwilliges Buch, das ich jedem Leser, der ruhige, unspektakuläre und nachdenklich machende Bücher mag, ans Herz legen kann!


    Für mich war es das erste Buch der Autorin, aber v.a. Das Haus der Schildkröten von Annette Pehnt habe ich schon näher ins Auge gefasst!

  • Anne Peht`s Schreibstil gefällt mir überhaupt nicht. Alles so künstlich und ohne Pep, Protagonisten sind arme Würstchen. (Dachte ich !)
    Ich habe erst ein Buch von ihr gelesen und kann sicherlich nicht mitreden. Nach Euren positiven Kritiken, versuche ich es vielleich doch noch mal.
    Danke
    Klara

  • Zu Anne Peht's Stil kann ich leider nichts sagen, ich habe noch nie ein Buch von ihr gelesen.


    Es muß einem nicht jedes Buch gefallen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Anne Peht kenne ich auch nicht, aber von Annette Pehnt habe ich war bislang nur "Insel34" gelesen, aber ihre Erzählweise sagt mir recht zu, ich mag nüchterne, wortkarge Bücher.
    Und ihre Helden sind sozusagen "Anti-Helden", Einzelgänger, Sonderlinge.


    Aber es ist wohl Geschmacksache!

  • Vor einiger Zeit hat dieses schmale Büchlein als Schnäppchen zu mir gefunden und heute nun habe ich mich endlich auf den literarischen Weg zur Insel 34 gemacht.


    Ein eigenwilliges Buch ist das: Die Schreibweise ist es, die Protagonisten sind es, die Handlung ist es und die Inseln sind es ebenfalls. Ein kleiner Roman, leicht zu lesen und dennoch sperrig. Dennoch interessant und sehr kurzweilig zu lesen. Ein Buch, das einen Nachdenken läßt. Darüber, was die Autorin damit sagen will. Warum die Figuren so agieren.


    Ein kleines Buch nur - mit mehr Inhalt, als man aufgrund der geringen Seitenzahl vermuten möchte. Ob ich noch ein zweites Buch der Autorin lesen möchte? Ich weiß es nicht. Eigentlich mag ich solch kryptische Wortmalereien nicht auf Dauer. Ich denke, die Insel 34 wird bei mir eine einmalige Angelegenheit zwischen Annette Pehnt und mir bleiben - auch wenn mir das Buch gut gefallen hat.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Insel 34 hat mir damals außerordentlich gefallen. Im Gegensatz zu Batcat mochte ich die "kryptischen Wortmalereien" unheimlich gern.
    Momentan versuche ich mich an Mobbing, komme aber nicht so richtig rein ... :-(

  • Nachdem Insel 34 schon lange auf meinem SUB lag, habe ich es am Wochenende schnell durchgelesen.


    Die Sprache von Annette Pehnt hat mich sehr angesprochen und auch die Hauptfigur hat mir gefallen. Insgesamt hat mich das Ende aber doch etwas unbefriedigt zurückgelassen.


    Ich denke aber, dass ich auf jeden Fall mich noch an den weiteren Büchern von Pehnt versuchen werde, da mir der Stil eigentlich gut gefallen hat. :-)