'Faust: Der Tragödie Erster Teil' - Seiten 025 - 058

  • Vor dem Tor


    Dieser Abschnitt beginnt mit dem, wie ich vermute, wohl bekanntesten Teil des Dramas oder von Goethe überhaupt. Der Osterspaziergang. Das ist ja auch großartig. Diese Befreiung, als endlich der Winter vorüber ist, kann man auch heute noch gut nachempfinden. Umso stärker muss das Gefühl damals in Zeiten ohne elektrisches Licht und Zentralheizung gewesen sein. Ein Panzer aus Eis, dumpfen Gemächern, Dunkelheit, Enge bricht auf. Farben blinken, die Sonne scheint, die Menschen vergnügen sich. Das ist auch eine Art Auferstehung.


    Im Dialog zwischen Faust und Wagner wird der Unterschied in ihrem Denken und Selbstverständnis, der bereits vorher angeklungen ist, weiter verdeutlicht.
    Wagner wirkt arrogant, will mit Natur und normalen Leuten nichts zu tun haben. Ihm sind Bücher wichtiger. Faust hingegen nimmt die Ehrungen der Menschen bescheiden entgegen. Er meint, er hätte sie nicht verdient.
    Hier spricht Faust auch aus, was Mephistopheles bereits im Prolog ähnlich ausgedrückt hat, nämlich: zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust. Irdisches und überirdisches Streben.


    Mich irritiert, dass Wagner gegen Ende der Szene "du" zu Faust sagt. Sicher sagt man oft "du" anstatt "man". Aber in Z. 1145 passt das nicht.

  • Ich lese das Stück nicht zum ersten Mal. Ich habe mich damit vor Jahren schon mal befasst. Da ist wohl noch einiges hängen geblieben. Aber manches fällt mir erst jetzt auf.


    Studierzimmer I


    Es ist doch überraschend, dass Faust überhaupt keine Angst hat, als sich Mephistopheles als der zeigt, der er ist. Sie sprechen auf Augenhöhe miteinander. Es wirkt fast vertraulich, wenn M. gesteht, dass er vergeblich vieles unternommen hätte, um der Welt und der "Tier- und Menschenbrut" (Z. 1369) beizukommen.


    Und eine komische Seite hat diese Szene auch. M. kann das Zimmer nicht verlassen wegen dem Drudenfuß. Hier hätte ich beinahe laut gelacht. Das kam für mich völlig überraschend. Ich habe mir M. mächtiger vorgestellt.
    Goethe lässt hier die landläufige Vorstellung vom Teufel und seiner Abwehr einfließen. M. wirkt hier fast ein bisschen lächerlich. Macht Goethe sich hier über den Aberglauben lustig?


    Aber die wichtigste Stelle in dieser Szene sind die Zeilen 1335 - 1344. Und da komme ich auch beim x-ten Lesen nicht weiter.


    Was ist ein Geist, der stets verneint? Und wie kann man das Böse wollen und stets das Gute schaffen?
    Ich denke jetzt mal laut.
    M. setzt Zerstörung mit dem Bösen gleich. Es ist seine Aufgabe, sich "der ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt" (Z. 1380) entgegen zu stellen. Doch die Schöpfung (das Gute) erneuert sich immer wieder, wie es bereits im Prolog Der Herr sagt: "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt" (Z. 346).
    Außerdem hieß es da ja bereits, dass der Mensch die Anfechtungen braucht, um nicht zu erschlaffen. Wieso denke ich plötzlich an den Baum der Erkenntnis im Alten Testament?


    Ergänzung
    Man darf natürlich das Werdende nicht nur im kosmologischen oder biologischen Sinn verstehen, sondern auch in der Weiterentwicklung des Menschen. Aus Fehlern lernt man. "Es irrt der Mensch so lang er strebt." (Z. 317) So kann aus Fehlern etwas Gutes entstehen.

  • Zitat

    Original von made
    Was ist ein Geist, der stets verneint? Und wie kann man das Böse wollen und stets das Gute schaffen?
    Ich denke jetzt mal laut.
    M. setzt Zerstörung mit dem Bösen gleich. Es ist seine Aufgabe, sich "der ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt" (Z. 1380) entgegen zu stellen. Doch die Schöpfung (das Gute) erneuert sich immer wieder, wie es bereits im Prolog Der Herr sagt: "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt" (Z. 346).
    Außerdem hieß es da ja bereits, dass der Mensch die Anfechtungen braucht, um nicht zu erschlaffen. Wieso denke ich plötzlich an den Baum der Erkenntnis im Alten Testament?


    Gute Frage, an der ich auch immer hängen geblieben bin.


    Das Böse existiert nur durch den Gegensatz des Guten (und umgekehrt), denn wenn ich „das Böse“ sage, grenze ich es ja von etwas anderem (dem „Guten“) ab. Wenn M. also etwas Böses schafft, entsteht dadurch gleichzeitig etwas Gutes (und wenn es nur der theoretische Gegensatz dessen, was er schafft, ist), denn sonst gäbe es ja kein „Böses“.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von sasaornifee
    Made, ich finde es erstaunlich, was du alles aus diesen Texten herauslesen kannst. Ich kann das nicht, denn ich tue mir eh schwer mit dem Interpretieren.


    :write :write


    Geht mir auch so, ich kann nur staunen.

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Das Böse existiert nur durch den Gegensatz des Guten (und umgekehrt), denn wenn ich „das Böse“ sage, grenze ich es ja von etwas anderem (dem „Guten“) ab. Wenn M. also etwas Böses schafft, entsteht dadurch gleichzeitig etwas Gutes (und wenn es nur der theoretische Gegensatz dessen, was er schafft, ist), denn sonst gäbe es ja kein „Böses“.


    Also ganz theoretisch gesagt: 0 = (-1) + (+1)


    Sehr interessant! Aber es wird bei dieser Betrachtungsweise der Mensch zur Nebensache. Und ich denke, gerade um den geht es doch. Ich sehe den Ansatzpunkt schon darin, dass der Mensch aus Fehlern lernt. Wenn er über sich hinauswachsen will, wie Faust, muss er schon was riskieren, nämlich auch mal den falschen Weg einzuschlagen. Es ist unausweichlich, dass man dabei unter Umständen anderen Menschen weh tut.

  • Studierzimmer II


    In meinem Kommentar findet sich der Hinweis, dass in älteren Faust-Dichtungen die Wette anders beschrieben ist.
    Dazu ist mir aufgefallen, dass sich die Wette zwischen Faust und M. doch sehr von sonstigen Mensch-verkauft-Seele-Geschichten unterscheidet. Faust will sich nicht einen Vorteil, wie z. B. Reichtum oder Macht, erkaufen. Daran ist ihm gar nicht gelegen. Er weiß genau, dass die Vergnügungen, die M. ihm verschaffen kann, ihm nicht wirklich innere Ruhe bringen werden, sondern im Gegenteil auch schmerzhaft sein können.
    Warum lässt er sich dann auf die Wette ein? Er will erfahren, was die Menschheit an Sinnlichkeit erlebt, und "so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern" (Z. 1774) Das heißt, für Faust bedeutet die Wette nichts anderes, als sein Vorwärtsstreben fortzuführen, was M. gerade verhindern will.


    Probleme habe ich mit der Stelle Z. 1785 - 1802. Das verstehe ich nicht.

  • Zitat

    Original von made
    Studierzimmer II
    (...)
    Probleme habe ich mit der Stelle Z. 1785 - 1802. Das verstehe ich nicht.


    Ich habe das jetzt zwei Mal gelesen, und so ganz genau verstehe ich das auch nicht.


    Nach "Ihr ließet Euch belehren." gehört für meine Begriffe (gedanklich) ein Absatz, weil danach ein neuer Gedanke beginnt: Faust soll sich mit einem Poeten (Dichter) zusammen tun, der ihm alle möglichen Eigenschaften (schreibend?) verschafft, und er möge sich verlieben. So hat er sozusagen "eine ganze Welt in sich" und wäre darum eine Art Mikrokosmos.


    So in die Richtung habe ich das verstanden.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")


  • Meinst du so: ein Poet soll ein Loblied auf Faust schreiben und ihm so Ehre verschaffen und somit auch eine Frau. Eben seine persönliche Welt.


    Ich lese gerade in meinem Kommentar folgende Erläuterung:


    "Mephisto bezieht sich in seiner Schilderung eines Idealmenschen ironisch auf die alte Vorstellung einer Analogie zwischen Kosmos (Makrokosmos) und Mensch (Mikrokosmos)."


    Da steh ich nun, ich armer Tor ... :cry