"Das Zimmer" von Helen Garner

  • Klappentext: Als sie ihre Freundin Nicola einlädt, für eine dreiwöchige Krebstherapie bei ihr zu wohnen, ist Helen nicht bewusst, was es bedeutet, einen sterbenden Menschen zu begleiten. An alles hat sie gedacht: Das Bett ist auf Nord-Süd-Achse gebracht, dem positiven Energiefluss des Planeten folgend. Die Bettwäsche ist von einem Rosa, das auch bleicher Haut schmeichelt, der alte Teppich mit den gefährlichen Fußangeln ist ausgetauscht, eine vegetarische Suppe köchelt auf dem Herd.


    Meine Meinung:


    (...) Leise und ruhig fiel in der Nacht der Regen. Ich erwachte um 6 Uhr mit dem Gefühl, es stehe etwas Drohendes bevor; es war dieselbe Angst, die ich auch immer dann verspürte, wenn ich ein Manuskript zu einem festen Termin fertig haben musste: die unausweichliche Notwendigkeit, etwas Neues aus mir herauszuholen. Heute würde Nicola ankommen. Ich lag da wie unter einem Schatten. (...)


    Mit Nicola ziehen nicht nur Angst und Sorge um die todkranke Freundin bei Helen ein, nicht nur die anstrengende Pflegetätigkeit, nicht nur schlaflose Nächte, die sie mit dem Wechseln der schweißnassen Bettwäsche verbringt, nicht nur die Hilflosigkeit angesichts von Nicolas Schmerzen, sondern auch der Zorn. Zorn über dieses „wie auf ihr Gesicht gepflastertes Lächeln“, das Nicola wie eine Rüstung zur Schau trägt. Zorn über die sanftmütige Ergebenheit, mit der sie alles erträgt. Zorn über den naiven, aber absoluten Glauben, den sie den dubiosen Krebs-Therapien des Theodore Institute entgegenbringt. Aber vor allem Zorn darüber, dass die geliebte Freundin sich nicht eingestehen will, dass sie im Sterben liegt. Dieser Zorn überfällt Helen in ihrem erschöpften Zustand und bringt sie an ihre Grenzen. Erst als Nicolas Nichte Iris für ein Wochenende zu Besuch kommt, begreift Helen, dass sie nicht die einzige ist, die so zornig auf Nicolas Anwesenheit reagiert:
    (...)"Sie hat uns zu den Trägern all dieses Übels gemacht – und irgendwie haben wir das auch zugelassen. Sie segelt so dahin, mit diesem grausigen Lächeln im Gesicht, und sagt jedem, dass es ihr ab Mitte nächster Woche besser gehen werde, und währenddessen werden wir über den Grund geschleift und gabeln alles an Angst und Wut auf, was sie über Bord geworfen hat.“(...)


    Auf 173 Seiten erzählt Helen Garner in ihrem autobiografischen Roman, wie die beiden Freundinnen, beides Frauen Mitte sechzig, beides herrische Persönlichkeiten mit eisernem Willen auf engstem Raum aufeinanderprallen. Herausgekommen ist eines der schönsten Bücher, das ich bis dato gelesen habe. Helen Garner erzählt diese Geschichte in einer glasklaren Sprache und mit trockenem Humor – mehr als einmal habe ich laut aufgelacht. Etwa, als Helen ihre Schwester Lucie, eine ehemalige Nonne, spontan bittet, sie zu segnen. Das tut diese auch – mit einem Fahrradhelm auf dem Kopf. (...) „Lass ihn auf“, sagte ich. „Das gibt dir so was Amtliches.“ (...)
    Oder auch darüber, wie Helen ihre Wut über Nicolas Beschönigungen an den Blüten der Kletterrosen im Garten ihrer Freundin Peggy auslässt. Während sie mit der Gartenschere wütet, wird ihr klar:(...) Der Tod lässt sich nicht verleugnen. Das zu versuchen ist ungeheuerlich. Es teibt den Wahnsinn in die Seele. Es lässt jeden Anstand versiegen. Es vergiftet die Freundschaft und macht die Liebe zum Gespött. (...)


    Während Leben und Tod, Gastgeber und Gast erbittert gegeneinander antreten, spricht aus jeder Zeile dieses klugen und ehrlichen Romans das Mitleid und der Respekt für eine Person, die ihren eigenen Tod akzeptieren und sich ihm gegenüber behaupten muss.
    Nach dieser besonderen Lektüre gestaltet sich die Frage, was ich als nächstes lesen werde, schwierig. Ein paar Tage brauche ich sicher noch, um den Nachhall dieses wunderbaren Buches zu verarbeiten – und zu genießen.


    Helen Garner ist für mich eine Entdeckung. Ich hoffe, dass nach „Das Zimmer“ jetzt auch ihre früheren Bücher ins Deutsche übersetzt werden.


    Liebe Grüße
    Lille

  • Danke für die Rezi! Das Buch ist mir wegen des schönen Covers ins Auge gestochen und so habe ich es mal vorbeugend auf meine WL gesetzt.... wo es nach Deiner Rezi auch bleibt! :-]

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Hallo Lille,


    nachdem ich das Buch gelesen hatte, ging es mir wie dir. Ich wußte nicht was ich als nächstes lesen sollte.
    Dieses Büchlein nimmt einen so gefangen, diese Geschichte nimmt einem den Atem.


    Uneingeschränkt empfehlenswert


    :flowers :flowers :flowers

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Meine Meinung:


    Das Buch hinterlässt einen Nachhall...... :gruebel


    Ich habe mir vorgestellt, wie es einem wohl in dieser Situation geht und ich konnte mich sehr
    gut in den Zorn hineinfühlen, der in Helen aufsteigt und fand es mutig, das in so einem Buch auch
    so schonungslos zuzugeben.


    Das Buch ist meiner Meinung nach wunderbar geschrieben, was wohl auch daran liegt, dass es
    autobiografisch ist.
    Ber der Szene mit dem Rosenschneiden, die Lilie schon beschrieben hat, konnte ich mir gut vorstellen,
    dass ich genauso reagieren würde. Eine klassische Übersprungshandlung, würde ich sagen.


    Die eindrucksvollste Szene ist aber wohl die, in der Helen Nicola schonungslos die Meinung sagt.
    Das muss man sich erst mal trauen. :wow


    Von mir gibt es acht Punkte.

  • Ich kann mich Piefi nur anschliessen. Ein sehr schönes Buch, eine Geschichte die mich berührt hat. Sie war zu keinem Zeitpunkt rührselig und hat mich, womit ich eigentlich bei diesem Thema ausgegangen bin, nicht deprimiert.


    Zitat

    Original von Piefi
    Die eindrucksvollste Szene ist aber wohl die, in der Helen Nicola schonungslos die Meinung sagt.
    Das muss man sich erst mal trauen. :wow


    Das empfand ich ebenso.


    Ich kann dieses Buch nur jedem empfehlen.

  • Warum sollte es Dir besser gehen, als mir. ;-) Es lohnt sich bei diesem Buch aber auf jeden Fall. :wave

  • Ich bin fast fertig mit dem Buch und ich finde es sehr berührend.


    Zitat

    Zitat Piefi:
    Die eindrucksvollste Szene ist aber wohl die, in der Helen Nicola schonungslos die Meinung sagt. Das muss man sich erst mal trauen. Wow


    dem kann ich mich auch anschließen.


    Die Szene mit dem Zirkuskünstler fand ich aber auch toll.



    Helens Zorn kann ich gut verstehen und gut, dass es zu der Aussprache kam.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ich wollte meinen freien Vormittag eigentlich nutzen um zu putzen. Dann fiel mir dieses vor wenigen Tagen aus der Bibliothek entliehene Buch in die Hände. Putzen fiel erstmal aus. 2,5 Std später war es durchgelesen.


    Helen Garner schreibt schnörkellos und berichtet, wie sie zunächst das Gästezimmer liebevoll herrichtet und voll wohlwollendem Ansinnen alles daran setzt, ihrer todkranken Freundin beizustehen.


    Der Gute Wille brökelt durcht die ständige Belastung, durch die Ohnmacht gegenüber den Schmerzen und dem akuten Schlafmangel immer weiter zusammen. Am Ende ihrer Kraft setzt sie klare Grenzen.


    Ein wunderbares Buch. Es ist nicht rührselig, sondern nüchtern geschrieben.

  • Ein kurzes aber intensives Büchlein. Ohne grosse Vorgeschichte geht es ab der ersten Seite um das Wesentliche. Die Geschichte unterscheidet sich enorm von den üblichen Büchern mit Todkranken. Diesmal wird aus der Sicht einer pflegenden Freundin das Leid erzählt. Sehr eindringlich und gefühlvoll, eine schwere Aufgabe hat die Freundin zu bewältigen.

  • Meine Meinung:


    Für die Dauer einer dreiwöchigen alternativen Krebstherapie zieht Nicola in das Haus ihrer Freundin Helen in Melbourne. Das Buch erzählt von den Ereignissen während dieser drei Wochen: Helen kümmert sich um ihre Freundin, pflegt sie und gelangt schon bald an den Rand ihrer eigenen Kräfte. Dies ist die Geschichte, die vordergründig erzählt wird.
    Dahinter treten größere Themen hervor: Schulmedizin und Alternativmedizin versus Scharlatanerie, Wahrhaftigkeit auch in Krankheitszeiten, die Kraft der Freundschaft und was für ein Leben man führen sollte, um am Ende zufrieden zurück blicken zu können.


    Auf dem Buchrücken ist ein Zitat aus der "Sunday Times" abgedruckt:
    "Man schlägt dieses Buch zu und hat das Gefühl, nicht nur einen großartigen Roman gelesen zu haben, sondern das Leben selbst erfahren zu haben."
    So euphorisch würde ich das allerdings nicht ausdrücken. Meine (zugegeben hohen) Erwartungen an den Roman wurden nicht erfüllt.


    Ich hätte mir gewünscht, dass die eigentlichen Themen, die hier hinter der Geschichte stecken, besser herausgearbeitet worden wären. Über Wahrhaftigkeit gab es zum Beispiel nur zwei kurze Stellen (einmal beim Telefonat mit der Paliativ-Schwester und einmal in einem Gespräch zwischen den Freundinnen).


    Die Schilderung der Zustände in der Klinik wirkten auf mich überdeutlich, so als ob die Autorin dem Leser hier von Anfang an eine Meinung vorgeben wollte. Ich konnte auch Nicolas schnelles Vertrauen in alle möglichen Ärzte nur schwer nachvollziehen.
    Ich hab mich auch immer mal gefragt, ob alternative Behandlungsmethoden wirklich so wie geschildert denkbar sind bzw. so ablaufen würden. (Ich weiß, das Buch hat autobiographische Züge, aber ich hatte trotzdem ein Glaubwürdigkeitsproblem.)


    Die Sprache kam mir manchmal grammatikalisch holprig vor, das könnte aber auch an der Übersetzung liegen. Hier ein Beispiel, Zitat von Seite 164:
    "Du brauchst ein regelrechtes Team von Leuten, die sich den ganzen Tag um dich kümmern – und nachts auch –, die dir die Bettwäsche wechseln und sie waschen und einkaufen und kochen."


    So bin ich nach Beenden des Buches ein wenig unzufrieden zurück geblieben.


    Mir hat allerdings die äußere Aufmachung des Buches sehr gut gefallen. Das Cover ist ansprechend gestaltet, das Tulpenmotiv zieht sich schön bis in die hintere Klappe hinein. Die Farbwahl des Covers ist angemessen dezent. Für den Textteil wurde eine eigene Schriftart gewählt und über die Typografie hat sich auch jemand gute Gedanken gemacht.


    Ich vergebe 7 Punkte: für den Text 6 Punkte plus einen Punkt für die liebevolle Buchgestaltung.

  • Ein kurzes Buch, das einen nicht so schnell wieder loslässt.


    Obwohl es eher nüchtern geschrieben ist, werden Helens Gefühle bei der Pflege ihrer todkranken Freundin Nicola sehr deutlich und nachvollziehbar. Nicola klammert sich an allerlei zweifelhafte Heilmethoden und versucht ihrer Umwelt eine heile Welt vorzuspielen, weil sie sich nicht eingestehen kann, dass sie wohl bald sterben wird. Interessant (und verständlich) fand ich, wie sehr dieses vermeintliche Stark-Sein der Kranken an den Nerven der pflegenden Freunde zerrt.


    Zitat

    Original von Rika-
    Die Schilderung der Zustände in der Klinik wirkten auf mich überdeutlich, so als ob die Autorin dem Leser hier von Anfang an eine Meinung vorgeben wollte. Ich konnte auch Nicolas schnelles Vertrauen in alle möglichen Ärzte nur schwer nachvollziehen.


    Ich fand die Schilderungen stimmig. Helen ja von Anfang an eher skeptisch und dann sieht man sowieso jede noch so kleine Kleinigkeit viel kritischer als sonst.
    Nicolas schnelles Vertrauen hat mich auch verrückt gemacht, aber ich konnte es in gewisser Weise nachvollziehen. Die normalen Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen, also versucht sie eben alles andere. Nur nicht aufgeben...



    Alles in allem: ein lesenswertes Buch, das einen zum Nachdenken bringt... von mir gibt es 8 Punkte.