'Varus' - Seiten 364 - Ende

  • @ Iris


    Was mir da einfällt (und bevor es untergeht): Du wolltest noch was zu Amra schreiben. Auf Grund der Hinweise früher in der Leserunde würde ich ja inzwischen auf eine Jüdin tippen, aber es war nirgendwo die Rede beispielsweise von koscherem Essen oder sonstigen jüdischen Vorschriften (oder ich habe die überlesen).

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")


  • Heute war mein Beutezug endlich erfolgreich. Die drei Bücher sind mein.
    Ich werde auf jeden Fall mal schauen, ob ich das Thusnelda-Buch nicht beim Buchhändler anschauen kann. Im Prinzip reizt mich das schon, aber man weiß ja nie.
    Mir tut das Mädel einfach nur leid. Egal, wie man es nun dreht oder wendet, ich denke mir, sie war Spielball - wie das auch anderen Töchtern mächtiger Männer so ergangen ist. Und was der Herr von K. aus ihr gemacht hat, verzeih ich ihm nie!

  • Mein Problem mit dem Thusnelda-Buch ist, daß ich aus den Angaben, die ich gefunden habe, eben genau nicht schließen kann, was mich da erwartet. Nach einer traurigen Liebesgeschichte steht mir der Sinne eher nicht. Das Thema nur zu einer solchen "verwurstet" würde mich auch eher weniger interessieren. Aber in einer Buchhandlung mal reinschauen ist eine gute Idee. Denn die Stadtbücherei hat so gut wie kaum etwas, was mich interessiert (zumindest keine neueren Bücher).

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Mir tut das Mädel einfach nur leid. Egal, wie man es nun dreht oder wendet, ich denke mir, sie war Spielball - wie das auch anderen Töchtern mächtiger Männer so ergangen ist.


    Ich muss jetzt doch mal die mächtigen Väter in Schutz nehmen: Es ist ja nicht so, dass Töchter früher grundsätzlich als nutzlose Fresser angesehen wurden, gerade mal gut genug, möglichst schnell verheiratet zu werden. Das ist zwar ein sehr beliebter "feministischer" Topos, aber wie alle modernistischen und ameriko/eurozentristischen Deutungen früherer oder fremder Verhältnisse, rein schematisch gedacht: Die condition humaine wird dabei völlig außer acht gelassen.


    Damit eine Heirat durch Bindung funktioniert, müssen auch positive emotionale Bindungen bestehen oder aufgebaut werden; d.h. wenn der Vater seiner Tochter nicht zugetan, sondern sie ihm wurst ist, geht er bei ihrer Weggabe keine Verpflichtung ein, und wäre das normal, würde seine evtl. Gleichgültigkeit auch keine sozialen Konsequenzen (z.B. Ansehensverlust, Autoritätsverlust) für ihn haben, weil ja alle so dächten, dass man ein Mädchen am besten gleich nach der Geburt in den Müll werfen solle.


    In der Tat gibt es einzelne Völker oder Volksgruppen, in denen ein Geschlecht (meist die Frauen) als grundsätzlich wertlos betrachtet wird, aber diese treten meist (!) bei eroberten bzw. von anderen unterdrückten Völkern oder Bevölkerungsgruppen auf. Elend beraubt Menschen eines Teils ihrer (Mit-)Menschlichkeit.


    Wenn man sieht, dass z.B. Platon in seinem Dialog Symposion (dt. Das Gastmahl oder Das Trinkgelage) die hingebungsvolle Liebe von Eltern sowohl im Tierreich als auch unter den Menschen als Maßstab für die Kraft der Liebe bis hin zur Selbstaufopferung ansetzen kann, dann sehen all die rein strukturellen Behauptungen, man habe seine Kinder früher nicht sonderlich beachtet sondern eher nur zu seinen Zwecken benutzt, reichlich absurd aus.


    M.A.n. sagen solche Deutungen weit mehr über den Interpreten und die Weltanschauung seiner Zeit aus als über die Zeit, die er deutet.


    Im Falle des Segestes ist es keineswegs ausgeschlossen, dass er seine Tochter liebte und dem Räuber auf keinen Fall überlassen wollte. Immerhin nimmt er eine Menge auf sich, um sie zurückzuholen: Er belagert Arminius' Burg.


    Hinzukommt, dass die Erzählung bei Tacitus ein Einverständnis des Mädchens deutlich ausschließt: Tacitus verwendet explizit das Verb rapere - dt. rauben, "kidnappen", vergewaltigen (!) - und nicht abducere - dt. entwenden, wegnehmen - und legt damit mehr als nahe, dass Thusnelda nicht durchgebrannt, sondern gewaltsam entführt worden war. Er hat keinen Grund, die Sache anders darzustellen; wäre Thusnelda getürmt, dann wäre es auch nach römischer Auffassung Segestes' ureigenes Recht gewesen, seine Tochter zurückzuholen. Es hätte keinen Einfluss auf die Argumentation gemacht -- im Gegenteil: In diesem Falle wäre es für Tacitus leichter gewesen, Germanicus' Forderung noch eine moralische Note zu verpassen, indem er den entehrten Vater von einer Schmach befreit hätte. Aber kein Wort davon.


    Die spätere Erzählung von der Raubehe mit Einverständnis des Mädchens, weil sie nicht einem ungeliebten Verlobten gegeben werden wollte, ist Bestandteil des wesentlich späteren Hermannsmythos ohne jeden Rückhalt in den Quellen. Selbst das Heranziehen späterer Sitten ist fadenscheiniges Getue; meist wurde die Raubehe dann schöngeredet, wenn es darum ging, den Raum aus politischen Gründen im Nachhinein wegen eines Friedensschlusses zwischen "Räubern" und "Beraubten" zu legitimieren (wie z.B. im Falle der Sabinerinnen oder der von Wikingern nach Island verschleppten Schottinnen).


    Als Germanicus wiederum auf Segestes' Burg auftaucht und feststellt, dass Thusnelda schwanger ist und das vermutlich von seinem Erzfeind, dürfte er nachdrücklich die Herausgabe des Mädchens gefordert haben.
    Offen gestanden möchte ich weder in Thusneldas Haut gesteckt haben, noch in der ihres Vaters; denn damals war ein Gaufürst für das Wohl und Wehe seiner Leute verantwortlich, und wenn er diese Verantwortung ernst nahm, dann befand er sich in dem Augenblick, als Germanicus aufkreuzte, in einer üblen Zwickmühle.



    Zitat

    Und was der Herr von K. aus ihr gemacht hat, verzeih ich ihm nie!


    Wie gesagt: Es sagt viel aus über den Herrn von K. und seine Zeit. Das gilt auch für Herrn von. Und sein "Thusnelda-Bild"

  • Zitat

    Original von SiCollier
    Was mir da einfällt (und bevor es untergeht): Du wolltest noch was zu Amra schreiben. Auf Grund der Hinweise früher in der Leserunde würde ich ja inzwischen auf eine Jüdin tippen, aber es war nirgendwo die Rede beispielsweise von koscherem Essen oder sonstigen jüdischen Vorschriften (oder ich habe die überlesen).


    Ich setze das mal in einen Spoiler.
    [sp]Deine Vermutung ist richtig. In Tarsos, woher Amra stammt, befindet sich eine alte jüdische "Kolonie" in Kilikien. Ich wollte es aber mit den vielen hundert Bestimmungen nicht übertreiben. Immerhin war die tarsische Gemeinde, wie wir durch den (damals bereits geborenen) Paulus wissen, bereits hellenisiert und deshalb eher "liberal". Daher genügte es mir, wichtige Vorschriften wie das regelmäßige Gebet, die Kleidung, die Abwendung von "unreinen" Personen u.Ä. zu erwähnen. Außerdem ist zu bedenken, dass die strengsten Vorschriften nur für die Priester und deren Angehörige galten.
    Man darf auch nicht vergessen, dass wir Amra und ihre Tochter nur aus Thiudgifs Sicht erleben - und die hat keine Ahnung von all den Regelungen.[/sp]

  • Danke für die Antwort. :-) Ich spoilere denn auch mal:



    Zitat

    Original von Iris
    Damit eine Heirat durch Bindung funktioniert, müssen auch positive emotionale Bindungen bestehen oder aufgebaut werden; (...)


    Diese ganze „Zwangs“- bzw. arrangierte-Ehen-Problematik ist auch so ein Thema, was mich seit langem umtreibt. Ich frage mich schon lange, wie Gesellschaften überdauern, wenn die Ehen nur unter solchen Gesichtspunkten von den Eltern, bisweilen / oft gegen den Willen der Kinder „gestiftet“ werden. Was mich am meisten wundert ist dann, daß genau diese Kinder, haben sie selbst welche, es wieder genauso machen. Anscheinend habe ich doch zu viele „falsche“ Filme gesehen bzw. Bücher gelesen. :grin ;-)


    Ich habe mir Deine Erläuterungen jetzt mehrmals durchgelesen. Da gibt vieles doch einen anderen, bzw. überhaupt erst einen Sinn.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Über Jahrhunderte haben arrangierte Ehen wunderbar funktioniert- und gar nicht so selten wurden wunderbare Liebesbeziehungen daraus. Du darfst nicht vergessen, das das oft im Kindesalter abgesprochen wurde und die Kinder sich daher sehr wohl kannten, die Familien pflegten Beziehungen, die Kinder spielten zusammen und wussten, auf wen sie sich da einzulassen hatten, der finanzielle und kulturelle Hintergrund war identisch, da wurde schon darauf geachtet, dass die Kinder zueinander passen. Auch wenn die Paare sich vielleicht nicht kannten, in Gebieten in denen Heiratsvermittler tätig waren waren das Personen mit Menschenkenntnis und breiten Kenntnissen über die Familien, wenn die von diesen arrangierten Ehen kein "Erfolg" gehabt hätten, wäre das Geschäft schnell pleite gegangen, so dass dort auch Personen zueinanderfanden, die ein entsprechen erfahrener und kundiger Heiratsvermittler als passend eingestuft hatte. Das Risiko des Scheitern der Ehe war also eigentlich geringer als heute, wenn rosarot Blinde die Ehe schliessen. Die Abneigung gegen diese Praxis heute prägt eben auch hier die Bewertung der Praxis gestern.

  • Na, da bin ich doch erleichtert, dass ich wenigstens mit Amra richtig lag.


    Iris : Hatten denn die Töchter mächtiger Männer überhaupt eine Wahl? Durften sie "nein" sagen? Abgesehen davon, dass es den Söhnen vermutlich nicht anders ging, hab ich den Eindruck, dass die Mädchen doch immer viel eingeschränkter waren. Vermutlich entsprach das dem Frauenbild (alleinstehend ging gar nicht, wenn kein Vater oder Bruder oder Vormund da war, wurd es richtig problematisch)?


    Tut mir leid, wenn ich ständig neue Frage hab, aber wenn Du immer so lieb antwortest...

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Hatten denn die Töchter mächtiger Männer überhaupt eine Wahl?


    Ich nehme an, das ist eine sehr individuelle Frage, die sich nur schwer allgemein beantworten lässt. Wenn eine Tochter versucht, ihren Willen gegen den Willen der Eltern durchzusetzen, schafft das in der Familie Streit; aber wenn ein Vater das gegen den Willen der Tochter versucht (oder beide oder, wie meistens, die Mutter), dann schafft das auch Streit.
    Niemand will unentwegt im Streit leben. Also dürfte man grundsätzlich bemüht gewesen sein, die Sache möglichst gut zu regeln.


    Außerdem muss ich Beo leider recht geben: Die Durchsetzung der "Liebesheirat" hat die Ehe an sich keineswegs zu einem sicheren Hafen gemacht. Und arrangierte Ehen sind nicht zwingend die Hölle auf Erden. Da stehen einfach unvereinbare kulturelle Unterschiede einander gegenüber. Ich lebe in einer, in der ich mir den Partner aussuchen konnte, und es hat geklappt und klappt seit inzwischen 25 Jahren.
    Meine Tochter hat ihren Partner auch selbst gewählt, und wir sind sehr zufrieden mit der Wahl. :-]


    Aber ob das die einzig richtige Antwort auf die Frage des familiären Zusammenlebens ist, das weiß ich einfach nicht, und ich wage auch nicht, eine letztgültige Antwort zu geben.

  • Zitat

    Original von beowulf
    Über Jahrhunderte haben arrangierte Ehen wunderbar funktioniert- und gar nicht so selten wurden wunderbare Liebesbeziehungen daraus. Du darfst nicht vergessen, das das oft im Kindesalter abgesprochen wurde und die Kinder sich daher sehr wohl kannten, (...)


    Na ja, da sind mit im "Tribun" gerade zwei Gegenbeispiele begegnet. :grin


    Trotzdem danke für die Erklärung, auch an Iris. Das macht doch einiges verständlicher. Ich bin gespannt, was unsere Tochter in (hoffentlich) etlichen Jahren für eine Wahl treffen wird. :chen

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Selbstverständlich gibt es für alle Gegenbeispiele. Um auf dein Beispiel einzugehen:
    [sp]In Sunjas Familie hat das "Tradition" - wobei ihre Mutter sich nicht hat entführen lassen, sondern entführt wurde, das ist ein kleiner Unterschied.[/sp]


    Vielen Dank für eure Rezis! :anbet :knuddel1 :wave
    Auch für die zum Tribun -- der ist "buchmarkttechnisch" steinalt, aber verkauft sich samt Nachfolgern immer noch! :-]

  • @ Iris


    Bitte. Ich hätte auch so geschrieben, wenn Du (als Autorin) nicht hier im Forum unterwegs wärest. Daß der "Tribun buchmarkttechnisch uralt ist, weiß ich. Ich habe ihn dennoch jetzt das erste Mal gelesen, die Folgebände werden auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich hoffe doch, daß sich die Bücher noch eine Weile verkaufen. Verdient haben sie es ohne Zweifel. :-)


    Bei der Gelegenheit (nicht, daß ich die LR beenden wollte, doch bevor es untergeht) herzlichen Dank an Iris für die Begleitung und vielen geduldigen Erklärungen. Das hat mir Buch wie Thematik deutlich näher gebracht, manches Vorurteil beseitigt und die Fähigkeit zum immer wieder beschworenen "I beg to differ" deutlich gestärkt. Selbst mein Bild von den Römern hat begonnen, sich zu wandeln (was ich vor der Leserunde nicht erwartet habe). Danke. :anbet :wave




    An drehbuch ein Dankeschön für das Vorschlagen der LR. Das Buch hatte ich vor, "bei Gelegenheit" zu lesen. Was das bei einem eulenmäßigen SuB bedeutet, kann man sich leicht vorstellen. Ich bin sehr froh, daß ich durch die LR das Buch jetzt gelesen habe (und nicht irgendwann). :wave

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • @ sicollier:
    deinem dank an iris schließe ich mich an!
    und was mein anstoßen der leserunde angeht: gerne wieder - aber erst muss iris fertig schreiben :lache

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)

  • Zitat

    Original von SiCollier
    Bei der Gelegenheit (nicht, daß ich die LR beenden wollte, doch bevor es untergeht) herzlichen Dank an Iris für die Begleitung und vielen geduldigen Erklärungen. Das hat mir Buch wie Thematik deutlich näher gebracht, manches Vorurteil beseitigt und die Fähigkeit zum immer wieder beschworenen "I beg to differ" deutlich gestärkt. Selbst mein Bild von den Römern hat begonnen, sich zu wandeln (was ich vor der Leserunde nicht erwartet habe).


    Keine Ursache -- Ich habe allen Teilnehmer(inne)n der Leserunde zu danken! :anbet :bluemchen


    Wenn es mir gelungen ist, ein wenig zum genaueren Hinsehen zu verleiten, dann freut mich das. :-)

  • Gerade habe ich das Buch beendet. Für mich war es echt ein harter "Brocken" im Bezug auf die vielen Verluste. Wie hier schon geschrieben wurde, sobald man einzelne Personen vor Augen hat, da kann man sich in die jeweilige Person hineinversetzen und man leidet mit ihnen. Am meisten tat es mir um Sabinus leid. Er hat so viel für Annius getan. ;-(


    Eine Frage hätte ich doch noch. In manchen Kulturen legt man den Toten Geldstücke auf die Augen. Warum unter die Zunge ?


    Fazit:


    Der Roman hat eine Sogwirkung entwickelt und lässt einen bis zum Schluss nicht mehr los, nicht nur wegen den Greueltaten ;-). Ich konnte mich gut in die einzelnen Personen hineinversetzen und habe mitgelitten.


    Iris, vielen lieben Dank für die tolle Leserunde und die vielen hilfreichen Links und Buchtipps. :knuddel1

  • Zitat

    Original von Vivian
    Eine Frage hätte ich doch noch. In manchen Kulturen legt man den Toten Geldstücke auf die Augen. Warum unter die Zunge ?


    Das ist für mich in beiden Fällen gleich rätselhaft. Man könnte sie auch einfach neben die Toten legen oder ihnen in die Hand geben. Ich habe in der Tat keine Ahnung, welche Gedanken dahinter stehen, und ich glaube auch nicht, dass man das aus so großer Distanz herausfinden könnte. Man müsste die Leute, die es so halten schon fragen können.


    Dass die Münze quasi das Fahrgeld in die Unterwelt ist, weißt du ja sicher.



    Dir auch vielen lieben Dank für deine Abschlussworte. :anbet :wave

  • Also warum unter die Zunge, weiß ich auch nicht. Ich meine, vor Jahren mal etwas über das Thema gelesen zu haben, kann mich aber nicht mehr entsinnen, wo. Münzen auf Augen ist mir vor vielen Jahren, als ich mich sehr intensiv mit dem Turiner Grabtuch beschäftigt habe, begegnet. Der Grabtuchforscher Oswald Scheuermann schreibt dazu:

    Zitat

    Oswald Scheuermann „Das Tuch“, Seite 30 (Pustet, Regensburg, 3. Auflage 1987):
    Der Grund solcher Münzauflagen bei Toten war gewesen, die Augenlider geschlossen zu halten, damit von Verstorbenen der Weg zur Grabstätte nicht verfolgt werden konnte. Darum wurden die Münzen in der Regel auch nur kurzzeitig aufgelegt.


    Das bezieht sich natürlich im Wesentlichen auf die Zeit Jesu (paßt also) und auf Palästina (paßt eher nicht).
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Hallo, ihr beiden!


    Zitat

    Original von SiCollier
    Also warum unter die Zunge, weiß ich auch nicht. Ich meine, vor Jahren mal etwas über das Thema gelesen zu haben, kann mich aber nicht mehr entsinnen, wo. Münzen auf Augen ist mir vor vielen Jahren, als ich mich sehr intensiv mit dem Turiner Grabtuch beschäftigt habe, begegnet. Der Grabtuchforscher Oswald Scheuermann schreibt dazu:


    Das bezieht sich natürlich im Wesentlichen auf die Zeit Jesu (paßt also) und auf Palästina (paßt eher nicht).


    Passt wohl. :grin


    Der Ritus lässt zumindest darauf schließen, dass in diesen Gebieten eine kulturelle Hellenisierung stattgefunden hat, wie vielerorts, wo die Römer sich ausbreiteten. Im Osten breiteten sich griechischen Riten und Gepflogenheiten schon während der Diadochenreiche aus. In anderen Gebieten wurden diese Gepflogenheiten durch die Römer vermittelt, deren Oberschicht in weiten Teilen die Griechen als zumindest kulturell überlegenes "Vorbildvolk" ansahen, von dem sie vieles übernahmen.


    Die eigentlichen Fragen sind:

    • Warum nimmt man Münzen und nicht etwas anderes?


    • Was bezweckt man damit, einen Gegenstand wie z.B. eine Münze auf dieser Stelle des Körpers zu deponieren?


    Zu 1. könnte man Antworten, dass Münzen einen materiellen und zugleich einen ideellen Wert versinnbildlichten. Und sie sind auch eine Information über den Zeitpunkt der Bestattung (ob das beabsichtigt ist, sei mal dahingestellt).


    Zu 2. lässt sich einiges einwenden, z.B.

    • dass es eigentlich viel einfacher wäre, den Toten die Münzen in die Hand zu geben;


    • dass man die Augen auch mit einem anderen Gegenstand, z.B. einem speziellen Schmuckstück, schließen könnte -- warum also ausgerechnet eine Münze (womit wir wieder bei 1. sind);


    • dass unklar ist, was früher da war, die Sitte (Münze mitgeben) oder die (uns heute aus Quellen bekannte) Erklärung (Fährgeld für Charon);


    • dass man mittels einer Münze in der antiken Welt dem Verstorbenen eine relativ genaue Datierung seiner Lebenszeit mitgibt, eine Art Erinnerungsstück oder Verortung in der Welt -- ob das nun bewusst geschah oder nicht, sei mal dahingestellt.


    Wenn man Riten der Vergangenheit beurteilt, ist die Gefahr, sich auf den unsicheren Boden der Spekulation zu begeben, sehr hoch.


    Plausibel erscheint ein ästhetischer Aspekt: Die Augen von Toten sind blicklos, also legt man etwas Glänzendes darauf, um durch den Glanz einen Blick zu simulieren. Münzen haben die passende Größe und sind vor allem auch für weniger wohlhabende Menschen greifbar. Ist der Tote begraben, braucht er die Münzen nicht mehr, sie sind nur für den Leichenzug gedacht.


    Was die zweite Variante angeht: Da muss man so etwas wie ein Fährgeld oder ein Erinnerungsstück an das eigene Leben ansetzten. Allerdings sind die Hände von Toten kraftlos, weil ein "Schatten" kein Leben, d.h. keinen Eigenantrieb mehr hat. Unter der Zunge ist die Münze sicher, da sie quasi eingeklemmt wird.


    Aber was genau dahintersteckt, werden wir vermutlich nie erfahren; denn wie bei vielen Riten dürfte auch bei diesem der ursprüngliche Sinn zur Zeitenwende längst in Vergessenheit geraten sein.


    Edit: Formatierung.

  • Zitat

    Original von Iris
    Passt wohl. :grin


    Okay, ich gebe mich geschlagen. :grin ;-)



    Zitat

    Original von Iris
    Der Ritus lässt zumindest darauf schließen, dass in diesen Gebieten eine kulturelle Hellenisierung stattgefunden hat, wie vielerorts, wo die Römer sich ausbreiteten.


    Dieses (die Hellenisierung, auch der Juden) ist allerdings etwas, was mir schon ein paar Mal im Zusammenhang mit dem Urchristentum in Büchern von Kirchen- bzw. Religionshistorikern begegnet ist. Was mich daran erinnert, daß ich ein paar Bücher in der Richtung besitze, die ich schon seit langer Zeit gelesen haben wollte.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")