Der letzte Sommer auf Long Island - Colson Whitehead

  • Dies ist der zweite Teil einer Art Doppelkritik, zweier Romane, die ich direkt hintereinander gelesen habe, und die zufälligerweise sehr viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Tanja Dückers Hausers Zimmer (Kritik hier) und Colson Whiteheads Der letzte Sommer auf Long Island, der in diesem Beitrag im Vordergrund stehen wird.


    Der Roman spielt in einem einzigen Sommer im Jahr 1985 im Urlaubsort Sag Harbour (so auch der Originaltitel des Romans) auf Long Island, nur anderthalb Fahrstunden auf dem Long Island Expressway (LIE) von New York City entfernt. Der Ich-Erzähler ist der 15-jährige Ben aus New York, der jeden Sommer nach Sag Harbour fährt, zusammen mit seinem 14-jährigen Bruder Reggie und seinen Eltern. Sag Harbour ist ein eigener Mikrokosmos, in dem vor allem die Kinder voller Vorfreude einfallen und in alternative Existenzen schlüpfen, in denen sie sich selbst ausprobieren können. Sie hängen mit ihren Kumpels in ihrer "afroamerikanischen Enklave" herum, jobben in Fast-Food-Restaurants und machen erste Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht. Ben und Reggie haben bisher immer alles gemeinsam gemacht:


    Zitat

    Wir hatten erst kürzlich aufgehört, Zwillinge zu sein. Wir sind mit zehn Monaten Abstand geboren, und bis ich in die Highschool kam, gab es uns nur paarweise, ein eher siamesisches als eineiiges oder bloß brüderliches Paar, definiert von einer unheimlichen Untrennbarkeit.


    Zitat

    Wir waren so etwas wie ein eigenes Genre, wenn man ein Familienalbum aufschlug: Da sind Benji und Reggie, wie sie sich im Strandhafer fläzen, an der Haube des in jenem Sommer gemieteten Wagens lehnen, auf einer Bank vor der Eisdiele hocken


    Dieser Sommer wird der letzte gemeinsame Sommer in Sag Harbour sein, Benji und Reggie werden eigene Erfahrungen machen, ein wenig erwachsener werden. Ihre Schwester ist bereits auf dem College und ihre Eltern kommen irgendwann nur noch am Wochenende aus der Stadt nach Sag Harbour, ansonsten sind die Brüder auf sich alleine gestellt. Das klingt dramatisch, ist es aber eigentlich gar nicht. Wenn der Roman nach dem Ende des Sommers endet, wird sich nichts wirklich Einzigartiges in ihrem Leben verändert haben. Eine Miniatur eines Entwicklungsromans.


    Der Roman ist exzellent geschrieben. Die Art wie die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der Jugendlichen in Sag Harbour beschrieben werden, die Charakterisierungen der Brüder, die popkulturellen Referenzen. Whitehead kann drei Seiten über das Besondere an afroamerikanischer Frisuren oder die soziale Bedeutung der Bill Cosby Show, die Weiße zunächst für Science Fiction hielten, schreiben und ich liege auf Knien.


    Zitat

    Die Bill Cosby Show trieb uns in die Ecke und zwang uns, unsere Position zu überdenken. Was dort auf der Mattscheibe lief, war eine Version unserer selbst...


    Überhaupt kommt viel Popkulur in diesem Roman vor. In dieser Hinsicht ähnelt der Roman an Jonathan Lethem, vor allem an "Die Festung der Einsamkeit". Ich glaube, was diesen Roman am Ende einen Tick besser als den von Dückers macht, ist dass diese Kinder fernsehen und Comics lesen, während die Geschwister in "Hausers Zimmer" mit von ihren Eltern Wiebke und Klaus ausgewählten anspruchsvollen, politisch korrekten und biologisch abbaubaren Kulturprodukten gefüttert werden. Dafür können die Kinder aus dem Roman von Dückers nichts, und dieses Element stellt für sich schon einen interessanten Konflikt dar, aber Whitehead kann dadurch für mich viel mehr über die Gesellschaft in den 80er Jahren aussagen.

  • Zitat

    Original von Googol
    Der Roman ist exzellent geschrieben. Die Art wie die ungeschriebenen Regeln und Gesetze der Jugendlichen in Sag Harbour beschrieben werden, die Charakterisierungen der Brüder, die popkulturellen Referenzen. Whitehead kann drei Seiten über das Besondere an afroamerikanischer Frisuren oder die soziale Bedeutung der Bill Cosby Show, die Weiße zunächst für Science Fiction hielten, schreiben und ich liege auf Knien.


    :write


    Egal was diesen Monat noch kommen wird, das wird mein absolutes Highligt werden. Das sage ich obwohl ich noch nicht ganz durch bin, aber ich kann mir kaum vorstellen dass der Roman auf den letzten 100 Seiten noch kippt. Großartig! :anbet

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Zitat

    Original von FrauWilli
    :write


    Egal was diesen Monat noch kommen wird, das wird mein absolutes Highligt werden. Das sage ich obwohl ich noch nicht ganz durch bin, aber ich kann mir kaum vorstellen dass der Roman auf den letzten 100 Seiten noch kippt. Großartig! :anbet


    Ui, das hört sich ja ziemlich genial an :wave
    Eigentlich hatte mich auch schon Googols Rezi überzeugt, aber ich war noch etwas zögerlich, da "Apex" von Colson Whitehead hier ja nicht so gut angekommen ist.


    Jetzt wird das Buch aber so schnell wie möglich gekauft werden!

  • Die Lesung heute in Köln mit Colson Whitehead und den erfahrenen Lesungsprofis Bernhard Robben (Moderation) und Ulrich Mathes (deutsche Lesung) war auch super. Was mir beim Lesen der Übersetzung nicht so aufgefallen war, ist der spezielle Sound des englischen Originals. Whitehead hat fast mit einem leichten Singsang und oft ohne aufs Blatt zu schauen wie bei einem Poetry Slam seinen Text vorgetragen. Die Lesung wurde übrigens für eine Radioübertragung (ich glaube WDR) nächste Woche aufgezeichnet.

  • Zitat

    Original von Googol
    Die Lesung wurde übrigens für eine Radioübertragung (ich glaube WDR) nächste Woche aufgezeichnet.


    Danke für den Hinweis, das würde mich auf jeden Fall sehr interessieren und ich werde mal die Augen offen halten, damit ich die Sendung nicht verpassse :wave

  • Zitat

    Original von buzzaldrin


    Danke für den Hinweis, das würde mich auf jeden Fall sehr interessieren und ich werde mal die Augen offen halten, damit ich die Sendung nicht verpassse :wave


    Ich hatte ja auf einen etwas früheren Termin gehofft (und eigentlich auch so verstanden), aber eine Recherche hat folgendes ergeben (und WortLaut war auch die Sendung, die gestern erwähnt wurde):


    http://www.wdr3.de/schwerpunkte-und-reihen/litcologne.html


    2. Juni 2011 ab 23:05 Uhr
    WDR 3 open: WortLaut
    Colson Whitehead: Der lange Sommer auf Long Island
    Mitschnitt von der Lit.Cologne 2011


    Bis dahin hast du den Roman sowieso längst gelesen. :grin


  • Danke dir für die Mühe, den genauen Termin raus zu suchen :wave


    Dass ist aber noch etwas hin ... da denke ich auch, dass ich das Buch wohl schon vorher gelesen habe, so lange kann ich mich gar nicht mehr gedulden. Aber den Termin werde ich mir trotzdem einfach schon mal vormelden!

  • Der letzte Sommer auf Long Island – Colson Whitehead


    Mein Eindruck:
    Colson Whiteheads Stil, der eine besondere Leichtigkeit besitzt und dabei doch genau beschreibt, konnte mich sehr überzeugen. Die Emotionen und Erfahrungen des 15jährigen Benji sind sicherlich teilweise auch autobiografisch. Colson Whiteheads Persönlichkeit wirkt stark in das Leseerlebnis hinein. Das wird vor allen spürbar, wenn man ihn im Fernsehen oder auf einer Lesung gesehen hat.
    Gerade weil die beschriebenen Erlebnisse der Ferien in der Küstenstadt Sag Harbor unspektakulär waren, sind sie so gut nachvollziehbar. Über weite Passagen werden amüsante Szenen mit milder Ironie geschildert, ein wenig Melancholie ist auch spürbar. Ab und zu wechseln die Beschreibungen in einen quasi essayistischen Stil, aber die Themen, zum Beispiel das Verhältnis der Jugendlichen zu Gewalt, erlauben das sogar. Colson Whitehead wird nicht sentimental, verklärt nichts. Aber er berichtet auch viel positives, die Art zu leben, die familiären Bindungen, hervorzuheben ist die Beziehung Benjis zum nur wenig jüngeren Bruder Reggie.


    Der Roman liest sich als wäre man in den 80ziger Jahren dabei. Es hat Spaß gemacht, einen Sommer auf Benjis Sag Harbor zu verbringen und seine Erfahrungen zu teilen.

  • Eines der besten Bücher die ich in diesem Frühjahr gelesen habe!
    Bisher habe ich in meinem Lese-Leben nur ein einziges Buch mehrere Male gelesen und das ist "Ferien auf Saltkrokan" von Astrid Lindgren. Ein letzer Sommer auf Long Island wird das zweite Buch sein das ich nochmals lesen werde. Es ist die amerikanische Variante, die nicht von der Kindheit sondern von der Jugend erzählt. Das gute Gefühl ist das Gleiche.


    Colson Whitehead kann so detailgenau und humorvoll über Banalitäten, Afro-Looks und Ghettoblaster schreiben, dass man sich wünscht, das würde noch über Seiten so weitergehen.
    Seinen adoleszierenden Protagonisten liebt man. Ganz einfach.


    "Außerdem - die Pubertät. Dieser infame Schurke. Hormone lenkten verirrte Energie in Richtung Unterleib und darauf, wie man diesen Körperteil im Gegensatz zu den Fäusten benutzte. (Eines Tages, so Gott wollte. Der Allmächtige, Allerbarmende, der in seiner Güte ab und zu vielleicht auch mal einem Brother einen Knochen hinwarf.)


    Er zeigt Sag Harbor an der amerikanischen Ostküste als einen Ferienort mit einer schwarzen Mittelstands-Community bevor "die Migration der Großkotze" in den Hamptons ihren Anfang nahm.


    Großes Kino! Großes Buch!

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Titel: Der letzte Sommer auf Long Island
    OT: Sag Harbour
    Autor: Colson Whitehead
    Übersetzt aus dem Amerikanischen von: Nikolaus Stingl
    Verlag: Carl Hanser
    Erschienen: Februar 2011
    Seitenzahl: 336
    ISBN-10: 3446236449
    ISBN-13: 978-3446236448
    Preis: 21.90 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Jeden Sommer trifft sich auf dem Ferienparadies Long Island die New Yorker Mittelschicht. Wenn Benji und seine Freunde in der afroamerikanischen "Enklave" der Insel eintreffen, werden die neuen Klamotten, der neue Jargon, die neuen Songs diskutiert. Voll Wärme und Komik schildert Colson Whitehead einen ganzen Katalog der Kultur der achtziger Jahre, die Regeln und Riten der Gesellschaft und die Unschuld des Erwachsenwerdens. Sein Roman ist ein präzises Porträt der schwarzen Mittelschichtjugend.


    Der Autor:
    Colson Whitehead, geboren 1969 in New York, studierte an der Harvard University und arbeitete für die Zeitschriften Vibe, Spin und New York Newsday sowie als Fernsehkritiker für "The Village Voice".


    Meine Meinung:
    Dieses Buch ermöglicht den Blick zurück in die achtziger Jahre. Und derjenige, der diese achtziger Jahre bewusst selbst erlebt hat, wird sehr schnell – vielleicht aber auch nicht – die nostalgischen Schauer, die über den Rücken laufen, fühlen. Das Buch ist mit der vermeintlichen Coolness der jungen Menschen geschrieben. Und es ist gerade diese Coolness, die deutlich macht, dass unter dieser dünnen Coolness-Schicht eben auch ein sensibler Mensch steckt, der gerade dabei ist seine ganz eigene Persönlichkeit zu entwickeln, sich selbst kennenzulernen. Ein junger Mensch der auch noch unsicher ist, der sich daher immer neu ausprobieren muss. Das alles beschreibt Colson Whitehead mit großer Sensibilität in der Sprache der jungen Menschen der achtziger Jahre. Man kann eigentlich insofern auch davon ausgehen, dass in diesem Buch viel Selbsterlebtes steckt. Ein Buch das fair mit den Erinnerungen umgeht, dass nicht verklärt und die damaligen Realitäten nicht ignoriert. Ein sehr lesenswertes Buch, dass sich nicht nur durch menschliche Tiefe auszeichnet, sondern darüber hinaus auch einen ganz besonderen Humor besitzt, der an einigen Stellen aber eben auch durch ein wenig Wehmut angereichert, nicht aber verdünnt, wird. 8 Eulenpunkte

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Bei diesem Buch handelt es sich, wie bereits von meinen Vorpostern geschrieben, um ein Eintauchen in die 80er Jahre und eine Schwarze Familie der Mittelschicht. Für mich ein Eintauchen in eine Zeit, in der ich gerade noch nicht geboren war, in ein Land, das ich noch nie besucht habe, mit all seinen Chance und Problemen.


    Colson Whitehead erzählt in diesem Kontext den Sommer von Benji, und das macht er in einer tollen Erzählung über die Selbstentdeckung eines Teenagers in der Pubertät, der gleichzeitig auch seine Identität hinterfragt, was es heißt, Schwarz zu sein und der Mittelschicht anzugehören, denn so lange ist Martin Luther King und die Friedensbewegung noch nicht her, und doch tut er sich schwer damit, sich damit zu identifizieren. Dieser Sommer wird in 8 eigenständigen Kapiteln erzählt, eigentlich handelt es sich um 8 Kurzgeschichten, die jedoch zusammengehören und aufeinander aufbauen, jedoch jeweils unterschiedliche Schwerpunkte haben.


    Ein großartiges Buch, in das ich eintauchen konnte, die Sprache genießen konnte, die Leichtigkeit, in der Whitehead erzählt. Ein Buch aber auch, dass einem durchaus Möglichkeiten zur Selbstreflexion bietet. Hier entscheidet der Leser - nehme ich das wahr, oder bleibe ich nah bei Benji. Beides ist gut möglich.


    Ich hatte das Glück, dieses Buch in einer Leserunde mit den Querbeeteulen lesen zu können. Gelesen habe ich eine englische Ausgabe.


    ASIN/ISBN: 0385527659