'Die verlorene Ehre der Katharina Blum' - Kapitel 01 - 23

  • So, ich bin durch den ersten Teil durch und angenehm überrascht bis peinlich berührt, wie tagesaktuell das Werk doch ist.


    Die wesentlichen Schlagworte sind schon in den vorhergehenden Beiträgen gefallen, ich will sie aber dennoch noch einmal nennen: Ironie und Sarkasmus schwebt in den ersten Kapiteln über allem. Ich finden sowohl den Stil als Bericht mit ganz viel Konjunktiv (glaube ich), als auch die spitzen Bemerkungen hier und da toll. Lakonisch nannte es eine/r meiner Vorschreiber/innen. In Kapitel 2 erfreute mich das gestelzte Behördendeutsch, dass sich inhaltlich mit Pfützen und Schmutz befasst. Sprachlich ein schöner Gegensatz zu der sicherlich in der ZEITUNG benutzen Ausdrucksweise, die schon mit der Formulierung "Die Blum" zeigt, wer ihr nächstes Opfer sein wird.


    Es ist übel, was im Zuge der Ermittlungen so abgeht. Katharina wird behandelt wie eine Mörderin (der Echte ist ja trotz aller Maßnahmen entwischt). Ihre Aussagen werden verzerrt (Versehen? Laschheit? Absicht?) dargestellt und nur durch ihr Beharren richtig wiedergegeben. Ihrer Familie und den Freunden wird aufgelauert ... das ganze Programm. Ich bewundere, dass sie trotz des Drucks in der Lage ist, scheinbar selbstbeherrscht und ihre Privatsphäre achtend auch hier und dort zu schweigen. Nicht nur ist es ihr Recht, es wird ja auch jede Aussage bis ins Lächerlich hinein verdreht und gefälscht. Das macht mich wütend.


    Unschön ist es, dass jene Mechanismen heute noch genauso funktionieren. So manches Opfer wird vor die Kamera gezerrt, auf Gedeih und Verderb. Der Einfluss auf das eigene Bild in den Medien ist quasi nicht vorhanden, Menschen werden vorverurteilt oder großzügig mit Generalamnesie versehen ... je nach Gusto der Redakteure. Die Wahrheit bleibt oft auf der Strecke und viel zu viele denken, ihre (selten gute) Meinung stehe über allen Menschenrechten.

  • Gestern hatte ich endlich Zeit, um diesen Abschnitt zu beenden.
    Mir gefällt der ganze Aufbau der Erzählung. Es wird nicht nur Katharinas Lebenssituation beleuchtet, auch die Gefühlslage bei den ansonsten Beteiligten wird dargestellt. Blornas Rekonstruktion des Geschehens ist in der Ich-Form geschrieben - ein klarer Bruch zur bisherigen "Bericht-Erstattung". Diesen Einschub finde ich gut, zeigt er doch, wie sehr Katharina vom Ehepaar Blorna geschätzt wird und welche Wellen die ZEITUNG auch bei eigentlich unbeteiligten Personen schlägt.


    Zitat

    Original von Liesbett
    Es ist übel, was im Zuge der Ermittlungen so abgeht. Katharina wird behandelt wie eine Mörderin (der Echte ist ja trotz aller Maßnahmen entwischt). Ihre Aussagen werden verzerrt (Versehen? Laschheit? Absicht?) dargestellt und nur durch ihr Beharren richtig wiedergegeben.


    Wobei ich finde, dass der Autor dieses Kapitel sehr geschickt platziert: Der Leser soll sich ob des unpräzisen Ermittlungsprotokolls empören und dafür sensibilisiert werden, dass schon kleinste Veränderungen - und hier geht es ja nur um ein, zwei Worte - dem gesamten Text eine andere Bedeutung geben. Dem Leser ist klar, dass das Hinnehmen dieser sachlich falschen Wortwahl den weiteren Verlauf der Ermittlungen und eine spätere Gerichtsverhandlung auf diese Weise negativ beeinflussen würde.
    Im krassen Gegensatz dazu agiert die ZEITUNG: In deren Berichterstattung ist dieses Vorgehen gang und gäbe, während der/die Betroffene eben nicht die Möglichkeit hat, irgendetwas richtig zu stellen. Nur: Empört sich (außer den Betroffenen) jemand darüber? Die (fiktiven) Leser der ZEITUNG nehmen die dort getroffenen Aussagen unreflektiert wahr. Das ist das eigentliche Problem.


    Zitat

    Original von Nadja Quint
    Sie ist in der Nachkriegszeit in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, hat einen Volksschulabschluss und wird Haushaltshilfe. Alles sieht zunächst danach aus, dass hier die berufliche Karriere schon zu ende sein könnte.
    Aber sie besucht später eben doch noch die Fachschule, macht sich selbstständig, hat ein eigenes Auto und arbeitet teilweise in großbürgerlichen Kreisen, wo sie offenbar nicht nur als Servicekraft geduldet, sondern als eine Art Familienmitglied integriert wird.


    Außerdem wagt sie es, ihren Ehemann zu verlassen, selbst für den Preis, nach damaliger Rechtssprechung schuldig geschieden zu werden. Sie besitzt eine Eigentumswohnung und nimmt Männer mit nach Hause, auch wenn sie das nur ungern zugibt.


    Katharina ist ihrer Zeit womöglich voraus, das macht sie angreifbar. Und die ZEITUNG nutzt natürlich ihre Schwachstellen. Was heutzutage völlig normal ist (bzw. abgeschafft, wie die Schuldfrage bei einer Scheidung), führte zur damaligen Zeit zum Verlust der Ehre, wie der Titel des Buches ja bereits ankündigt.


    Zitat

    Original von Voltaire
    "Glücklicherweise" habe ich damals in den Sechziger Jahren Heinrich Böll nicht in der der Schule lesen müssen. Wahrscheinlich wäre er mir dann - so wie einige andere - auch vermiest worden.


    Ich muss das für mich ganz anders formulieren: Glücklicherweise habe ich Böll in der Schule gelesen - wahrscheinlich hätte ich mich sonst womöglich nie an ihn "herangetraut". ;-)

  • Zitat

    Original von LeseBär




    Katharina ist ihrer Zeit womöglich voraus, das macht sie angreifbar. Und die ZEITUNG nutzt natürlich ihre Schwachstellen. Was heutzutage völlig normal ist (bzw. abgeschafft, wie die Schuldfrage bei einer Scheidung), führte zur damaligen Zeit zum Verlust der Ehre, wie der Titel des Buches ja bereits ankündigt.


    Ich finde auch, dass katharina íhrer Zeit voraus war, so wie sie es schafft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.


    Ich denke aber nicht, dass sie ihre Ehre durch die Scheidung verloren hat, im Gegenteil, sie hat darum gekämpft sie zu erhalten und das auch geschafft, bis diese Schmierfinken von der ZEITUNG aufgetaucht sind und sich über sie her machen.

  • Zitat

    Original von Zwergin


    Ich finde auch, dass katharina íhrer Zeit voraus war, so wie sie es schafft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.


    Ich denke aber nicht, dass sie ihre Ehre durch die Scheidung verloren hat, im Gegenteil, sie hat darum gekämpft sie zu erhalten und das auch geschafft, bis diese Schmierfinken von der ZEITUNG aufgetaucht sind und sich über sie her machen.


    Was "Ehre" ist, wird von der Gesellschaft bestimmt. Und schuldig geschieden worden zu sein war damals ein Makel und durchaus mit dem Verlust des gesellschaftliches Ansehens verknüpft.
    Dieser Makel wird von der ZEITUNG natürlich sofort aufgegriffen, um Katharina in ein schlechtes Licht zu stellen. So wird ja auch der Ex-Mann als "völlig gebrochen" (Seite 42) bezeichnet, also als Opfer dargestellt. Wäre sie immer noch verheiratet, gäbe es diesen Ansatzpunkt gar nicht.

  • @ Lesebär


    Klar der Begriff "Ehre" wird von der Gesellschaft bestimmt. Ein Makel war diese Scheidung bestimmt, trotzdem war Katharina bisher doch gut angesehen in der Gesellschaft, von daher finde ich, dass sie bis sich die ZEITUNG auf sie gestürtzt hat, ihre Ehre gut verteidigen konnte.


    Wäre sie immer noch verheiratet und hätte Ludwig trotzdem mit nach Hause genommen oder auch nur so innig mit ihm getanzt, wäre sie für die TEITUNG halt die treulose Ehebrecherin geworden.

  • Ich bin ja nicht so der Leserundentyp, weil ich lieber vom Ende her urteile (hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich ungern Einschätzungsfehler eingestehe).


    Dennoch hier mal eine Ausnahme: ich genieße das Buch von der ersten Seite an. Die leise oder auch mal lautere Ironie begeistert mich. Als Kind habe ich (Jahrgang 1964) die Mischung zwischen Spießigkeit und Aufbruch durchaus schon registriert. Beim Lesen stelle ich mir immer die Frisuren und Mode der 70er Jahre vor ...

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von Zwergin
    @ Lesebär


    Klar der Begriff "Ehre" wird von der Gesellschaft bestimmt. Ein Makel war diese Scheidung bestimmt, trotzdem war Katharina bisher doch gut angesehen in der Gesellschaft, von daher finde ich, dass sie bis sich die ZEITUNG auf sie gestürtzt hat, ihre Ehre gut verteidigen konnte.


    Wäre sie immer noch verheiratet und hätte Ludwig trotzdem mit nach Hause genommen oder auch nur so innig mit ihm getanzt, wäre sie für die TEITUNG halt die treulose Ehebrecherin geworden.


    Das stimmt natürlich. Egal was sie macht, es wird immer negativ ausgelegt. Ihre Situation ist in gewisser Weise tragisch.

  • Zitat

    Original von Zwergin
    @ Lesebär


    Klar der Begriff "Ehre" wird von der Gesellschaft bestimmt. Ein Makel war diese Scheidung bestimmt, trotzdem war Katharina bisher doch gut angesehen in der Gesellschaft, von daher finde ich, dass sie bis sich die ZEITUNG auf sie gestürtzt hat, ihre Ehre gut verteidigen konnte.
    ...


    Ich habe "die verlorene Ehre" auch auf den Rufmord durch die ZEITUNG bezogen. Wobei ich ja auch noch dazu tendiere, das sie nicht mal in den Augen der Umwelt ihre Ehre verloren hat, sondern für sich selbst in ihren Augen, gerade weil sie plötzlich im Mittelpunkt des Interesses steht und Lügen über sie verbreitet werden.

    Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht auf irgendeine Weise nütze.
    (Gaius Plinius Secundus d.Ä., röm. Schriftsteller)

  • habe auch den ersten Abschnitt durch und bin ziemlich erschrocken wie es damals sich so wenig mit heute unterscheidet. Die ZEITUNG ist mir Hölle unsympathisch aber ich denke jeder weiß welche ZEITUNG gemeint ist.


    Katahrina finde ich erstaunlich weit für die damlige Zeit und bin gespannt wie es sich weiterentwickelt.

  • Heinrich Böll lese ich eigentlich immer mal wieder gerne. Ich habe schon einige Erzählungen von ihm gelesen und habe die Woche dann spontan "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" aus dem öffentlichen Bücherrega gefischt. Zwar gibt es in dem Exemplar auch Anstreichungen, die einer vorherigen schulischen Buchbesprechung geschuldet sein müssen, aber sie stören mich weniger.


    Heinrich Bölls Stil, der von der Distanz geprägt ist und voller kleiner Spitzen steckt gefällt mir außerordentlich gut. Durch seine sachliche Art die Ereignisse zu beschreiben, die immer wieder aufgebrochen wird von "unsachlichen" Momenten, lässt die Geschehnisse schon fast als real erscheinen.


    Die deutlichen Fingerzeige auf die Macht von Worten (z.B. bei dem Protokoll mit "zudringlich" und "zärtlich", aber auch und vor allem bei der ZEITUNG) weist den Leser darauf hin, was Worte alles anrichten können. So ruhig Katharina auch bleibt, versucht man ihr immer wieder Machenschaften unterzuschieben und bohrt immer tiefer. Dass Sie da nicht verzweifelt, sondern ruhig bleibt, erstaunt mich da schon. Aber so gibt sie dem mir unsympathischen Beizmenne nicht allzu viel Zündstoff. Den muss er sich dabei schon selbst suchen.


    Ein bisher zeitloses Buch, das es bei der jetzigen Einschätzung wahrhaft wert ist, gelesen zu werden.