'Der rote Schal' - Seiten 473 - 614

  • Wem man dankbar ist und auf wen man einen Hass entwickelt, ist nicht immer rational begründet, schon gar nicht, wenn man noch Kind oder Heranwachsende ist. Insofern hat sich der Hass halt Bahn gesucht. Mutter Oldershaw unterstützte die niederen Triebe, gab Lydia das Gefühl, gerade deswegen etwas Besonderes zu sein und sie unterstützte und beförderte auch den Gedanken, dass sie mehr verdient habe in Form von Entschädigung.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Lipperin, bei Laudanum musste ich sofort an Simmons "Drood" denken.


    Ja, das schwirrte mir auch kurz durch den Kopf. Obwohl ich gestehen muss, dass ich immer noch an dem Buch leide ... äh ... lese.



    So, dann will ich mal aufzudröseln versuchen, was mir etwas unausgegoren im Hirn rumschwebte. Warum ich zum Beispiel glaube, dass die Erbangelegenheit nicht so klar ist, wie sie scheint. Warum ich zum Beispiel auch glaube, dass Lydias Gedanken in eine bestimmte Richtung gingen, als sie sagte, sie sei „eigentlich“ die Herrin von Thorpe-Ambrose.
    Listen, so sagt man, sollen helfen, Klarheit zu bringen, versuch ich es also mal:


    1. Über das britische Rechtswesen in den Jahren ab etwa 1830 bis etwa 1860 weiß ich nichts.
    2. Man darf wahrscheinlich als gesichert ansehen, dass die Begriffe „Ehre“ und „Gentleman“ für die britische Gesellschaft jener Jahre herausragende Bedeutung besaßen.
    3. Es gibt ganz offensichtlich zwei Allan Armadales, d. h., vier, wenn man die jeweiligen Väter hinzurechnet.
    4. Der eine Vater Allan Armadale hat seinen Sohn (Allan Armadale jun., der sich später auch Fergus Ingleby nennt) verstoßen und enterbt (S. 38 der Taschenbuchausgabe).
    5. Er hat bei dem Sohn des verstorbenen Mathew Wrentmore und dessen Frau, deren Vetter er ist (S. 37), die Patenschaft übernommen und ihn später zu seinem Erben bestimmt, unter der Voraussetzung, er nehme seinen Namen an (S.38).
    6. Unstreitig dürfte sein, dass Fergus Ingleby alias Allan Armadale unter seinem ursprünglichen Namen sich in das Vertrauen von Mr. und Miss Blanchard geschlichen hat, um Letztere zu heiraten (unter dem Namen Allan Armadale), obwohl diese für jemand anderen „vorgesehen“ war.
    7. Allan Armadale alias Fergus Ingleby ist mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, weiteres wird nicht ausgeführt, alles, was er besitzt, ist das Vermögen seiner Frau, deren von mir vermutete Zuneigung und ein Sohn.
    8. Wäre der Betrug, der zur Hochzeit von Miss Blanchard und Allan Armadale alias Fergus Ingleby geführt hat, bekannter geworden als der Familie, hätte es, so vermute ich, rechtliche und gesellschaftliche Folgen gehabt. Fraglich erscheint mirdeshalb, ob und inwieweit Mrs. Armadale resp. ihr Sohn dann überhaupt erbberecht gewesen wären, als der Gatte und Vater gemordet wurde.
    9. Dessen ungeachtet bleibt, dass Miss Blanchard den „falschen“ Allan Armadele geheiratet hat.
    10. Lydia Gwilt wurde von ihrem Mann Ozia Midwinter umfassend und vertrauensvoll in Kenntnis gesetzt über seine dramatische und tragische „Vorgeschichte“.
    11. Ozia Midwinter trägt diesen Namen, mit dem er sich anscheinend wohlfühlt, nicht zu Recht, sein wahrer Name ist Allan Armadale. Er ist der Sohn des Mannes, der Miss Blanchard zugedacht war, der sie auch gerne geheiratet hätte.
    12. Ganz abgesehen von den Plänen, die sich für Lydia Gwilt aus dieser Namensdoppelung ergeben: Angesichts ihres geistigen Zustandes, den ich mit zunehmender Dauer des Romans durchaus nicht mehr als „frisch“ bezeichnen würde, musste ihr klar sein, dass sie zwar den „falschen“, aber dennoch, wäre alles den – von der Elterngeneration – geplanten Gang gegangen, den „richtigen“ Allan Armadale geheiratet hat.
    13. Daraus mag sich für sie ergeben haben, dass sie, wären die Pläne unter Punkt 12 in Realität umsetzbar gewesen, nunmehr die Herrin von Thorpe-Ambrose wäre und sie keine weiteren Pläne mehr machen müsste, sondern Besitz und Ehemann genießen könnte. Sie wird nicht einen Gedanken daran verschwendet haben, ob der Sohn von Miss Blanchard und Allan Armadale, der ursprünglich Wrentmore hieß, mehr als nur entfernte Ähnlichkeit mit Ozia Midwinter gehabt haben würde, noch, ob es überhaupt ein Sohn gewesen wäre.
    14. Dass Collins das Rätsel um die Erbangelegenheit nicht aufdröselt, scheint mir Programm zu sein, diente es seiner damaligen Leserschaft vermutlich/vielleicht als zusätzlicher Nervenkitzel.
    15. Möglich wäre auch, dass er es selber aus dem Blick verloren hat oder nicht mehr als so wichtig eingestuft hat. :-(
    16. Für mich war die Erbangelegenheit jedenfalls der einzige Punkt des Romans, über den ich keine Klarheit erlangen konnte.


    Entschuldigung, wenn ich das einfach mal so ausführlich ausgeführt habe, in der Hoffnung natürlich, dass man versteht, was ich eigentlich sagen will
    :grin


  • Soweit unstrittig und von mir genau so verstanden.


    Zitat

    8. Wäre der Betrug, der zur Hochzeit von Miss Blanchard und Allan Armadale alias Fergus Ingleby geführt hat, bekannter geworden als der Familie, hätte es, so vermute ich, rechtliche und gesellschaftliche Folgen gehabt. Fraglich erscheint mirdeshalb, ob und inwieweit Mrs. Armadale resp. ihr Sohn dann überhaupt erbberecht gewesen wären, als der Gatte und Vater gemordet wurde.


    Das finde ich auch fraglich. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre sie gesellschaftlich geächtet gewesen, vielleicht verstoßen worden und hätte gar nichts geerbt oder auch keine Ansprüche gehabt.


    Zitat

    9. Dessen ungeachtet bleibt, dass Miss Blanchard den „falschen“ Allan Armadele geheiratet hat.


    Und aus Liebe, wie es scheint, und mit großer Leidenschaft!


    Zitat

    10. Lydia Gwilt wurde von ihrem Mann Ozia Midwinter umfassend und vertrauensvoll in Kenntnis gesetzt über seine dramatische und tragische „Vorgeschichte“.
    11. Ozia Midwinter trägt diesen Namen, mit dem er sich anscheinend wohlfühlt, nicht zu Recht, sein wahrer Name ist Allan Armadale. Er ist der Sohn des Mannes, der Miss Blanchard zugedacht war, der sie auch gerne geheiratet hätte.


    Genau so.


    Zitat

    12. Ganz abgesehen von den Plänen, die sich für Lydia Gwilt aus dieser Namensdoppelung ergeben: Angesichts ihres geistigen Zustandes, den ich mit zunehmender Dauer des Romans durchaus nicht mehr als „frisch“ bezeichnen würde, musste ihr klar sein, dass sie zwar den „falschen“, aber dennoch, wäre alles den – von der Elterngeneration – geplanten Gang gegangen, den „richtigen“ Allan Armadale geheiratet hat.


    Da aber die Heirat des Ozias-Vaters Armandale mit Miss Blanchard nicht zustande kam, ist Ozias nicht erbberechtigt, weil er nicht mit einer Blanchard einen männlichen Erben gezeugt hat.
    Alan Armandale-Blanchard ist wahrscheinlich auch eigentlich nicht erbberechtigt, weil seine Mutter den Schoß der Familie in Schande für immer verlassen musste.
    Oder?


    Zitat

    ...
    14. Dass Collins das Rätsel um die Erbangelegenheit nicht aufdröselt, scheint mir Programm zu sein, diente es seiner damaligen Leserschaft vermutlich/vielleicht als zusätzlicher Nervenkitzel.
    15. Möglich wäre auch, dass er es selber aus dem Blick verloren hat oder nicht mehr als so wichtig eingestuft hat. :-(
    16. Für mich war die Erbangelegenheit jedenfalls der einzige Punkt des Romans, über den ich keine Klarheit erlangen konnte.


    Ich könnte mir vortstellen, dass die damalige Leserschaft noch ganz andere Gedanken dazu gehabt hat. Für uns liegt das alles in weiter Ferne...


    Zitat

    Entschuldigung, wenn ich das einfach mal so ausführlich ausgeführt habe, in der Hoffnung natürlich, dass man versteht, was ich eigentlich sagen will
    :grin


    Kein Grund zur Entschuldigung!
    Ich finde diese Erbschaftsknäule jetzt im Nachhinein wirklich interessant. Während des Lesens schiebe ich so etwas lieber beiseite, weil es meinen Lesefluss bremsen würde.

  • Die Erbschaft Angelegenheit werde ich mir auch erst genauer ansehen, wenn ich durch bin. So ganz blicke ich da auch nicht durch.
    miss Gwilts Hass auf die Blanchards kommt mMndaher ,dass die sie nach der klosterepisode ni mehr unterstützt haben. Da begann ja ihr Abstieg und von daher finde ich ihren Hass zwar unlogisch aber nachvollziehbar.
    Erstaunt hat mich, dass die Heirat tatsächlich zu stande kommt , auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass das für die beiden wirklich gut aufgeht.

  • Zitat

    Original von Clare
    ...
    Da aber die Heirat des Ozias-Vaters Armandale mit Miss Blanchard nicht zustande kam, ist Ozias nicht erbberechtigt, weil er nicht mit einer Blanchard einen männlichen Erben gezeugt hat.
    Alan Armandale-Blanchard ist wahrscheinlich auch eigentlich nicht erbberechtigt, weil seine Mutter den Schoß der Familie in Schande für immer verlassen musste.
    Oder? ...


    Wahrscheinlich ist es genau so.


    Zitat

    Entschuldigung, wenn ich das einfach mal so ausführlich ausgeführt habe, in der Hoffnung natürlich, dass man versteht, was ich eigentlich sagen will
    :grin


    Kein Grund zur Entschuldigung!
    Ich finde diese Erbschaftsknäule jetzt im Nachhinein wirklich interessant. Während des Lesens schiebe ich so etwas lieber beiseite, weil es meinen Lesefluss bremsen würde.[/quote]
    :write
    Vielen Dank!

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ha, das hatte ich vergessen, dass der eigentlich falsche Allan Armadale, Fergus Ingleby, ja tatsächlich der leibliche Sohn des alten Armadale war und lediglich enterbt worden ist....wobei ja die Enterbung nichts mit dem Recht auf die Führung eines Namens zu tun hat.


    Das englische Erbrecht war bis zum 20. Jahrhundert ziemlich seltsam. Es gab eine Unterscheidung zwischen "real estate" (= Grundbesitz nebst Gebäuden) und "personal estate" und bis ins 19. Jahrhundert hinein kein Erbrecht des Ehegatten, diese hatten nur eine Art Nutzungsrecht.
    Damit erschöpft sich mein Wissen allerdings auch.....


    "Unser" Allan Armadale erbt ja nach der Seite seiner Mutter als letzter lebender männlicher Verwandter. Da er einer gültigen Ehe entstammt - alle waren zwar entsetzt, aber angefochten wurde sie ja von niemand ( wäre evtl möglich gewesen wegen der erschlichenen Zustimmung des Vaters ) - ist sein Erbrecht wohl kaum zu bezweifeln.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen


    Das englische Erbrecht war bis zum 20. Jahrhundert ziemlich seltsam. Es gab eine Unterscheidung zwischen "real estate" (= Grundbesitz nebst Gebäuden) und "personal estate" und bis ins 19. Jahrhundert hinein kein Erbrecht des Ehegatten, diese hatten nur eine Art Nutzungsrecht.
    Damit erschöpft sich mein Wissen allerdings auch.....


    Danke für die Aufklärung!


    Zitat

    "Unser" Allan Armadale erbt ja nach der Seite seiner Mutter als letzter lebender männlicher Verwandter. Da er einer gültigen Ehe entstammt - alle waren zwar entsetzt, aber angefochten wurde sie ja von niemand ( wäre evtl möglich gewesen wegen der erschlichenen Zustimmung des Vaters ) - ist sein Erbrecht wohl kaum zu bezweifeln.


    Und trotzdem bleibt bei mir ein leiser, leiser Zweifel ... :-(


  • Für mich war diese Frage wichtig, denn sie nimmt natürlich das Motiv der Schuld auf. Allan wurde ja sozusagen schuldlos schuldig, wäre er nicht erbberechtigt gewesen. Was ebenso natürlich wieder zur Problematik der Sühne führt. Kann man sich von Schuld lösen, wenn sie einem nicht einmal bekannt ist? Kann man für etwas sühnen, wenn man selbst
    a) nicht weiß, dass man schuldig geworden ist,
    b) nichts für die Schuld kann, sie "ererbt hat?


    Interessant ist ja doch, wie dieser "Unterhaltungsroman" Fragen ganz tief in meinem Inneren berühren kann, wie ein Schriftsteller, ob nun bewusst oder unbewusst, an Fragen rührt, die hochkomplex sind und für die man ein mehr als gutes Nervenkostüm, eine große innere Sicherheit und eine fast schon absolut zu nennende Gewissheit braucht, um einer Antwort nahekommen zu können.

  • So ein Mist, jetzt ist meine fast fertige Antwort entschwunden.....also nochmal:


    Zitat

    Von Lipperin: Interessant ist ja doch, wie dieser "Unterhaltungsroman" Fragen ganz tief in meinem Inneren berühren kann, wie ein Schriftsteller, ob nun bewusst oder unbewusst, an Fragen rührt, die hochkomplex sind und für die man ein mehr als gutes Nervenkostüm, eine große innere Sicherheit und eine fast schon absolut zu nennende Gewissheit braucht, um einer Antwort nahekommen zu können.


    Da macht es dann für mich gar keinen Sinn mehr, strikt an den Bezeichnungen "Unterhaltungsliteratur" oder "ernste" Literatur festzuhalten. Ein Buch, das mich dazu bringt, über ein Thema neu oder vertieft nachzudenken, ist für mich ein gutes Buch.


    Mit Schuld und Sühne ist das so eine Sache. Was ist Sühne überhaupt? Wiedergutmachung? Rache? Buße? Es könnte alles sein. Für mich ist alles - bis vielleicht Wiedergutmachung - an Schuld geknüpft. Wenn wir uns auf das Strafrecht beschränken wollen: Voraussetzung ist wenigstens Fahrlässigkeit. Und Schuldfähigkeit, über die könnten wir auch diskutieren.
    Wie kann ich an etwas schuldig werden, dass sich meinem Einfluss entzieht? Trotzdem kann ich das Bedürfnis haben, den Schaden zu begrenzen, wiedergutzumachen. Das ist für mich aber etwas anderes als Sühne.

  • Ah, hochinteressante Betrachtungen und Gedanken. Schuld ist so ein unfassbarer Begriff. Man kann schuldig ein, ohne es zu wissen. Man kann Schuld bekommen ohne schuldig zu sein (von anderen der Einfachheit halber mit spitzen Fingern aufgeladen). Man kann ungewollt aus Versehen schuldig werden und man kann sich rundherum schuldig fühlen. Für alles. Im Falle des Buches sind beide Söhne für mich nicht schuldig im Sinne der Umtriebe ihrer Vorfahren. Lydia dagegen trägt Schuld, weil sie bewusste Entscheidungen trifft und entsprechend handelt.

  • Zitat

    Original von Liesbett
    Ah, hochinteressante Betrachtungen und Gedanken. Schuld ist so ein unfassbarer Begriff. Man kann schuldig ein, ohne es zu wissen. Man kann Schuld bekommen ohne schuldig zu sein (von anderen der Einfachheit halber mit spitzen Fingern aufgeladen). Man kann ungewollt aus Versehen schuldig werden und man kann sich rundherum schuldig fühlen. Für alles. Im Falle des Buches sind beide Söhne für mich nicht schuldig im Sinne der Umtriebe ihrer Vorfahren. Lydia dagegen trägt Schuld, weil sie bewusste Entscheidungen trifft und entsprechend handelt.


    :write
    Das sehe ich ganz genauso.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Mit Schuld und Sühne ist das so eine Sache. Was ist Sühne überhaupt? Wiedergutmachung? Rache? Buße? Es könnte alles sein. Für mich ist alles - bis vielleicht Wiedergutmachung - an Schuld geknüpft. Wenn wir uns auf das Strafrecht beschränken wollen: Voraussetzung ist wenigstens Fahrlässigkeit. Und Schuldfähigkeit, über die könnten wir auch diskutieren.
    Wie kann ich an etwas schuldig werden, dass sich meinem Einfluss entzieht? Trotzdem kann ich das Bedürfnis haben, den Schaden zu begrenzen, wiedergutzumachen. Das ist für mich aber etwas anderes als Sühne.


    Schuld und Sühne sind zwei Begriffe, die ich nicht beschränken kann. Sie haben immer nicht nur eine rechtliche Seite, sondern auch eine moralische, ethische, abgesehen davon für mich auch eine theologische. Über die Letztere werde ich hier kein Wort verlieren, auch wenn sie für mich einen breiten Raum einnimmt.


    Worauf es mir ankommt, kann ich vielleicht an einem Beispiel verdeutlichen, das ich ohne Namensnennung vornehme, weil für Leser, die noch nicht so weit sind, es nicht eine wie auch immer geartete Überraschung geben soll:
    Es möchte wohl die Situation auftreten, in der man über einen Begriff reden könnte, den unser heutiges Strafrecht kennt, nach meiner Vermutung aber nicht das damalige im Vereinigten Königreich, nämlich das des strafbefreienden Rücktritts (§ 24 Strafgesetzbuch). Nimmt man zugunsten der Person, die dies betrifft, dies an, ist die strafrechtliche Seite erledigt. Ist aber damit die Schuld aus der Welt (jetzt mal ganz abgesehen davon, dass man trotzdem immer noch mit einem weiteren Begriff aus dem Strafrecht argumentieren könnte/würde)? Ist, weil die Schuld nur rein rechtlich aus der Welt ist, auch keine Sühne nötig oder möglich? Das glaube ich eben nicht: Die Person hat, ob nun strafbewehrt oder nicht, schwere Schuld auf sich geladen, die immer ein Teil ihrer selbst sein wird. Ihre Sühne liegt für mich weniger, trotzdem aber auch in dem, was sie im Anschluss der Ausführung ihrer Tat tut, sondern in dem, was in ihrem Inneren, in ihrem Gewissen vorgeht (und ich werde mich weigern, die Hoffnung daran aufzugeben, dass die Menschheit sich nicht nur daran erinnert, dass sie ein solches hat, sondern es auch einsetzt, obwohl zugegebenermaßen die Enttäuschungen größer werden). Ihre – tätige – Reue ist Teil dieser Sühne, Scham über Plan und/oder Tat ebenso (und ich meine damit nicht die eventuelle Scham darüber, dass der Plan nicht gelingen könnte). Von dieser Person nehme ich an, dass, egal welches noch zu erreichende Alter Collins ihr zubilligen würde, sie das Ausmaß ihrer Schuld nicht vergessen wird – auch damit sühnt sie, denn in den Momenten, in denen sie sich mit ihrem Plan, ihrem Tun auseinandersetzt, ist sie wieder in ihrer Schuld verhaftet, ist sie nicht frei. Das bedeutet nicht, dass die Person für den Rest ihres Lebens gramgebeugt ist: Die Person muss sich innerlich mit ihrer Tat auseinandersetzen, wenn sie „zur Ruhe kommen will“, sie muss letztlich an einen Punkt kommen, an dem sie sich selbst verzeihen kann (was das in Bezug auf die Vergebung, das Verzeihen des Gegenübers, dem ihr Plan galt, bedeutet, lasse ich jetzt einmal außen vor). Dann hat sie für mich ihre Schuld letztlich gesühnt.
    Das ist nur ein Einzelbeispiel aus dem konkreten Fall des Buches, aber vielleicht zeigt er auf, auf was es mir ankommt. Und von denen, die an der Person schuldig wurden in der Weise, dass sie – die Person – allein in neuer Schuld einen (Aus)Weg sah, wäre ja im Zweifel auch noch zu sprechen.


    Edit möchte noch anfügen, dass ich mir bewusst bin, dass solches Denken als nicht sonderlich modern gilt. Und dass dieses Denken nicht bedeutet, dass man Sekunde für Sekunde darüber nachzudenken hat, welcher Schuld resp. Sühne man sich gerade zu widmen hat.

  • Ich habe jetzt versucht, die Posts gedanklich nachzuvollziehen, aber ich bin wohl zu k.o. - ich werde das wohl bis zum Wochenende, wenn ich - hoffentlich - etwas mehr Ruhe habe, aufschieben müssen.



    Absonsten habe ich in diesem Abschnitt nur an zwei Stellen Zettel stecken:


    S. 393: „Das Leben ist schwierig, Ma’am“, sagte er leise, „und ich finde, je länger es dauert, desto schwieriger wird es.“
    Das kommt mir irgendwie bekannt vor ...


    Und der „andere Name“, von dem Miß Gwilt spricht, hat sich bis zum Ende des Buches ja aufgeklärt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")