Mini-LR d. Querbeet-Lesegruppe: Es geht seinen Gang - Erich Loest (ab 16.9.14)

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Jutta hingegen würde ich das schon zutrauen, aber sie dagt ja selbst, das sie als Unternehmertochter keine Chance auf berufliche Karriere bekommen hat. Ungerecht, aber durch eigenen Erfolg wäre sie nicht auf den vin Wolfgang angewiesen.


    Naja, aber ein Bisschen scheint sie sich auch in der Rolle der Benachteiligten zu gefallen, frei nach dem Motto: Ich hatte ja nie die Chance, sonst...
    Den Elan hätte sie aber auf jeden Fall gehabt, und sie wäre bestimmt keine angenehme Chefin gewesen.

  • Nachdem ich in Eure Mini-Leserunde geschaut habe, bedaure ich ein wenig nicht dabei zu sein. Das gelbe Buch liegt bei meiner Mutter und ich komme leider nicht so schnell nach Hause, um es zu holen.


    Zitat

    Original von Clare: Ich bin überzeugt, dass er es wirklich nicht will, und je weiter ich im Buch komme, um so sicherer bin ich. Ihm reicht das, was er erreicht hat. Er will einfach nur leben, mit seiner Familie glücklich sein, vielleicht auch wieder mit seinen Händen arbeiten, aber er will nicht noch weiter auf der Karriereleiter klettern. Möglicherweise scheut er die größere Verantwortung, die Verantwortlichkeit für Prozesse, die er wegen mangelnder Ressourcen nicht beherrschen kann.


    Ein weiterer Grund für Wülffs Karriereabneigung mag vielleicht auch darin liegen, dass mit steigender Verantwortung eine Nähe zur Partei und den Funktionären gewünscht wurde und Wülff diesen Preis nicht bezahlen wollte.
    Ehrgeiz war in der DDR nicht immer der beste Ratgeber.


    Zitat

    Original von Clare: Die Altbausubstanz ließ man zu DDR-Zeiten großzügig verfallen. Neue Platt bauen ging schneller. Und im Neubau gab es Heizung, Warmwasser aus der Wand, WC in der Wohnung... Bei uns in der Stadt fing man Ende der 80er Jahre, vor der Wende, gerade an, die brüchigsten Altbauten abzureißen. Meine erste Wohnung war eine Teilwohnung im Altbau, also gemeinsamer Flur mit einer weiteren Mieterin hinter unserer Wohnungstür, der einzige Wasseranschluss im Flur mit der anderen Mietpartei zusammen, Klo halbe Treppe, Kochnische ohne Wasser, Ofen sowieso und nur in einem Zimmer...aber ich war glücklich, die überhaupt zu bekommen.


    Das Phänomen veralteter und maroder Wohnungen ist meines Erachtens nicht nur ein Problem der DDR. Selbst in den 1990-er Jahren gab es hier im Westen eine Vielzahl von unmodernisierten Wohnungen mit WC auf halber Treppe. Die Vermieter sahen hier in meiner Stadt auch keine Veranlassung etwas zu ändern, zu groß war die Wohnungsnot vor allem bei Studenten. Die Ausprägung war/ist dennoch nicht vergleichbar mit der Wohnungssituation im Osten.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Nachdem ich in Eure Mini-Leserunde geschaut habe, bedaure ich ein wenig nicht dabei zu sein. Das gelbe Buch liegt bei meiner Mutter und ich komme leider nicht so schnell nach Hause, um es zu holen.


    Ist es das eine richtige alte DDR-Ausgabe? Das originale Gelbe Buch?


    Zitat


    Ein weiterer Grund für Wülffs Karriereabneigung mag vielleicht auch darin liegen, dass mit steigender Verantwortung eine Nähe zur Partei und den Funktionären gewünscht wurde und Wülff diesen Preis nicht bezahlen wollte.
    Ehrgeiz war in der DDR nicht immer der beste Ratgeber.


    Ich habe mal 3. Abschnitt drüber geschrieben, denn genau zu Anfang des 3. Abschnittes erfahren wir, dass Wülff wirklich nicht mal Parteimitglied war. Laut eigenen Aussagen hatte er damit nie etwas am Hut.
    Schon da stellt er eigentlich die Weichen zu seiner Nicht-Karriere. Wenn er in eine Führungsposition, wie Jutta sie erstrebenswert fand, gewollt hätte, dann gab es einfach Schritte, die er nicht auslassen durfte, aber das interessierte ihn eben nicht. Macht ihn das sympathisch? Immerhin hat er es nicht aus Überzeugung oder Rebellion für sich abgelehnt. Schon interessant.


    Zitat

    Das Phänomen veralteter und maroder Wohnungen ist meines Erachtens nicht nur ein Problem der DDR. Selbst in den 1990-er Jahren gab es hier im Westen eine Vielzahl von unmodernisierten Wohnungen mit WC auf halber Treppe. Die Vermieter sahen hier in meiner Stadt auch keine Veranlassung etwas zu ändern, zu groß war die Wohnungsnot vor allem bei Studenten. Die Ausprägung war/ist dennoch nicht vergleichbar mit der Wohnungssituation im Osten.


    Über den Westen zu der Zeit kann ich nicht viel sagen, und ich wollte auch gar nicht behaupten, dass da alles golden gewesen wäre. Aber welcher DDR-Bürger wusste denn wirklich etwas über den Westen?
    Von Verwandten? Naja, die haben manchmal schon etwas aufgeschnitten, so dass man sich wie die arme Verwandtschaft vorkam.

  • Hier ändert sich Wolfi Wülffs Leben endgültig:
    Nachdem er in der Schwimmhalle den Vater von DETLEF als Faschisten beschimpft hat, bricht seine heile Welt auseinander. Jutta nutzt die Gelegenheit und trennt ihn von sich. Er schwankt hin und her Zwischen Selbstmitleid und Erleichterung. Immerhin muss er sich nicht mehr verstellen.
    Gut getan hat ihm mit Sicherheit der einsame Urlaub, auch wenn die Schmerzen seiner Trennung von seiner Tochter da sind, bringen ihn diese Tage voran und in gewisser Weise mit sich selbst ins Reine.


    In diesem Abschnitt erfahren wir auch wieder mehr von seiner Arbeit. Wolfi strahlt jetzt viel mehr Zufriedenheit damit aus, auch wenn er nicht in die SU reisen darf, weil er vom als Faschist Beleidigten verklagt wurde. Er hat keine weiße Weste mehr, und er kommt zu seinem eigenen Erstaunen damit klar.


    Für mich ist er als Mensch hier viel greifbarer als z.B. auf den ersten Seiten. Er ist weniger bequem, sieht rechts und links und die Anderen neben sich.

    - Freiheit, die den Himmel streift -

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  • Hallo Clare,


    ich weiß nicht, ob es sich um eine DDR-Ausgabe handelt. Meine Mutter hat jedenfalls den Auftrag, das Buch herauszusuchen.


    Zitat

    Original von Clare: Schon da stellt er eigentlich die Weichen zu seiner Nicht-Karriere. Wenn er in eine Führungsposition, wie Jutta sie erstrebenswert fand, gewollt hätte, dann gab es einfach Schritte, die er nicht auslassen durfte, aber das interessierte ihn eben nicht. Macht ihn das sympathisch? Immerhin hat er es nicht aus Überzeugung oder Rebellion für sich abgelehnt. Schon interessant.


    Je mehr ich über Deine Schilderungen nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überlegung, dass Loest eine Figur zeigt, die in gewisser Weise ein Antiheld ist. Ein Mensch, der weder Karriere machen möchte noch ein Oppositioneller sein will. Einfach nur Mensch. Sein Leben leben und nicht behelligt werden. So wie es vielen in der DDR ging.


    Zitat

    Original von Clare:Aber welcher DDR-Bürger wusste denn wirklich etwas über den Westen?Von Verwandten? Naja, die haben manchmal schon etwas aufgeschnitten, so dass man sich wie die arme Verwandtschaft vorkam.


    Meine Eltern und ich wussten schon etwas über den Westen. Unsere Familie war geteilt, die Verwandten meiner Mutter lebten fast vollständig im Westen; eine Schwester meines Vaters ist noch rechtzeitig über Berlin abgehauen.
    Als Mitte der 1980-er Jahre Willi Stoph Reiseerleichterungen für Verwandte versprach, durften meine Eltern jeweils getrennt zu runden Geburtstagen oder zur Silberhochzeit in den Westen fahren. Insofern bekamen wir einen völlig anderen Einblick in die Welt des Westens, z.B. das sich ein Teil der Verwandtschaft recht gut stellte, weil sie als Landwirte von Subventionen lebten, während ein anderer Teil sich mit Jobs durchschlug, die mäßig bezahlt wurden.
    Als die Wende dann kam und ich mir den Westen angesehen habe, traf mich der Kulturschock nur bedingt.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Je mehr ich über Deine Schilderungen nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überlegung, dass Loest eine Figur zeigt, die in gewisser Weise ein Antiheld ist. Ein Mensch, der weder Karriere machen möchte noch ein Oppositioneller sein will. Einfach nur Mensch. Sein Leben leben und nicht behelligt werden. So wie es vielen in der DDR ging.


    So wird es sein.
    Er will leben und arbeiten und lieben und er selber sein dürfen.


    Zitat

    Als Mitte der 1980-er Jahre Willi Stoph Reiseerleichterungen für Verwandte versprach, durften meine Eltern jeweils getrennt zu runden Geburtstagen oder zur Silberhochzeit in den Westen fahren. Insofern bekamen wir einen völlig anderen Einblick in die Welt des Westens, z.B. das sich ein Teil der Verwandtschaft recht gut stellte, weil sie als Landwirte von Subventionen lebten, während ein anderer Teil sich mit Jobs durchschlug, die mäßig bezahlt wurden.
    Als die Wende dann kam und ich mir den Westen angesehen habe, traf mich der Kulturschock nur bedingt.


    Wir hatte keine wirklich nahe Verwandtschaft, nur ein paar Entfernte, die wie Wolfis Weihnachtsmann-Vater Pakete schickten vor Weihnachten.

  • Ich finde es interessant, wie Wülff als Ich-Erzähler sich auch durch die Augen von Jutta sieht, sogar seine Mutter befragt, wie er früher war. Als wäre er sich seiner eigenen Persönlichkeit nicht voll bewusst!
    Er ist ein Durchschnittstyp, als Ingenieur eine Stufe über seiner Mutter, die nur Stanzerin war. Das genügt ihm.


    Zitat

    Original von Salonlöwin
    Je mehr ich über Deine Schilderungen nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überlegung, dass Loest eine Figur zeigt, die in gewisser Weise ein Antiheld ist.


    Das ist, glaube ich, ein treffender Ausdruck. Ich kann mich dem anschließen, ich sehe die Figur teils positiv, teils kritisch. Aber ich habe etwas für ihn übrig!


    Obwohl es ein Ich-Erzähler ist, habe ich übrigens keinen Moment Erich Loest selbst vor Augen. Ich werte die Figur nicht als autobiographisch.


    Edit: Ich habe die ganze Zeit überlegt, an welche Figur der Weltliteratur Wolfgang Wülff mich erinnert.
    Jetzt bin ich darauf gekommen: An Johannes Pinneberg, dem Protagonisten aus Hans Falladas Kleiner Mann, was nun.
    Nicht nur, weil es sich da auch um eine Paargeschichte und einem etwas hilflosen (Anti)Helden handelt, sondern auch der Erzählton ist ansatzweise vergleichbar.

  • Ich bin fertig.
    Nachdem Wolfi Wülff an der Scheidung fast zerbrochen wäre, findet er sich wieder. Nicht zuletzt ist es seine Arbeit, die ihn hält und die im ein Gefühl von Wert gibt, auch wenn er die Leiter nicht nach oben klettern wird. Bei seinem Ausfall in der Schwimmhalle bäumte sich noch einmal die Wildheit und der Mut auf, die er in seiner Beatle-Phase hatte, und dann kehrt wieder Ruhe ein.


    "Wolf Wülff - ach, nein, ich war keiner geworden, der das Leben mit scharfen Zähnen packte."(Bei mir Seite 280)
    Was den ganzen Roman hindurch auffällt, ist dass Wolfi ein ziemlich exaktes Bild von sich selbst hat. Er beschönigt nichts, bemitleidet sich aber, größtenteils, auch nicht. Er weiß, wie er ist, und er steht dazu. Ein Antiheld? Ich meine schon.


    Was wir hier gelesen haben, war Alltag in der DDR. Und das wollte Loest wohl auch.
    Ganz zu Anfang konnte ich mit der Figur des väterlichen Freundes und Kollegen Huppel nicht viel anfangen, aber eigentlich schließt er den Kreis. Er ist der Hinweis, wie sich in den Jahren des "real existierenden Sozialismus" die Ideologie abgenutzt hat, wie Ideale und Träume der Erbauer der Bequemlichkeit und dem Schlendrian wichen. Mit vollem Bauch und vom bequemen Sofa aus kämpft es sich nicht gut. Die Mühen der Ebenen...


    Ganz zum Ende findet Wolfgang sogar wieder eine Frau, die so ganz anders ist als seine Ex und doch wieder nicht ;-) Ihr reicht es, wenn er arbeitet und nicht nochmal studiert und Karriere macht, aber ein Trabi wäre schon schön und...
    Wieder ist es die Frau, die schon etwas gespart hat, und so schließt sich der Kreis.


    Ein eigenwilliges Buch!

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Ich finde es interessant, wie Wülff als Ich-Erzähler sich auch durch die Augen von Jutta sieht, sogar seine Mutter befragt, wie er früher war. Als wäre er sich seiner eigenen Persönlichkeit nicht voll bewusst!
    Er ist ein Durchschnittstyp, als Ingenieur eine Stufe über seiner Mutter, die nur Stanzerin war. Das genügt ihm.
    ...


    Ich glaube, dass er seinen Kindheitserinnerungen nicht so recht traut, weil sie nicht unbedingt mit dem zusammenpassen, wie er geworden ist.
    Ich denke schon, dass er sich ziemlich genau einschätzen kann, und dabei schont er sich nicht.

  • Ich hinke etwas hinterher, daher habe ich einige Seiten übersprungen und komme gerade aus dem Schwimmbad!


    Hier konnte ich Wolfgangs Wutausbruch nachvollziehen, obwohl wohl auch eigener, versteckter Zorn mit reinspielt.


    Auf jeden Fall war diese Passage eine Schlüsselszene, wirklich gut geschildert und ausdrucksstark.:anbet



    Offtopic:
    Da dachte ich als Sparfuchs, mach doch bei einer Leserunde mit wo du das Buch schon hast, und dann, inspiriert von der Leserunde: Es geht seinen Gang,
    zum Amazon-Einkaufswagen und bestellt habe ich "Gelindes Grausen Tagebuch 2011-2013" von Erich Loest.


    Aber gegiert danach habe ich schon einige Monate ;-)

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Ich hinke etwas hinterher, daher habe ich einige Seiten übersprungen und komme gerade aus dem Schwimmbad!


    Hier konnte ich Wolfgangs Wutausbruch nachvollziehen, obwohl wohl auch eigener, versteckter Zorn mit reinspielt.]


    Auf jeden Fall war diese Passage eine Schlüsselszene, wirklich gut geschildert und ausdrucksstark.:anbet


    Eindringlicher hätte man die Szene fast nicht schreiben können. Man spürt förmlich, wie sich die Spannung in Wolfgang aufbaut und schließlich explodiert.
    Ich glaube, dass sich hier dir eigentliche Trennung zwischen ihm und Jutta vollzieht, nicht nur für sie sondern auch für ihn. Sie stehen nun wirklich auf unterschiedlichen Seiten eines Flusses, über den sie nicht mehr will und er nicht mehr kann.



    Zitat

    Offtopic:
    Da dachte ich als Sparfuchs, mach doch bei einer Leserunde mit wo du das Buch schon hast, und dann, inspiriert von der Leserunde: Es geht seinen Gang,
    zum Amazon-Einkaufswagen und bestellt habe ich "Gelindes Grausen Tagebuch 2011-2013" von Erich Loest.


    Aber gegiert danach habe ich schon einige Monate ;-)


    So kenne ich dich, Herr Palomar! :grin

  • Im ersten Abschnitt stellte sich für mich auch die Frage, warum Wolfgang und Jutta überhaupt zueinander gefunden haben. Jutta ist die toughe, ehrgeizige Frau, die auch recht viel Kapital mit in die Ehe bringt. Wolfgang eher der Typ, der sich durch´s Leben laviert. Einmal am Leuschnerplatz wollte er sich auflehnen, er wurde gebissen und verliert dadurch jeden Kampfeswillen und jede Motivation. Interessant ist ja auch der unterschiedliche Umgang mit der Tochter Bianca. Wolfgang erzählt Gechichten, alles dauert ewig lange und bei Jutta geht es zack-zack und Bianca liegt im Bett und schläft.


    Nächste Frage: Was treibt einen antriebslosen Menschen von einer Ehe, die ihm äußerlich gut tut in die Arme bzw. den Mund von Brischidd? Dies ist ja eine Art Auflehnung? Hätte er auch den Mumm, wenn ihr Mann nicht blind wäre?


    Sind die Alltagsbeschreibungen authentisch für die DDR?

  • Zitat

    Original von xexos
    Du bist zu schnell für mich. Ich konnte gestern gerade mal den 1. Abschnitt beenden und lese jetzt erst einmal eure Worte dazu.


    Ich hatte die letzten Tage Zeit. Das sieht ab heute ganz anders aus. Da werde ich nicht zum Lesen kommen. Aber ich bin doch noch hier und lese deine Beiträge. :knuddel1


    Zitat

    Im ersten Abschnitt stellte sich für mich auch die Frage, warum Wolfgang und Jutta überhaupt zueinander gefunden haben. Jutta ist die toughe, ehrgeizige Frau, die auch recht viel Kapital mit in die Ehe bringt. Wolfgang eher der Typ, der sich durch´s Leben laviert. Einmal am Leuschnerplatz wollte er sich auflehnen, er wurde gebissen und verliert dadurch jeden Kampfeswillen und jede Motivation. Interessant ist ja auch der unterschiedliche Umgang mit der Tochter Bianca. Wolfgang erzählt Gechichten, alles dauert ewig lange und bei Jutta geht es zack-zack und Bianca liegt im Bett und schläft.


    Ich glaube schon, dass Jutta und Wolfi ineinander verliebt waren. Allerdings wurde zu DDR-Zeiten oft sehr schnell geheiratet, weil man unverheiratet ewig auf eine Wohnung hätte warten müssen. Ehepaare, am besten schnell mit Kind, hatten da viel bessere Chancen. Hätten die beiden vielleicht, wie man es heute macht, erstmal eine Weile zusammen gelebt, dann hätten sie sich vielleicht auch wieder getrennt.
    Der Hundebiss war nur der Auslöser. Schlimmer war, auch wenn er es selber nicht daran festmachen würde, wohl die Reaktionen nach der "Demo" in der Schule. Das Ganze basierte auf prophylaktischer Einschüchterung auch derer, die gar nicht dabei waren. Wenn man nur genug Angst machte, dann nahm man schon den meisten und denen, die wankelmütig oder nur neugierig waren, schon von Anfang an den Wind aus den Segeln.


    Der Umgang des Ehepaares mit der Tochter ist schon sehr unterschiedlich. Jutta ist eher die Zweckmäßige, organisierte. Wolf nimmt sich Zeit, erzählt, liest vor. Das dauert immer länger, glaub mir, ich kenne das. Kinder spüren sehr genau, wer der Eltern bereit ist, auch ein pssr Minuten länger zu bleiben und Ausnahmen zu machen, und das nutzen sie aus. Juttas Umgang mit Bianca machte von Anfang an klar, dass sie noch genug Anderes zu tun hatte, und das wusste auch Bianca. Damit will ich nicht sagen, dass Jutta ihre Tochter nicht liebt.


    Zitat

    Nächste Frage: Was treibt einen antriebslosen Menschen von einer Ehe, die ihm äußerlich gut tut in die Arme bzw. den Mund von Brischidd? Dies ist ja eine Art Auflehnung? Hätte er auch den Mumm, wenn ihr Mann nicht blind wäre?


    Neugier? Abenteuerlust? Die Gelegenheit? Warum geht jemand fremd :gruebel


    Zitat

    Sind die Alltagsbeschreibungen authentisch für die DDR?


    Für mich sind sie authentisch. Ich meine, es gab viele Realitäten, und für jeden sah der Alltag auch etwas anders aus. In der Stadt, wo man mehr Möglichkeiten hatte und es auch mehr zu kaufen gab, anders als auf dem Dorf, wo Zuteilung noch auffälliger war.
    Loest hat ein Lebensgefühl niedergeschrieben, so dass man sich, als DDR-Kind, wiederfinden kann.

  • Eine Passage im 10.Kapitel, die mir außerordentlich gut gefallen hat, ist die in Leipzig in der Kongresshalle, als Wolfgang den Kapellmeister Kurt Masur ein Konzert von Bruckner dirigieren sieht.


    Bis hin zum Gehuste in den Pausen kann man sich das Konzert gut vorstellen und Wolfgangs Gedanken treiben frei.


    Beschreibungen von Musik in der Literatur sind keine einfache Sache. Erich Loest gelingt die Szene so gut, weil er einiges beschreibt ohne allzu viele Details zu bringen.


    Davon inspiriert habe ich gleich mal youtube bemüht, um Kurt Masur dirigieren zu sehen. Die Gewandhalle ist wirklich schön, aber vermutlich nicht der Ort, wo Wolfgang das Konzert sah, obwohl Huppel vom Gewandhaus sprach.


  • Wieso soll er das Konzert nicht im Gewandhaus gehört haben? :gruebel
    Mazur dirigierte schon zu DDR_Zeiten im Gewandhaus, soviel ich weiß.


    Ich stimme dir zu: Musik und ihre Darbietung zu beschreiben und gut zu beschreiben, ist wirklich schwer. Loest macht das wirklich intensiv erleb- und vorstellbar. Das kann nicht jeder. Ich weiß nicht, ob er selber Musikliebhaber war. Weißt du es vielleicht, Herr Palomar? Du hast doch bestimmt eine Biographie gelesen.

  • Zitat

    Original von Clare
    Neugier? Abenteuerlust? Die Gelegenheit? Warum geht jemand fremd :gruebel


    Bei Wolfgang wohl eher Gelegenheit. Bei Brischidd ist er zwar schon ein wenig aktiv, aber ansonsten ist er ja eher derjenige, der sich treiben lässt ("Es geht seinen Gang"). Und die Ehe kriselt ja auch kräftig. Wie das Fremdgehen in der Vergangenheit zustande kam, erfahren wir ja nicht.

  • Zitat

    Original von Clare
    Abhärtung und Ertüchtigung waren zentrale Themen in der Erziehung der sozialistischen Jugend. "Nur in einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist!" war auch so ein Satz.


    Das schafft ja leider immer ganz starke Assoziationen zu einer anderen Diktatur. Handgranatenattrappen mussten ja auch geworfen werden.



    Zitat

    Original von Clare
    Biancas Schwimmtraining ist vielleicht so etwas wie ein Auslöser für Wolfi Wülff.


    Diese Szene war mir auch noch in Erinnerung vom ersten Lesen vor 20 Jahren. Da kommen die unterschiedlichen Charaktere ganz deutlich zum Vorscheinen. Leider haben die beiden auch erhebliche Kommunikationsprobleme. Wann ging der Zoff los? Im September? Er ging auf jeden Fall bis Silvester. Die wichtigste Frage stellt Wolfgang nicht: Was ist Jutta so wichtig am Fernstudium? Was verspricht sie sich davon? Aufwerten des Egos oder soll das einen positiven Effekt für ihre Ehe geben (den ich nicht sehen würde)?



    Zitat

    Original von Clare
    Die Geschichten, die er als Vater seiner Tochter als Lehrstücke erzählt, sind einfach schlimm. Man denke an den Frosch mit dem Sand... :yikes


    Eine etwas seltsame Geschichte, stimmt. Ansonsten finde ich Wolfgangs Umgang mit Bianca sehr gut und liebevoll.



    Zitat

    Original von Clare
    Dabei waren alkoholische Getränke nicht mal billig.


    Aber Bier war günstig, oder? Ich glaube ein Bier hat ca. 20 oder 30 Pfennig gekostet. Ich war 1988 in Ost-Berlin. Tagesausflug "nach drüben" während einer Klassenfahrt nach West-Berlin. Ca. 10 Leute waren wir. Davon hatten irgendwann 5 Leute keine Lust mehr, gaben uns den Rest ihrer 25 Mark Zwangsumtausch und wir sind dann durch diverse Kneipen Ost-Berlins gezogen. Von dem Geld konnten wir mehrere Lokalrunden an Schnäpsen ausgeben und sind es am Ende inklusive Trinkgeld noch nicht mal komplett losgeworden.

  • Zitat

    Original von Clare


    Wieso soll er das Konzert nicht im Gewandhaus gehört haben? :gruebel
    Mazur dirigierte schon zu DDR_Zeiten im Gewandhaus, soviel ich weiß.


    Der Roman wurde 1978 geschrieben. Das neue Gewandhaus wurde jedoch erst 1981 fertiggestellt, das frühere wurde zerstört.
    Wikipedia sagt: von 1946 bis 1981 fanden die Gewandhauskonzerte in der Kongreßhalle am Zoo statt.


    Zitat

    Original von Clare
    Ich weiß nicht, ob er selber Musikliebhaber war. Weißt du es vielleicht, Herr Palomar? Du hast doch bestimmt eine Biographie gelesen.


    Ich weiß es nicht, lese aber schon in seinen Tagebüchern. Sollte es da eine entsprechende Bemerkung zu Musik geben, werde ich es hier zitieren.


    Zitat

    Original von xexos


    Eine etwas seltsame Geschichte, stimmt. Ansonsten finde ich Wolfgangs Umgang mit Bianca sehr gut und liebevoll.


    Das finde ich eigentlich auch. Die beiden verstehen sich gut!



    Ich bin inzwischen auch durch.Ich habe das Gefühl, einen modernen Klassiker gelesen zu haben. Andere Bücher aus dieser Zeit haben mehr gelitten, manche sind heute kaum noch lesbar.


    Ja, es ist wirklich ein eigenwilliges Buch, aber auch ein ganz besonderes, da es den Alltag in der DDR so deutlich zeigt.

  • Zitat

    Original von xexos


    Eine etwas seltsame Geschichte, stimmt. Ansonsten finde ich Wolfgangs Umgang mit Bianca sehr gut und liebevoll.


    Ist er wirklich. Ich glaube schon, dass er sehr an Bianca hängt, mehr als an seiner Frau. Der Umgang mit dieser ist eher von Routine und Gewöhnung und sexueller Anziehung bestimmt als von Liebe und tiefem Gefühl.


    Zitat

    Original von Clare
    Dabei waren alkoholische Getränke nicht mal billig.


    Aber Bier war günstig, oder? Ich glaube ein Bier hat ca. 20 oder 30 Pfennig gekostet. Ich war 1988 in Ost-Berlin. Tagesausflug "nach drüben" während einer Klassenfahrt nach West-Berlin. Ca. 10 Leute waren wir. Davon hatten irgendwann 5 Leute keine Lust mehr, gaben uns den Rest ihrer 25 Mark Zwangsumtausch und wir sind dann durch diverse Kneipen Ost-Berlins gezogen. Von dem Geld konnten wir mehrere Lokalrunden an Schnäpsen ausgeben und sind es am Ende inklusive Trinkgeld noch nicht mal komplett losgeworden.[/quote]


    Bier war billig, aber deine Beträge sind dann doch eher ohne Pfand. Insgesamt war es, glaube ich, billiger in der Kneipe zu trinken als sich die Flaschen selber zu kaufen. Aber wie gesagt, genau weiß ich es nicht, denn ich war noch ziemlich jung. :grin