'Eichmann in Jerusalem' - Seiten 069 - 133

  • @ Voltaire: Ich freue mich sehr, dass du doch dabei bleibst!


    Ich habe eure Beiträge sehr aufmerksam gelesen. Irgendwie habe ich mir ganz andere Stellen angestrichen und frage mich gerade, ob das Sinn macht, das noch zu posten. :gruebel

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Also gut... ;-)


    Mich hat in diesem Abschnitt vor allem die Person Eichmann und seine Ausstrahlung bzw. Wirkung auf Hannah Arendt als auch auf die Richter beschäftigt, ähnlich wie Clare es schon beschrieben hat.
    Das Spannungsfeld zwischen der "Lektion", die der Welt erteilt werden sollte und für dieses Ziel einen denkbar ungeeigneten Angeklagten vor sich zu haben, das ist schon sehr interessant.


    Zitat

    "Es gibt Schlimmeres als den Tod, (...)."


    Seite 81
    Das brauche ich nicht kommentieren.


    Warum der Prozess in Israel stattfand und die Bewertung dessen, habt ihr ja schon ausführlich dikutiert, Das spare ich dann aus.


    Zitat

    "Was er getan hatte, war nur im Nachhinein ein Verbrechen; er war immer ein gesetzestreuer Bürger gewesen, Hitlers Befehle, die er nach bestem Vermögen befolgt hatte, besaßen im Dritten Reich 'Gesetzeskraft'."


    S. 97
    Es stellen sich zwei Fragen: Wie muss jemand ticken, damit er diese Taten ausführt und wie muss er gestrickt sein, dass er im Nachhinein nichts bereut?


    Auf diese Fragen gibt HA eine eindrückliche Antwort, die ich sehr anschaulich finde. Eichmann kommt mir vor wie ein Zug, einmal auf die Schiene gesetzt fährt er durch, konsequent bis in den Abgrund. Es sei denn, es wird ihm zwischendurch zu langweilig.


    Zitat

    "Er jedenfalls wollte nicht zu denen gehören, die nachträglich versichern, 'dass sie immer schon dagegen gewesen waren', wenn sie in Wirklichkeit eifrig getan hatten, was man ihnen zu tun befahl."


    S.97
    Ehrt in das? Oder konnte nur so jemand wie er zum gewissenlosen Todeslieferanten werden und überhaupt so viele Opfer anliefern? Die These, dass er zu stoisch ist, um Schuld zu bekennen, kann ich so noch nicht akzeptieren.
    Aber die Schuld-Frage dikutieren wir ja noch später, gell?


    Zitat

    "...ein halbes Dutzend Psychiater zu dem Ergebnis gekommen, er sei 'normal'(...)"


    S.99

    Zitat

    "Tatsache war ja, daß er 'normal' und keine Ausnahme war und daß unter den Umständen des Dritten Reiches nur 'Ausnahmen' sich noch so etwas wie ein normales Empfinden bewahrt hatten."


    S. 100


    Das ist wirklich eine erschreckende Erkenntnis, aber das habt ihr ja auch schon festgestellt.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    "(...) Wichtigtuerei und Angeben waren ihm offenbar früh zur lieben Angewohnheit geworden."

    S. 103

    Zitat

    "(...) er war eigentlich der deklassierte Sohn aus solidem bürgerlichen Hause, (...)."


    S. 106

    Zitat

    "Eins steht fest - er ist nicht aus Überzeugung in die Partei eingetreten, auch ist nie ein überzeugtes Parteimitglied aus ihm geworden; er wurde vielmehr (...) gewissermaßen in die Partei vereinnahmt, (...)"


    S. 107


    Eichmanns Werdegang finde ich sehr interessant. Aus einem Taugenichts hat er innerhalb der Partei eine Karriere gemacht, die enorm ist. Und das alles, ohne überhaupt von der Progaganda überzeugt gewesen zu sein. Das ist wirklich kaum vorstellbar. Ein solcher Posten aus purer Langweile...

    Zitat

    "(...) seine nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen."


    S. 124


    Funktioniert das Anwerben der radikalen Islamisten ähnlich? Und was sind deren Beweggründe?


    Zitat

    "(...) dem Dilemma zwischen dem namenlosen Entsetzen vor seinen Taten und der unbestreitbaren Lächerlichkeit des Mannes, der sie begangen hat (...)"


    S. 131
    Hier bringt HA meine Gedanken auf den Punkt.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von harimau
    Wie du schreibst, lobt HA ausdrücklich die drei Richter, insbesondere den Vorsitzenden Landau, für ihre "korrekte und humane" Haltung, während sie dem Chefankläger Hausner sehr kritisch gegenübersteht.


    Ich habe allergrößte Hochachtung vor den Richtern. In diesem Prozess objektiv und sachlich zu bleiben erforderte sicher schier unmenschliche Selbstbeherrschung. Würde man sie heute nicht wegen ihrer Herkunft als befangen ablehnen? Aber wer wäre es in so einem Prozess nicht?
    Tatsächlich schaut es so aus, dass sie (nicht nur) den Deutschen zeigen wollten, wie ein fairer Prozess abzulaufen hat.

  • Zitat

    Original von made
    Ich habe allergrößte Hochachtung vor den Richtern. (...) Würde man sie heute nicht wegen ihrer Herkunft als befangen ablehnen?


    Nun, in dem Moment, als Israel sich entschlossen hatte, den Prozess im eigenen Land abzuhalten, dem Land also, das von den Opfern (und deren Angehörigen) des Angeklagten besiedelt wurde, war diese Frage beantwortet. Darauf geht Hannah Arendt ja auch ausführlich ein. Und jede Kritik, die von Anbeginn an an diesem verfahren geäußert wurde, gipfelt stets in genau dieser Frage: Kann die Justiz des Opfervolkes unbefangen den Täter aburteilen?


    Natürlich kann sie das nicht - was das Verhalten der Staatsanwaltschaft, ja, des ganzen Staates Israel und eines Teils der Weltpresse gezeigt hat. Wie könnten die Opfer des schlimmsten Verbrechens der Menschheitsgeschichte einem wichtigen Mann aus der Reihe ihrer Mörder auch unbefangen gegenübertreten?


    Dennoch musste dieser Prozess geführt werden. Und da international niemand sich für zuständig dafür erklärte (und die Bundesrepublik Deutschland schon mal gar nicht), haben die Israelis das selbst in die Hand genommen. Das war nicht nur folgerichtig, sondern überhaupt die einzige Möglichkeit, über Eichmann Recht zu sprechen. Richter Landau hat dann eindrucksvoll - und ständig unter erheblichem politischen Druck - bewiesen, dass selbst mit einer ungeheuren persönlichen Betroffenheit eine saubere Rechtsprechung in Israel möglich war - eine juristische, aber eben auch (Verzeihung, lieber Voltaire) eine geistig-moralische Leistung von historischer Dimension!

  • Bezüglich der Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren gibt es auch gegensätzliche Ansichten zu Hannah Arendt. So fand beispielsweise Raul Hilberg die Prozeßführung des Staatsanwaltes nicht tadelnswert. (Wo habe ich das nur bei Hilberg gelesen? In welchem Buch?)


    Dieser Prozeß konnte international nicht geführt werden, da Verfahren bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur national geführt werden konnten. Ein internationale Gerichtsbarkeit, gestützt auf das Völkerrecht, gab es seinerzeit nicht. Das Nürnberger Gericht war ein Sondertribunal, ausgerichtet um über Kriegsverbrechen zu richten. Grundlage waren hier Vereinbarungen der Aliierten - nicht aber das Völkerrecht (was übrigens kein geschriebenes Recht ist).
    Eichmann war aber im juristischen Sinne kein Kriegsverbrecher. Er wurde aufgrund seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor das Gericht in Israel gestellt.


    Und wie bei allen Gerichtsverfahren, egal welcher Coleur, zählt ausschließlich die juristische Diktion. Andere Sichtweisen, welche auch immer, dürfen keinen Einzug in das Verfahren finden. Ein Gericht sollte nie emotional urteilen, es muss sich allein auf Fakten stützen und diese Fakten dann juristisch bewerten. Entscheidungen nach Sympathie oder Ablehnung haben in einem Verfahren vor einem Gericht nichts zu suchen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Und wie bei allen Gerichtsverfahren, egal welcher Coleur, zählt ausschließlich die juristische Diktion. Andere Sichtweisen, welche auch immer, dürfen keinen Einzug in das Verfahren finden. Ein Gericht sollte nie emotional urteilen, es muss sich allein auf Fakten stützen und diese Fakten dann juristisch bewerten. Entscheidungen nach Sympathie oder Ablehnung haben in einem Verfahren vor einem Gericht nichts zu suchen.


    Das ist der Grundsatz und ich bin sicher, dass der auch beherzigt wird. (Meistens) Nur sind Richter auch Menschen und demzufolge auch menschlichen Regungen unterworfen. Wichtig ist, dass sie sich dessen bewusst sind und ihre Reaktionen insoweit reflektieren.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Und wie bei allen Gerichtsverfahren, egal welcher Coleur, zählt ausschließlich die juristische Diktion. Andere Sichtweisen, welche auch immer, dürfen keinen Einzug in das Verfahren finden.


    So ist es. Und dass dieser Grundsatz im Eichmannprozess weitgehend - wenngleich nicht vollkommen - von Angehörigen des Opfervolkes eingehalten wurde, das eben ist deren geistig-moralisches Verdienst.

  • Die Frage der Zuständigkeit wird im Epilog noch sehr ausführlich diskutiert. Dort wird bspw. angeführt, dass Nazi-Verbrechen, die ausschließlich in Rumänien, Bulgarien Tschechoslowakei etc. begangen wurden, auch in diesen Ländern jeweils verhandelt wurden. In diesen Fällen unterstellte auch niemand eine Befangenheit. Und noch ein paar weitere Argumente wurden dort aufgeführt, warum es zulässig war, diese Gerichtsverhandlung in Israel zu führen. Alternative wäre nur - wie Voltaire schrieb - ein internationaler Gerichtshof gewesen.

  • Zitat

    Original von Saiya


    Erschreckend, wie aktuell das zu sein scheint. Das 2. Kapitel "Der Angeklagte" ist für mich schwer ertragbar. Wie schlicht Eichmann doch eigentlich ist, wie wenig schuldbewusst und so normal. Ich denke immer, wie irre er gewesen sein muss und dann folgt aber sofort die Erkenntnis, dass er genau das nicht war. Das ist ekelerregend.


    Es hört sich ja fast danach an, als ob Eichmann so rein zufällig in die SS geraten wäre, weil halt gerade kein anderer Verein greifbar war.
    Es fällt mir schwer, mich in die Zeit von 1933/34 zu versetzen. Wie weit war damals ersichtlich, was für Vereine NSDAP und SS waren? Zumal sie doch damals versuchten, sich einen bürgerlichen Anstrich zu verpassen. Oder täusche ich mich da? Das soll keinesfalls eine Entschuldigung für Eichmann sein. Auch innerhalb dieser Organisationen gab es Spielräume. Sicher hätte er diesen Job nicht machen müssen, wenn er es nicht gewollt hätte.
    Und er sagte ja selbst, "aber man wußte, wem man sich anschloss" (S. 118).


    In Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" ist von einer Frau die Rede, die in den 40-er Jahren ihren Austritt aus der NSDAP durchsetzte, was sehr mutig war. Ich frage mich, ob das in der Realität häufiger vorkam, ob das überhaupt möglich war.

  • Zitat

    Es hört sich ja fast danach an, als ob Eichmann so rein zufällig in die SS geraten wäre, weil halt gerade kein anderer Verein greifbar war.


    Ich denke, das trifft es ganz gut, made. Hätte er die Möglichkeit gehabt, bei der IG Farben oder wo immer Karriere zu machen, hätte er sich womöglich auch schuldig gemacht, aber anders. Er ist eben an die SS geraten.

  • Zum Thema Nürnberger Gesetze muss ich sagen, dass ich völlig überrascht war, als ich hier las, dass sie bei der jüdischen Bevölkerung eher eine Beruhigung bewirkt hatten. Aber so wie Hannah Arendt es schreibt, ist es sehr plausibel. Aus einer diffusen Gefahr ist ein berechenbarer Zustand geworden, mit dem man sich arrangieren zu können meinte.