Tommi Kinnunen: Wege, die sich kreuzen

  • Tommi Kinnunen: Wege, die sich kreuzen

    Deutsche Verlags-Anstalt 2018. 336 Seiten

    ISBN-10: 3421047715

    ISBN-13: 978-3421047717. 20€

    Originaltitel: Neljäntienristeys

    Übersetzerin: Angela Plöger


    Verlagstext

    In einem Städtchen im Norden Finnlands, 1996. Lahja liegt auf dem Totenbett. Sie kann zurückblicken auf ein langes Leben, in dem sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen konnte: das Fotografieren. Aber eines war ihr nicht vergönnt: körperliche Erfüllung. Ihr treu sorgender Ehemann Onni konnte ihr nicht geben, nach was sie sich sehnte – bis sie sich nach Jahren der unterdrückten Gefühle zu einer grausamen Tat hinreißen ließ. Erst nach ihrem Tod findet ihre Schwiegertochter Kaarina auf dem Dachboden einen Brief, der die entsetzliche Wahrheit ans Licht bringt. Er erzählt von einer Familientragödie, die schon fast hundert Jahre zuvor mit Lahjas Mutter Maria ihren Anfang genommen hat.

    Über das ganze 20. Jahrhundert mit all seinen Erschütterungen spannt dieser epochal-opulente Familienroman. Kunstvoll verwebt Tommi Kinnunen darin die Schicksale von vier Menschen, deren Träume größer sind als die Möglichkeiten, die das Leben offeriert. Und trotz Enttäuschungen erkämpfen sie sich ihr Glück.


    Der Autor

    Tommi Kinnunen wurde 1973 im nordfinnischen Kuusamo geboren, wo auch sein Erstling "Wege, die sich kreuzen" spielt. Heute arbeitet er als Lehrer in Turku, im Südwesten des Landes. Das Buch war ein großer Leser- wie Kritikererfolg und führte die finnische Bestsellerliste wochenlang an. Der Roman war für den renommierten Finlandia-Preis und den Europäischen Literaturpreis nominiert und wurde vielfach ausgezeichnet. "Wege, die sich kreuzen" erscheint in über 20 Ländern.


    Inhalt

    Lahjas Mutter Maria Tuomela wusste schon immer, was sie wollte: einen Beruf als Hebamme im hohen Norden Finnlands, eine eigene Kate und ein Fahrrad. Ob auch ihr Leben mit Kind und ohne Partner so geplant war, wissen ihre Nachkommen nicht; denn in der Familie wurde über heikle Themen stets ausdauernd geschwiegen. So erfahren wir als Leser zwar, wer der Vater von Marias Tochter Lahja war, aber nicht, ob Lahja davon wusste. Maria musste sich ihre Ausbildung und Berufstätigkeit hart erkämpfen. Um 1900 wurden zu Entbindungen zuerst alte, erfahrene „Wehmütter“ aus der Nachbarschaft gerufen. Erst wenn die alten Frauen nicht weiter wussten und Mutter und Kind bereits mit dem Tod rangen, wurde die Hebamme geholt. Wegen ihrer Jugend traute man Maria anfangs wenig zu. Die junge Hebamme legt auf Skiern oder im Rentiergespann bis zu 100km zu einer Entbindung zurück. Wie Maria sich als erste im Dorf ein Fahrrad bestellt und sich selbst das Fahren beizubringen versucht, das muss sehenswert gewesen sein. Warum sollte eine Frau mit Berufsausbildung nicht Radfahren können, fragt Maria sich selbstbewusst.


    Anders als Maria gibt ihre Tochter Lahja viel darauf, was die Leute sagen. Sie arbeitet als Fotografin, auch eine Pionierin in ihrem Beruf, und will mit einem Partner zusammenleben, koste es, was es wolle. Zu dieser Zeit geht eine Frau auf der Dorfstraße noch immer ein paar Schritte hinter ihrem Mann. Maria, Lahja, deren Mann Onni und deren drei Kinder wohnen inzwischen gemeinsam im Haus mit Blick auf die Straßenkreuzung. 1944 wird das Dorf im Krieg evakuiert; das Holzhaus brennt bis auf den gemauerten Schornstein ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Maria auf ihren Wegen zu Entbindungen schon mehr über den Kriegsverlauf erfahren, als andere Finnen wissen dürfen. Den Neuanfang nach dem Krieg erlebt die Familie zunächst in einem einfachen Unterstand, den Soldaten in die Erde gruben. Onni, der nie Held sein wollte, kehrt verändert von der Front zurück. Auch wenn er noch immer ein wunderbarer Vater ist, drängt es ihn zunehmend aus der Vernunft-Beziehung mit Lahja heraus. In den 60ern fühlt Lahja sich von streng religiösen Dorfbewohnern kontrolliert, denen ihr Lebenswandel zu selbstbewusst und zu weltlich ist. Man könnte annehmen, dass Lahja in der Gegenwart weniger frei lebt als ihre Mutter vor einem Jahrhundert.


    Das Zusammenleben von drei Generationen unter einem Dach zeigt sich nach dem Wiederaufbau ihres Hauses alles andere als konfliktfrei. An Marias Körper und ihrem Geist haben die Jahre in bitterer Kälte Spuren hinterlassen. Für ihre Mitmenschen ist sie zur Last geworden. …


    Fazit

    Auch Tommi Kinnunens Großmutter war Hebamme; er stammt aus einer Fotografen-Familie. Mit wechselndem Focus auf Maria, ihrer Tochter Lahja, deren Schwiegertochter Kaarina und Lahjas Mann Onni erzählt der Autor über einen Zeitraum von 100 Jahren deren Familiengeschichte. Icherzähler und allwissender Erzähler wechseln, die Handlung verläuft nicht chronologisch. Briefe werden im Nachlass Marias gefunden, die weiße Flecken in der Familiengeschichte füllen können. Die Kapitel enden häufig mit verblüffenden Wendungen, hinterlassen jedoch Lücken in der Familiengeschichte. Selbst wenn die Lebensläufe sich allmählich verzahnen und Onnis Geschichte aus gutem Grund am Ende steht, bleiben Fragen offen.


    Immer wenn es zu Konflikten mit „den Leuten“ und ihren Konventionen kommt, wird bei Maria und ihren Nachkommen ausdauernd geschwiegen. Wer schweigt, kann seine Last jedoch nicht mit anderen teilen. „Genau so war es“, haben begeisterte Leser auf Tommi Kinnunens Roman reagiert – ob sie außer den Lebensbedingungen im hohen Norden auch diese Schweigsamkeit gemeint haben?


    10 von 10 Punkten

  • Ein Familienroman, der im 20. Jahrhundert in Finnland angesiedelt ist.

    Die Besonderheit dieses Buches ist die Aufteilung und zeitliche Anordnung, in der erzählt wird. Vier Protagonisten werden nacheinander in Blöcken präsentiert bzw. wird aus deren Sicht berichtet. Schnappschüsse aus unterschiedlichen Jahren werden aufgezeigt, zeitliche Überschneidungen bei den jeweiligen Blöcken gibt es nicht, das heißt, man bekommt das gleiche Ereignis nicht aus zwei Perspektiven erzählt, sondern immer neue Begebenheiten.


    Der Effekt ist eine immer stärkere Verzahnung der Protagonisten und ihrer Erlebnisse miteinander. Rückwirkend versteht man immer besser, was man zu Anfang gelesen hat.


    So unterschiedlich ihre Lebenswege und Charaktere auch sind, als Familienmitglieder sind sie miteinander verknüpft. Man sieht, wie das Verhalten des einen, das Leben des anderen beeinflusst, möchte eingreifen, die Menschen wachrütteln, ihnen erklären, was sie nicht wissen, nimmt als Leser Teil an ihren Schicksalen.


    Es geht auch um die Konventionen, welche Zwänge daraus entstehen, den Umgang damit, wie unterschiedlich die Figuren darauf reagieren. Als Leser empfinde ich es beklemmend, wie gefangen die Menschen (vor allem die Frauen) damals waren und bin froh, dass sich in der jetzigen Zeit viele gesellschaftliche Ansichten bereits gewandelt haben. Allerdings macht das Buch auch Mut, denn Stärke zu zeigen und sich nicht immer unterzuordnen, kann sich durchaus lohnen, wie man am Beispiel der Hebamme Maria sieht.


    Tommi Kinnunen hat ein stilistisch tolles Buch geschrieben, mit einem kraftvollen Plot, starken Figuren. Nicht alles wird auserzählt, es bleiben auch bei mir Fragen offen, aber gerade die sind es, die mich noch länger im Buch verweilen lassen.


    10 von 10 Eulenpunkten

  • Auch wenn es ein Familienroman ist, kam es mir doch so vor, als wenn alle Figuren furchtbar einsam gewesen wären. Keiner konnte sich dem anderen anvertrauen, jeder trug seine eigene Last, Trauer und Verzweiflung mit sich herum.

    Dass man aus verletztem Stolz oder auch Unwissenheit zum Verräter wird, dass man mit einer unbedachten Tat unendliches Leid und lebenslangen Kummer herauf beschwört, das wird kunstvoll in dieses Familiendrama eingeflochten.

    Am meisten habe ich aber Onni bedauert und bin froh, dass diese Zeiten, in denen man Homosexualität für eine psychische Erkrankung hielt, mit allen schrecklichen Konsequenzen für die Menschen, vorbei sind.


    Beeindruckend 10 Punkte

  • Das Buch entführte mich in eine mir bisher literarisch weitgehend unbekannte Region dieser Welt, nämlich das ländliche Finnland vergangener, zum Teil weit vergangener Zeiten.

    Der Autor hat mit einer faszinierenden Erzählweise die Lebensgeschichten von vier Figuren – der Hebamme Maria, ihrer Tochter, der Fotografin Lahja, deren Mann, dem Soldaten und Zimmermann Onni, und der Schwiegertochter Kaarina – ineinander verwoben: In jeweils mehreren bruchstückhaften Ausschnitten aus den jeweiligen Leben wird eine Entwicklung gezeigt; in den nacheinander erfolgenden und oft erst später zu verstehenden Überkreuzungen wird diesen Entwicklungen der nötige Hintergrund oder manchmal auch ein nur im Nachhinein zu durchschauender Sinn verliehen. Diese Kreuzungen der Lebenswege und die damit verbundenen unterschiedlichen Perspektiven haben für mich den größten Reiz dieses Buches ausgemacht. Aber auch die Lebenswege an sich fand ich lesenswert, spannend und zum Teil sehr berührend, zum Teil aber auch nicht so recht nachvollziehbar.

    Ansonsten habe ich dieses ruhig erzählte und trotzdem nicht weniger bewegende Buch sehr gern gelesen, vergebe 9/10 Punkten und danke Buchdoktor herzlich dafür, dass sie es wandern lässt. :blume