Dostojewski

  • Dieses Zitat von Bahr ist auch nicht schlecht:


    "Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit, freilich weiß er es aber nicht, denn nur einen geringen Teil von uns haben wir inne. Erziehung, Gewohnheit, Beispiel, Umgebung, Beruf, die Nötigung, andere über uns zu täuschen, ja auch uns selbst, der Wunsch, mit den Forderungen, die die Welt an uns stellt, übereinzustimmen, das Bedürfnis, uns bequem handhaben zu können, alles wirkt zusammen, um uns eine besondere Rolle zuzuweisen und uns so darin zu bestärken, als wären wir wirklich nichts anderes mehr. Nur ein starker Schlag des Schicksals, ungeheures Glück oder tiefstes Leid, reißt zuweilen für einen Augenblick unser Inneres auf und läßt uns vor dem Getümmel von Menschen erschaudern, das wir sind. Dann erkennen wir, einen Augenblick lang, was alles in uns versammelt ist, unfaßlich für das winzige Ich, das wir uns herausgefischt haben, erkennen es und – wenden uns ab; wir können den furchtbaren Anblick nicht ertragen, wir wenden uns ab und verkriechen uns in unserer Enge wieder. Wie ein solches großes Schicksal tritt Dostojewski seine Gestalten an und sprengt ihre Form, reißt ihre Tiefen auf und stößt sie in das Chaos zurück, dem sie sich entwunden haben; er stellt den Urzustand wieder her."


    Dass ich sehr vom Guten im Menschen überzeugt wäre, denke ich eigentlich nicht; aber vielleicht ist es ja so, und Du hast das entdeckt.

  • mit diesem zitat stimme ich nicht unbedingt überein, zumindest nicht mit allem. das klingt mir viel zu kollektivistisch und zu wenig individuell gedacht. was Dostojewskis romane ausmacht, sind ja die außergewöhnlichen individuen - wie wir schon festgestellt haben - die etwas in ihrem persönlichkeitskern tragen, das sie antreibt. auch dazu, dass es irgendein "traumatisches" erlebnis sein soll, dass einem dabei helfen soll, sich selbst zu erkennen, finde ich im leben keinen beweis. ich habe mich schon oft gefragt: jeder mensch steht irgendwann vor der pforte, die über das leben hinausreicht - der wichtigste und endgültigste schritt, den man machen kann. und bei all diesen myriaden von menschen, die diesen schritt bereits tun mussten, sollte es doch so sein, dass die menschheit daraus irgendeine gröbere, weitumfassendere erkenntnis gezogen hat. - über das leben, wie man leben sollte, was am ende wichtig ist. aber das ist nicht so - nur bei einzelnen persönlichkeiten-, weil eine erfahrung nur so viel wert ist, wie der mensch der sie macht (ich meine mich zu erinnern, dass es dazu eine aphorismus von f. nietzsche gibt, aber ich finde den gerade nicht). ich kann mich auch an eine alte simpsons folge erinnern, in der Lisa zu Bart - als er glaubte, seine seele and Milhouse verkauft zu haben - meint, dass es philosophen gibt, die meinen, dass die seele nichts ist, was einem geschenkt wird, sondern man muss sie sich durch arbeit und gebet verdienen. für die ungläubigen lassen wir das gebet mal außen vor, aber ich habe die letzten wochen über diesen satz nachgedacht, und ich denke, dass er nicht falsch ist. die persönlichkeit und der innere kern - auch wenn sie maßgeblich von natur vorgegeben sind - sind etwas, an der man arbeiten muss; Oswald Spengler meinte, dass die seele größer und strahlender wird, je einsamer sie steht und je mehr sie gezwungen ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen (auch wenn er den begriff seele wahrscheinlich nicht in einem sprituellen kontext verwendet hat). alles in allem will ich sagen, dass ein einzelnes zentrum von wünschen und gedanken gibt, das man für sich selbst gewählt hat - das eben die tiefe einer person ausmacht, das ganz und gar nicht chaotisch oder "vielmenschlich" ist, unabhängig von allen gesellschaftlichen umständen. das sieht man zum beispiel auch im Raskolnikow oder im Fürsten oder in Swidrigailow oder bei jedem großen denker und philosophen.



    zu deiner eigenen persönlichkeit möchte ich eigentlich keine großen urteile machen, ich bin kein freund von küchenpsychologie. aber wenn du meinst, dass ich mit irgendeiner aussage richtig liege, stimmt das vielleicht auch. es fällt mir nur auch daran auf, dass du meintest, dass du eine natürliche abneigung hast gegen besonders "häßliche" szenen in seinen romanen. es spricht für hohe sensibilität der bösartigkeit gegenüber, die man eigentlich nur haben kann, wenn man selbst nicht viel bosheit in sich hat.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • auch dazu, dass es irgendein "traumatisches" erlebnis sein soll, dass einem dabei helfen soll, sich selbst zu erkennen, finde ich im leben keinen beweis.

    Ich denke schon, dass manche Leute durch einschneidende Erlebnisse zu einer Selbsterkenntnis finden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass da die Wahrscheinlichkeit nicht höher wäre als in anderen Situationen.

    und bei all diesen myriaden von menschen, die diesen schritt bereits tun mussten, sollte es doch so sein, dass die menschheit daraus irgendeine gröbere, weitumfassendere erkenntnis gezogen hat. - über das leben, wie man leben sollte, was am ende wichtig ist. aber das ist nicht so - nur bei einzelnen persönlichkeiten-, weil eine erfahrung nur so viel wert ist, wie der mensch der sie macht

    Was lernen wir aus der Geschichte? Dass wir aus der Geschichte nichts lernen.

    die persönlichkeit und der innere kern - auch wenn sie maßgeblich von natur vorgegeben sind - sind etwas, an der man arbeiten muss; Oswald Spengler meinte, dass die seele größer und strahlender wird, je einsamer sie steht und je mehr sie gezwungen ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

    Sicherlich muss man daran arbeiten. Zeiten der Einsamkeit können einem dabei unter Umständen helfen, aber vielleicht dadurch, dass man durch Einsamkeit eher in innere Krisen kommt. Zu viel Einsamkeit kann aber auch gefährlich sein (siehe Raskolnikow, Iwan Karamasow etc.), weil man ohne Halt von außen mit der eigenen Seele vielleicht nicht fertig wird.

    es spricht für hohe sensibilität der bösartigkeit gegenüber, die man eigentlich nur haben kann, wenn man selbst nicht viel bosheit in sich hat.

    Du solltest anderen Leuten nicht so große Komplimente machen; am Ende glauben sie noch dran :--)

  • Ich denke schon, dass manche Leute durch einschneidende Erlebnisse zu einer Selbsterkenntnis finden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass da die Wahrscheinlichkeit nicht höher wäre als in anderen Situationen.

    das mag schon so sein, irgendeine information auf die der geist dann reagieren kann, braucht man ja immer. aber eine erfahrung muss auch etwas in einer person ansprechen, um wirkung zu haben (egal in welcher hinsicht, welche erkenntnis man auch immer aus einer gewissen erfahrung folgern will), und wenn dieses etwas nicht vorhanden ist, dann passiert einfach - nichts...oder sehr wenig. oder man kann es vielleicht einfach nicht kommunizieren, was denn eigentlich in einem dadurch verändert ist, weil man es selbst nicht weiß. ich will aber auch nicht sagen, dass man sich selbst allgemein am schlechtesten erkennt - wenn ein mensch irgendetwas weiß, dann weiß er zumindest etwas über sich selbst.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • das mag schon so sein, irgendeine information auf die der geist dann reagieren kann, braucht man ja immer. aber eine erfahrung muss auch etwas in einer person ansprechen, um wirkung zu haben (egal in welcher hinsicht, welche erkenntnis man auch immer aus einer gewissen erfahrung folgern will), und wenn dieses etwas nicht vorhanden ist, dann passiert einfach - nichts...oder sehr wenig.

    Da stimme ich zu. Es ist schon deutlich wichtiger, was in der Person innerlich da ist, als was die äußere Situation ist. Bei einem Dimitri Karamasow oder einem Raskolnikow, zum Beispiel, gibt es fast nur deshalb Hoffnung auf eine positive Veränderung, weil sie schon irgendwo innerlich darauf vorbereitet sind und sie schon länger mit sich selbst gerungen haben. Obwohl ihre Krisensituationen natürlich extrem sind.

    ich will aber auch nicht sagen, dass man sich selbst allgemein am schlechtesten erkennt - wenn ein mensch irgendetwas weiß, dann weiß er zumindest etwas über sich selbst.

    Ich würde schon sagen, dass man oft Dinge über andere Menschen sehr klar erkennen kann, obwohl diese gar kein Bewusstsein dafür haben. Über sich selber weiß man viel mehr als über Andere, aber gerade in wichtigen Punkten ist man den eigenen Fehlern gegenüber oft blind oder sehr nachsichtig, während man manche Fehler der Anderen deutlich sieht.

  • Ich würde schon sagen, dass man oft Dinge über andere Menschen sehr klar erkennen kann, obwohl diese gar kein Bewusstsein dafür haben. Über sich selber weiß man viel mehr als über Andere, aber gerade in wichtigen Punkten ist man den eigenen Fehlern gegenüber oft blind oder sehr nachsichtig, während man manche Fehler der Anderen deutlich sieht.

    da stimme ich dir ebenso zu, wie ein mensch tatsächlich auf seine umgebung wirkt, ist für einen selber sogar fast nicht zu ergreifen, auch nicht für die intelligentesten und scharfsichtigsten, aber man weiß zumindest, was selber in einem vorgeht, oder zumindest zum teil. und jede aussage was tatsächlich in einem menschen vorgeht, kann von außen immer nur spekulativ sein - auch wenn diese einschätzung vielleicht nah an der wahrheit ist - weil es nun mal unmöglich ist, in den geist eines menschen hineinzusehen. die ersten rationalisten haben ja deswegen die grundlage jeder wahrheit in die eigene vernunft oder das denken gelegt, weil es das einzige ist, das sicher ist. ich will aber auch nicht ausschließen, dass es sehr wohl menschen gibt, die besser erahnen können, was die antreibenden mechanismen im leben und handeln anderer sind, besser als diese anderen es selbst können (ist ja auch der grund wieso es solche disziplinen wie die psychologie und psychiatrie gibt). das hat aber mehr damit zu tun, dass sie das große motiv im leben eines menschen interpretieren können. anders gesagt, ist es leicht für eine person eine aussage darüber zu machen, wieso er eine einzelne handlung vollzieht, aber aus der summe seiner handlungen, motive und gefühle ein gesamtbild zu formen und darauf zu schließen, was einem selbst tatsächlich wichtig ist (das sind dann vielleicht die sogenannten "werte"; ich habe länger gebraucht, bis ich mir eine vorstellung von diesem begriff machen konnte), ist eine große kunst, die nur die wenigsten beherrschen. das sind dann vielleicht die, die man als menschenkenner bezeichnet.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Haruspex ()

  • Ich denke, das ist auch etwas, was ich an Dostojewski und Tolstoi sehr mag, dass sie wohl relativ gute Menschenkenner waren, auch sich selbst intensiv reflektierten und das dann in ihren Büchern sehr ehrlich (über sich selbst) und eindrücklich darstellen konnten. Vor allem Tolstoi oft auch in sehr humorvoller/sarkastischer Weise, Dostojewski eher in dramatischer und erschreckender Weise.


    Man kann sich bei anderen Menschen natürlich in aller Regel nicht zu 100 Prozent sicher sein, aber manche grundlegenden Absichten oder Motive kann man ab und zu schon mit 99 Prozent Sicherheit erkennen, denke ich. Manche Leute (vor allem junge) sind schon manchmal wie ein offenes Buch.

  • Dostojewski hatte auch humor. mir fällt gerade eine stelle in die Dämonen ein (ich denke es war darin), in der stavrogins mutter auf einem ball von einem alternden general begleitet wird, der über 1 1/2 seiten nur unsinn redet. solche absurden szenen wiederholen sich in seinen romanen.

    habe desöfteren herzlich lachen müssen. es fügt sich auch immer ganz gut in die handlung ein. von Tolstoi kenne ich das weniger, aber ich habe auch keinen seiner großen romane gelesen (mir lagen die novellen sehr viel mehr).


    und ja, da stimme ich dir zu, ich würde sogar sagen, die meisten menschen sind relativ leicht zu durchschauen. dennoch fällt mir da gerade eine szene in einem von Camus romanen ein (ich halte nicht allzu viel von ihm, aber das ist mir zumindest in erinnerung geblieben): Der protagonist beobachtet eine andere figur als er gerade in einer telefonzelle telefoniert, er sieht ihm also so dabei zu und plötzlich stellt sich ihm die frage, wofür dieser mensch überhaupt lebt. wenn man beginnt sich solche fragen in kontakt mit anderen zu stellen, merkt man irgendwie, dass man nur sehr wenig weiß, auch wenn man in anderer hinsicht sehr viel zu wissen glaubt.


    aber eigentlich komme ich nur ins schwatzen. ich würde insgesamt auch sagen, dass menschen nicht allzu schwer zu durchschauen sind, solange sie nicht vom durchschnitt abweichen. mit geld, arbeit, frauen/männer, streben nach sozialer anerkennung und aufstieg sowie seichter unterhaltung lässt sich der großteil ihres alltags und lebens beschreiben. aber es gibt glaub ich in jedem menschen einen teil, der tiefer geht; viele wissen es nur nicht.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Haruspex ()

  • Ok, bei Tolstoi hatte ich tatsächlich gerade nur an die Romane gedacht; ich lese gerade "Krieg und Frieden" und "Auferstehung" parallel. Gerade "Auferstehung" ist in einigen Kapiteln die reinste Satire, über Gerichtsbeamte, das Rechtswesen der damaligen Zeit, die orthodoxe Kirche, politische Bewegungen etc. . Über Dostojewski habe ich vor kurzem das Buch "Dostojewskis Gelächter - die Entdeckung eines Großhumoristen" (E. Henscheid) gelesen; der Autor beweist auf etwa 300 Seiten, dass Dostojewski mehr oder weniger einer der größten Humoristen der Weltliteratur ist.


    Bei Dostojewski kommen, glaube ich, öfters verhaute Generäle a.D. vor; ich erinnere mich da an General Iwolgin und die Geschichte mit dem Bologneser-Hündchen im "Idiot".

    ich würde insgesamt auch sagen, dass menschen nicht allzu schwer zu durchschauen sind, solange sie nicht vom durchschnitt abweichen. mit geld, arbeit, frauen/männer, streben nach sozialer anerkennung und aufstieg sowie seichter unterhaltung lässt sich der großteil ihres alltags und lebens beschreiben.

    Ziemlich gut zusammengefasst, würde ich mal sagen. Die grundlegenden Motive/Antriebskräfte sind meist die gleichen.

  • Dieses Zitat von Bahr ist auch nicht schlecht:


    "Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit, freilich weiß er es aber nicht, denn nur einen geringen Teil von uns haben wir inne. Erziehung, Gewohnheit, Beispiel, Umgebung, Beruf, die Nötigung, andere über uns zu täuschen, ja auch uns selbst, der Wunsch, mit den Forderungen, die die Welt an uns stellt, übereinzustimmen, das Bedürfnis, uns bequem handhaben zu können, alles wirkt zusammen, um uns eine besondere Rolle zuzuweisen und uns so darin zu bestärken, als wären wir wirklich nichts anderes mehr. Nur ein starker Schlag des Schicksals, ungeheures Glück oder tiefstes Leid, reißt zuweilen für einen Augenblick unser Inneres auf und läßt uns vor dem Getümmel von Menschen erschaudern, das wir sind. Dann erkennen wir, einen Augenblick lang, was alles in uns versammelt ist, unfaßlich für das winzige Ich, das wir uns herausgefischt haben, erkennen es und – wenden uns ab; wir können den furchtbaren Anblick nicht ertragen, wir wenden uns ab und verkriechen uns in unserer Enge wieder. Wie ein solches großes Schicksal tritt Dostojewski seine Gestalten an und sprengt ihre Form, reißt ihre Tiefen auf und stößt sie in das Chaos zurück, dem sie sich entwunden haben; er stellt den Urzustand wieder her."


    zu diesem zitat: als ich dir zum ersten mal darauf geantwortet habe, war mir das folgende schon bewusst, ich wollte nicht zu sehr vom thema abschweifen- und war auch zu faul dafür-; der anlass momentan ist jedenfalls, dass ich zur zeit C.G. Jungs essay sammlung "Die Wirklichkeit der Seele" lese. mein standpunkt, dass das eine viel zu kollektivistische denkweise ist - um genauer zu sein, es erweckt den eindruck, als wäre in der tiefe eines menschen nicht mehr als das vielmenschliche und in jedem menschen vorhandene -, ist allerdings immer noch derselbe.


    Jung beschreibt vorallem in seinen essays über die traumdeutung sehr viel über das seit urzeiten vorhandene unbewusste (wie in jedem tier) im menschen. über verhaltens- und denkweisen, instinkte undsoweiter, dinge, die eben auf die gedankenwelt der primitiven stammesgesellschaften zurückzuführen sind, in der sich der einzelne nicht vom stammesgenossen unterscheiden durfte und der wille der gemeinschaft auch dein eigener sein musste (wie heute in einem wolfsrudel). diese welt offenbart sich im traum, wenn die zu meist oberlächlichen bewussten gedanken ausgeblendet werden und etwas aus der tiefe deiner seele mit dir spricht. im regelfall enthält auch jeder instinkt mehr weisheit als ein gedanke, weil er durch jahrunderte "evolutionärer" (in ermangelung eines besseren begriffes; ich habe mich selbst viel mit evolution beschäftigt, und die gängige theorie halte ich in vielerlei hinsicht für unzureichend; aber das fass mache ich jetzt nicht auf) entwicklung geprägt wurde. so viel also zum thema "vielmenschlich". ein anderes essay - "Vom Werden der Persönlichkeit" - beschäftigt sich mit der individualisierung eines menschen, eben die entwicklung der persönlichkeit, die trotz dieses zweifellos vorhandenen hintergrundes stattfindet. ich kann es dir nur sehr empfehlen, es dauert nicht länger als eine halbe stunde zu lesen. lustigerweise auch hier ein zitat das den begriff "einsamkeit" enthält:


    "Das Wort <Viele sind berufen, und wenige sind auserwählt>, gilt hier wie nirgends; denn die Entwicklung der Persönlichkeit aus ihren Keimanlagen zur völligen Bewußtheit ist ein Charisma und zugleich ein Fluch: ihre erste Folge ist die bewusste und unvermeidliche Absonderung des Einzelwesens von der Ununterschiedenheit und Unbewußtheit der Herde. Das ist Vereinsamung, und dafür gibt es kein tröstlicheres Wort. Davon befreit auch keine noch so erfolgreiche Anpassung oder noch so reibungslose Einpassung in die bestehende Umgebung, keine Familie, keine Gesellschaft und keine Position. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist ein solches Glück, das man nur teuer bezahlen kann."

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von Haruspex ()

  • Oh hallo :--) long time no see; schön, wieder von dir zu hören!


    Danke für den Hinweis auf die Essays von C.G. Jung; ich denke, ich kann mir das Buch am Montag aus der Bücherei ausleihen. Oder gibt es den Essay vielleicht auch als pdf oder so im Netz?


    Das Zitat von Hermann Bahr würde ich spontan auch mal als viel zu kollektivistisch einstufen, aber trotzdem sehr interessant. Auf den Begriff des kollektiven Bewusstseins bin ich erst einmal, und zwar im Zusammenhang mit "Krieg und Frieden" hingewiesen worden; in einem "Zeit"-Artikel heißt es:


    "Sogar den Begriff des kollektiven Unbewussten erfand man viel später, ohne zu merken, dass Tolstoj mit seiner Idee des bienenstockartigen 'Volksbewusstseins' dieser Vorstellung sehr nahe kam: 'Masse Mensch'."


    Gestern Abend habe ich noch dieses Zitat aus "Krieg und Frieden" dazu gefunden, auch wenn der Kontext hier eher das Geschichtsverständnis ist:


    "Nur wenn wir einen unendlich kleinen Einzelteil (das Differential der Geschichte, d.h. die gleichartigen Bestrebungen der Menschen) zum Gegenstand der Betrachtung machen und uns auf die Integralrechnung verstehen (die Kunst, die Summe dieser unendlich kleinen Einzelteile zu berechnen), nur dann können wir hoffen, zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen. (…)

    Um die Gesetze der Geschichte zu studieren, müssen wir in dem Gegenstand der Betrachtung einen vollständigen Wechsel vornehmen, müssen die Herrscher, Minister und Generale beiseite lassen und die gleichartigen, unendlich kleinen Triebkräfte untersuchen, durch welche die Massen sich leiten lassen."

    (sorry, ich hab gestern kein besseres Zitat gefunden, und ich weiß auch nicht, ob es so gut zum Thema passt; ich hab 'Krieg und Frieden' auch bisher nur teilweise gelesen)

  • ebenso hallo!


    leider wirst du das online kaum finden, habe gerade selbst nachgeforscht ob das irgendwo zu kriegen ist.


    den punkt mit "müssen die Herrscher, Minister und Generale beiseite lassen" finde ich lustig. viele historiker - darunter auch sehr intelligente - erforschen die geschichte nach allgemeinen geistigen bewegungen, nach strömungen, die das volk mit sich gezogen haben. anders gesagt, nach dem dort gültigen zeitgeist. ich habe mir in letzter zeit einige gedanken zu dieser thematik gemacht und ich glaube, dass man den ursprung dieser geistigen strömungen wohl kaum im volk finden wird, sondern gerade in diesen "herrschern, ministern, generalen" oder eben der geltenden elite. so wie eine revolution nie vom volk ausgeht sondern von den demagogen, die sich unzufriedenheit zu nutze machen um sich selbst an die sptze zu setzen, geht wohl auch keine entwicklung voran, ohne dass irgendjemand dieser speziellen gruppe es will. wenn es etwas gibt, dass die masse auszeichnet, dann ist es trägheit und orientierungslosigkeit. das 20 jht mit seinen großen "führern" ist dafür ein sehr gutes beispiel. es ist - wie Jung das ebenso teilweise beschreibt - in erster linie das individuum, das die richtung der entwicklung vorgibt. wer weiß, was aus der deutschen literatur geworden wäre ohne Goethe, oder aus Deutschland ohne Bismarck, aus frankreich ohne Napoleon..... unabhängig davon gibt es natürlich auch bewegungen, die tatsächlich aus dem volk kommen und anpassungen der regionalen elite erfordert haben ....vornehmlich religiöse, wie z.b. das Christentum zur römerzeit - die aber trotzdem ihre anführer (der Heiland erstrangig oder Paulus) gebraucht haben. es gibt eigentlich keine einzige große bewegung, der man nicht irgendeine leitfigur zuordnen könnte.


    aber ich maße mir nicht an, bessere geschichtskenntnisse zu haben als ein historiker. über viele dinge weiß ich nur sehr oberflächlich bescheid. das ist nur meine aktuelle interpretation der sache.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • Ich stimme dir darin zu, dass einzelne Personen wie z.B. ein Napoleon oder ein Alexander d.Gr. großen Einfluss auf die Geschichte nehmen können und natürlich auch große Verantwortung haben. Allerdings muss man zum einen einschränkend bedenken, dass die meisten Herrscher in der Regel (denke ich) weitgehend Marionetten von mächtigen Lobbygruppen sind. Zum anderen sind sie Kinder ihrer Zeit und geprägt von dem Einfluss sehr vieler Mitmenschen, aus der gesamten Bevölkerung. Und auch wenn es ihnen (oder auch einer Elite) gelingt, die Bevölkerung über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg zu prägen, obwohl die ursprüngliche Einstellung der Bevölkerung der Entwicklung nicht entspricht, denke ich, dass in dem Fall oftmals früher oder später eine Gegenreaktion einsetzen wird und sich solche Einflüsse dann auch über längere Zeit hinweg weitgehend "herausmitteln" können.


    In "Krieg und Frieden" hab ich noch dieses Zitat gefunden:


    "Das Leben eines jeden Menschen hat zwei Seiten: ein persönliches Leben, welches um so freier ist, je abstrakter seine Interessen sind, und ein elementares Leben, ein Herdenleben, bei dem der Mensch unweigerlich die ihm vorgeschriebenen Gesetze erfüllt."

  • es gibt ein gutes beispiel, in dem diese prägung nicht gelingt. Echnaton wollte die antiken ägyptern zu einer monotheistischen anschauung bewegen und aton zum höchsten und einzigen Gott erklären lassen. prinzipiell lässt sich sagen, je stärker die überzeugungen sind, die überwunden werden müssen, desto weniger lassen sich veränderungen durch einzelne durchsetzen. eigentlich auch relativ einleuchtend.


    deine aussage mit den lobbygruppen mag nicht falsch sein - das mag es durchaus geben (vorallem heutzutage); wie es vor 200 jahren aussah - darüber kann ich auch nur spekulieren, allerdings muss man jenen herrschern vergangener tage zu gute halten, dass sie sich einem weitaus streitfreudigeren und erbarmungsloserem klima durchsetzen mussten, was eher für sie spricht. ich will da niemanden unter wert beurteilen.

    und trotzdem setzt sich ja auch diese lobbygruppe aus menschen zusammen, die gewisse ziele verfolgen. nur weil sie sich nicht für alle sichtbar in der öffentlichkeit präsentieren, heißt das ja nicht, dass sie nicht trotzdem führend sind.


    was den charakter eines menschen am ehesten zeichnet - von geburtsgaben bis mitmenschen und erziehung - sei dahingestellt, aber es ist keineswegs so, dass es sich bei einer gesellschaft um eine komplett homogene erscheinung handelt. zum beispiel haben sich allein schon im deutschland des 18 jhts gravierend die lebensumstände und ideale des höheren vom niederen adels unterschieden (und das war schon eine relativ kleine gruppe; in Freiherr von Knigges "Über den Umgang mit Menschen" kannst du einiges darüber nachlesen ). desweiteren entscheidet man ja ab einem gewissen punkt selbst, mit welchen mitmenschen man sich umgibt. worauf ich hinaus will: der eigene wille gestattet es, dass man sich jederzeit selbst entscheiden kann, welchen einfluss man zulässt. dafür gibt es genug möglichkeiten.


    aber ich weiche jetzt auch vom thema ab. das Tolstoi zitat ist nicht schlecht, auch wenn es zu grob formuliert ist für meinen geschmack.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • Tolstoi argumentiert z.B. so:


    "Wodurch wurde [der Russlandfeldzug] herbeigeführt? Welches waren seine Ursachen? Die Historiker sagen mit (…) Zuversichtlichkeit, die Ursachen dieses Ereignisses seien gewesen: das dem Herzog von Oldenburg zugefügte Unrecht, die Verletzung des Kontinentalsystems, die Herrschsucht Napoleons, die Charakterfestigkeit Alexanders, die Fehler der Diplomaten usw.

    Somit hätten nur Metternich, Rumjanzew oder Talleyrand zwischen der Cour und dem Rout sich mehr Mühe zu geben und ihre Noten kunstvoller zu redigieren brauchen oder Napoleon hätte nur an Alexander zu schreiben brauchen: 'Mein Herr Bruder, ich erkläre mich bereit, dem Herzog von Oldenburg das Herzogtum zurückzugeben' - dann wäre es nicht zum Krieg gekommen."


    Er beschreibt dann seine Sichtweise:


    "In gleicher Weise hätte es nicht zum Krieg kommen können, wenn England nicht intrigiert und es keinen Herzog von Oldenburg gegeben und Alexander sich nicht beleidigt gefühlt und Russland keine autokratische Regierung gehabt hätte, und wenn nicht die Französische Revolution gewesen wäre und im Anschluss daran die Diktatur und das Kaiserreich und vorher alles, wodurch die Französische Revolution hervorgerufen wurde, usw., usw. Hätte eine einzige dieser Ursachen gefehlt, so hätte es zu nichts kommen können. Also haben alle diese Ursachen, Milliarden von Ursachen, zusammengewirkt, um das herbeizuführen, was geschehen ist. Und folglich war nichts die ausschließliche Ursache jenes Ereignisses"


    Richtig, die Lobbygruppe oder die Elite setzt sich aus Menschen zusammen, aber das sind dann schonmal mehr als ein Einzelner, und diese sind wiederum von verschiedenen Menschen aus der Umgebung beeinflusst oder von wirtschaftlichen Notlagen etc. Übrigens denke ich, dass es solche Lobbygruppen fast schon immer gegeben hat; Herrscher sind in der Regel von politisch und wirtschaftlich einflussreichen Personen umgeben.


    Dass man selbst entscheiden kann, welchen Einflüssen man sich aussetzt, ist auch weitgehend richtig, aber in manchen Fällen erkennt man ungute Einflüsse gar nicht, weil man z.B. Kind seiner Zeit ist und sie als normal empfindet. Oder man merkt gar nicht, was für einen starken Einfluss andere Menschen auf einen selbst ausüben oder in der Jugendzeit, als man sich vielleicht weniger gegen Einflüsse wehren konnte, ausgeübt haben. Und die Entscheidungen von historisch einflussreichen Individuen sind vielleicht auch viel mehr durch andere Menschen oder auch durch wirtschaftliche/politische Zwänge geprägt, als wir denken.

  • OK, ich hab mit das Buch ausgeliehen. Hm, mit so ausgesprochen psychologischen Abhandlungen scheine ich mich etwas schwer zu tun, aber vielleicht ist das nicht immer so. Interessant fand ich beim Überfliegen die Gedanken zu den Gefahren der Persönlichkeitsentwicklung und zum Individualismus. Sehr treffend fand ich diese Passage:


    "Die Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens aus schwer oder gar undeutbaren Keimanlagen, und erst durch unsere Tat wird es offenbar, wer wir sind. (...) wir sind wie die Mütter, die unbekanntes Glück und Leiden im Schoß tragen. Wir wissen zunächst nicht, welche Taten oder Untaten, welches Schicksal, welches Gute und welches Böse wir enthalten; und erst der Herbst wird zeigen, was der Frühling gezeugt hat, und erst am Abend wird deutlich sein, was der Morgen begann."

  • OK, ich hab mit das Buch ausgeliehen. Hm, mit so ausgesprochen psychologischen Abhandlungen scheine ich mich etwas schwer zu tun, aber vielleicht ist das nicht immer so. Interessant fand ich beim Überfliegen die Gedanken zu den Gefahren der Persönlichkeitsentwicklung und zum Individualismus. Sehr treffend fand ich diese Passage:


    "Die Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens aus schwer oder gar undeutbaren Keimanlagen, und erst durch unsere Tat wird es offenbar, wer wir sind. (...) wir sind wie die Mütter, die unbekanntes Glück und Leiden im Schoß tragen. Wir wissen zunächst nicht, welche Taten oder Untaten, welches Schicksal, welches Gute und welches Böse wir enthalten; und erst der Herbst wird zeigen, was der Frühling gezeugt hat, und erst am Abend wird deutlich sein, was der Morgen begann."

    traurigerweise sieht man gerade die mängel in der entwicklung bei vielen - oder den meisten - herren und damen höheren alters. mein vater sagte mal, mit dem alter nehmen die stärken zu, aber auch die schwächen. diese erkenntnis hat ihn allerdings nicht gerettet, davon opfer zu werden. er ist allerdings auch kein mensch der besonders zur selbstreflektion begabt ist.


    es stimmt, wenn Jung schreibt, dass die meisten erwachsenen selbst noch halbe kinder sind. in mancherlei hinsicht mag das seine vorzüge haben, in vielerlei anderer hinsicht nicht.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • mein vater sagte mal, mit dem alter nehmen die stärken zu, aber auch die schwächen.

    Kann gut sein. Ziemlich erschreckend, die Aussicht, dass die Schwächen normalerweise zunehmen...

    diese erkenntnis hat ihn allerdings nicht gerettet, davon opfer zu werden. er ist allerdings auch kein mensch der besonders zur selbstreflektion begabt ist.

    Ich bin da wohl eher im anderen Extrem; ich betreibe zuviel Selbstreflexion, glaube ich. Hilft auch nicht wirklich...


    Jungs Gedanken zur Erziehung finde ich wirklich interessant:


    "In dumpfer Ahnung seines Defektes bemächtigt er sich der Erziehung des Kindes und begeistert sich für Kinderpsychologie auf Grund der beliebten Annahme, dass in seiner eigenen Erziehung und kindlichen Entwicklung etwas schiefgegangen sein müsse, etwas, was bei der nächsten Generation ausgemerzt werden müsse. Diese Absicht ist zwar löblich, scheitert aber an der psychologischen Tatsache, dass ich am Kinde keinen Fehler korrigieren kann, den ich selber immer noch begehe. Die Kinder sind natürlich nicht so dumm, wie wir meinen. Sie merken es nur zu gut, was echt und was unecht ist."

  • Jungs Gedanken zur Erziehung finde ich wirklich interessant:


    "In dumpfer Ahnung seines Defektes bemächtigt er sich der Erziehung des Kindes und begeistert sich für Kinderpsychologie auf Grund der beliebten Annahme, dass in seiner eigenen Erziehung und kindlichen Entwicklung etwas schiefgegangen sein müsse, etwas, was bei der nächsten Generation ausgemerzt werden müsse. Diese Absicht ist zwar löblich, scheitert aber an der psychologischen Tatsache, dass ich am Kinde keinen Fehler korrigieren kann, den ich selber immer noch begehe. Die Kinder sind natürlich nicht so dumm, wie wir meinen. Sie merken es nur zu gut, was echt und was unecht ist."


    ein paar absätze später kommt auch der hinweis, dass man den eltern da nicht viel vorwerfen kann. sie versuchen ihr bestes, aber niemand kann aus seiner haut raus. der tragischste zustand ist es, wenn man seine fehler nicht mal mehr im mindestens bemerkt. das ist absolut hoffnungslos. im extremum sieht man das bei einem wahnsinnigen, also jemand der beispielsweise von schizophrenie betroffen ist, am besten. das sind gefangene ihres eigenen geistes, aber das betrifft eben nicht nur die wahnsinnigen. im alltag äußert es sich bei den menschen nur in milderer form.

    To me the most important thing is the sense of going on. You know how beautiful things are when you’re traveling.
    - Edward Hopper

  • Deinen letzten Sätzen, darüber, wie schlimm es ist, wenn man seine eigenen Fehler nicht bemerkt, stimme ich zu; manchmal tut die Wahrheit einfach zu sehr weh. Dass man es als Eltern sehr schwer hat, ist auch klar, aber im Zitat geht es ja um Eltern, die von den Kindern Dinge verlangen, die sie selbst nicht tun, und das kann man ihnen dann schon vorwerfen. Jung wirft ihnen deswegen auch vor:


    "Was aber in Wirklichkeit dieses sogenannte Beste ist, das ist das, was die Eltern bei sich selbst in höchstem Maße vernachlässigt haben. Die Kinder werden so zu Leistungen angespornt, welche die Eltern nie vollbracht haben, und es werden ihnen Ambitionen aufgedrängt, welche die Eltern nie erfüllt haben."

    Seine Aussage, dass die Eltern erst an sich selbst arbeiten sollten, damit sie das, was sie selbst gelernt haben, auch von den Kindern erwarten können, finde ich gut.