Gianrico Carofiglio - In freiem Fall

  • Titel: In freiem Fall
    Originaltitel: Ad occhi chiusi
    Autor: Ginarico Carofiglio
    Verlag: Goldmann
    Erschienen: Februar 2007
    Seitenzahl: 224
    ISBN: 3442311330
    Preis: 17.95 EUR


    Gianrico Carofiglio weiß genau worüber er schreibt. 1961 geboren, arbeitet er als Anti-Mafia-Staatsanwalt in seiner Heimatstadt Bari. Mit diesem Buch legt er bereits seinen zweiten Roman in deutscher Sprache vor.


    Der sympathische Rechtsanwalt Guido Guerrieri vertritt die junge Martina Fumai in einem Prozess gegen ihren früheren Freund als Nebenkläger. Angeklagt ist ausgerechnet der Sohn eines sehr einflussreichen Richters am Berufungsgericht. Ihm wird vorgeworfen, die junge Frau belästigt, gequält und gedemütigt zu haben. Martina flieht in ein Frauenhaus, und findet dort die Unterstützung der Nonne Schwester Claudia.


    Guerrieri übernimmt den schier aussichtlosen Fall, wohlwissend dass es ihn Kopf und Kragen kosten kann. Es ist ein Himmelfahrtskommando worauf er sich da eingelassen hat, nicht umsonst haben viele seiner Kollegen entsetzt abgewunken, als man ihnen diesen Fall antrug.


    Auf 224 Seiten serviert uns Ginarico Carofiglio eine Geschichte, die nur vordergründig ein Krimi ist. Es geht letztendlich um die tägliche Gewalt gegenüber Schwächeren, es geht um die Missstände in der italienischen Justiz. Es geht um den oftmals aussichtlosen Kampf um Gerechtigkeit. Guerrieri kämpft nicht allein für seine Mandantin, er kämpft auch für sich und für seine Überzeugungen.


    Es hat den Anschein, als würde der Autor seinen handelnden Personen sehr viel persönlichen Freiraum gewähren, ihnen zugestehen, ihren eigenen Weg zu gehen, einen Weg auf den sie die Leser hautnah begleiten. Moralisieren ist nicht die Sache von Carofiglio, er wertet nicht, er berichtet – das Urteil überlässt er seinen Protagonisten und den Lesern. Er gibt Anstöße, die notwendigen Schlüsse muss jeder für sich selbst ziehen.


    Die Handlung beginnt ruhig, fast ein wenig zu ruhig, aber dann nimmt sie Fahrt auf und man kann sich diesem Tempo kaum entziehen und ehe man sich versieht, ist man Zuschauer in einem spannenden Court-Thriller. Der Faszination des gerichtlichen Schlagabtausches kann sich wohl niemand entziehen. Man merkt, hier schreibt jemand, dem das italienische Prozessrecht mehr als vertraut ist.


    Nach 224 Seiten legen wir ein Buch zur Seite, dass gesellschaftskritische Ansätze geschickt in eine Krimi-Rahmenhandlung verpackt. Ein Buch, dass nicht unberührt lässt, und dass man guten Gewissens zur Lektüre empfehlen kann.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

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  • Zitat

    Original von Voltaire
    Die Handlung beginnt ruhig, fast ein wenig zu ruhig, aber dann nimmt sie Fahrt auf und man kann sich diesem Tempo kaum entziehen und ehe man sich versieht, ist man Zuschauer in einem spannenden Court-Thriller


    Aus dem Grund sah ich die Bücher eher im Bereich Krimi/Thriller angesiedelt. Andererseits verlieren sie dort eventuell auch wertvolle Leser, die dem Genre abgeneigt sind, diesen Büchern jedoch etwas abgewinnen könnten.


    Carofiglio kann schreiben - besonders für die Seele! Nach dem ersten Teil Reise in die Nacht, in dem seine Hauptfigur Guido sich schon sehr ausführlich entwickelt geht es in diesem Teil zum größten Teil, wenn auch nicht ganz so drastisch, mit seiner persönlichen Entwicklung weiter. Und wieder ist Guido mir damit noch ein Stückchen mehr ans Herz gewachsen. Seiner Leidenschaft zur Literatur, zur Musik und zum Grübeln wird auch in diesem Band viel Platz eingeräumt und so erhält man neben einer authentischen Geschichte noch den ein oder anderen Musik- und Buchtipp an die Hand. Seinen Panikattacken und gelegentlichen Angstzustände stellt sich Guido und bekämpft sie mit seinem Boxsport. Diese Befreiung aus der Angst und Enge ist greifbar nah und erleichtert ungemein - auch als Leser! Wer sich in einer von den genannten Leidenschaften wiederfindet, wird sich sehr schnell mit der Hauptfigur identifizieren können. Wenn Guido Musik hört setzt er sich nicht nur hin und hört Musik, sondern, fast schon rituell, wird der Suche nach dem richtigen Interpret und Titel viel Platz eingeräumt. Analog verhält es sich mit Büchern. Wenn Guido das Boxen beschreibt, beschreibt er es nicht auf eine plumpe, fachsimpelnde Art und Weise, sondern aus Sicht eines Menschen, der damit die Sorgen aus sich herauslässt und seinen Ängsten die Stirn bietet. Unter normalen Umständen ist mir die Sportart Boxen zuwider, aber durch Carofiglios Romane betrachte ich sie mit anderen Augen.


    Guidos Fall selbst, die Klage einer Frau gegen ihren gewalttägigen und mächtigen Ehemann, ist in diesem Buch wohl ausgefeilter als im ersten Teil, dennoch spielt wiederum die Anwaltstätigkeit eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es um Korruption, Machtverhältnisse und um gesellschaftliche Missstände, die der Autor mithilfe seiner Figur und dessen Fälle aufzeigen möchte. Ich behaupte auch, dass es ihm am Herzen liegt damit zu provozieren. So stelle ich mir Italien nach dem Lesen dieser beiden Bücher noch korrupter und "mafiöser" vor, als ich es ohnehin - mit meinem unzureichenden Wissen - schon tat. In Anbetracht Carofiglios Berufes als "Anti-Mafia-Staatsanwalt" ist jedoch diese Darstellung der italienischen Justiz wahrscheinlich mehr als gerechtfertigt. Oft gefragt habe ich mich wie die Italiener selbst wohl mit dieser nicht gerade zimperlichen Kritik umgehen?


    Zum Schluß jedoch setzt Carofiglio der ganzen Geschichte noch eine Krönung auf, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Dieses Mal bleibt nicht der geschmacklich fade Beigeschmack der perfekt verlaufenden Gerichtsverhandlung. Es wird sogar richtig spannend!


    Dieser zweite Teil um den Anwalt Guido Guerrieri ist eine optimale Fortsetzung zum Vorgänger. Wieder sehr menschlich, sehr ironisch - ungleich bissiger ironisch als der erste Teil sei noch angemerkt - sehr gesellschaftskritisch und sogar ein wenig spannender. Eine uneingeschränkte Empfehlung an alle, die sich für die Menschen der Geschichte, deren Schicksale und deren Entwicklung interessieren und nicht übermäßig hohe Erwartunen an den Krimi/Justizfall stellen.


    Zitat

    Original von Voltaire
    Ein Buch, dass nicht unberührt lässt, und dass man guten Gewissens zur Lektüre empfehlen kann.


    Absolut!


    Eine kleine Sache noch: Negativ aufgefallen ist mir die ständige Wiederholung der Formulierung "surreal anmutend" für alle - ebenfalls häufig vorkommenden - "absurden" Situationen. Dies sei jedoch nur am Rande erwähnt, da es den Lesefluss nicht gestört hat - nur mich persönlich :-).

  • Autor/in: Gianrico Carofiglio
    ISBN -10: 3442311330
    ISBN -13: 978-3442311330
    Verlag: Goldmann
    Genre: Belletristik
    Seitenanzahl: 224



    Autorenportrait:
    Gianrico Carofiglio wurde 1961 in Bari geboren und arbeitete in seiner Heimatstadt viele Jahre als Antimafia-Staatsanwalt. Seit 2007 ist er als Berater der italienischen Regierung für den Bereich organisierte Kriminalität tätig. Bisher sind in Italien vier Romane von ihm erschienen, drei davon um den Anwalt Guido Guerrieri. Seine Bücher feierten sensationelle Erfolge und wurden mit zahlreichen literarischen Preisen geehrt, u.a. mit dem renommierten "Premio Bancarella". Gianrico Carofiglio, der vor seinen Romanen bereits Fachbücher über die Psychologie der Zeugenaussage und Verhörtechniken veröffentlicht hat, interessiert sich besonders für die Wandlungsfähigkeit und Widersprüchlichkeit des Menschen. Seine Geschichten fesseln mit einem spannenden Plot, doch sie sind viel mehr Entwicklungsroman als Krimi oder Gerichtsthriller, denn stets spielen die Höhen und Tiefen im Privatleben seines Helden eine zentrale Rolle. Nach REISE IN DIE NACHT und IN FREIEM FALL ist ein dritter Guido-Guerrieri-Roman bei Goldmann in erschienen.


    Inhaltsangabe


    Guido Guerrieri ist Anwalt, und steht vor eine große Aufgabe. Er soll die misshandelte Martina Fumai vertreten. Diese wurde von Ihrem Freund lange Zeit geschlagen, gedemütigt und verfolgt. Guido vertritt sie in dem Fall, was alles andere als leicht ist, denn der Täter ist ein hoch angesehener Doktor in Italien, und sein Vater ist Strafkammervorsitzender.
    Scianatico ist immer wieder inkorrekt aufgefallen, doch durch die Beziehungen, jedes Mal freigesprochen worden.
    Niemand wollte Martina Fumai vertreten aus Angst seine Karriere ein schnelles Ende zu setzen, und auch Guido kommen allmählich Zweifel. Doch er bekommt Unterstützung in der etwas eigenartigen Nonne Claudia, die so gar nicht Nonnenhaft aussieht. Springerstiefel, Jeans und Lederjacke lassen alles andere vermuten als eine Nonne. Sie leitet das Frauenhaus in Bari. Niemand ahnt dass auch sie ein schreckliches Geheimnis in sich trägt


    Meine Meinung


    Ich bekam dieses Buch von der Random House Verlagsgruppe zum rezensieren. Ich war schon alleine deswegen gespannt, weil der Autor im wahren Leben ein Staatsanwalt ist und in seiner Freizeit schreibt. Was liegt also ferner, als in seinen Tätigkeitsgebiet, - dem Gericht ein Roman zu widmen. „Im freien Fall“ ist der dritte Roman um den Anwalt Guido Guerrieri. Unser Protagonist ist sehr stark charaktisiert, und man mag Ihn sofort leiden. Guido kam mir als ein Mensch wie Du und ich rüber, was ihn so sympathisch macht. Wir lernen ihn durch die Ich-Erzählform kennen und hat nie das Gefühl das es irgendwie nerven könnte. Im Gegenteil, man hat das Gefühl, Guido sitzt einen gegenüber und unterhält sich mit dir.
    Das dieses Buch im Genre Gerichtsthriller wieder zu finden ist, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Das Buch ist für mich herrliche Belletristik mit dem Thema Gericht.
    Es ist nicht so das wir nun auf hektische Spurensuche gehen, wie man den Fall nun lösen kann sondern alles reiht sich wunderbar ein. Man erfährt viel von der Freizeit Guidos, seinen Vorlieben, seinen Freunden, und bekommt dazu nebenbei einen guten Einblick in den Anwalts-Alltag, der ja wohl zu 100 % gut recherchiert sein dürfte.
    Im Buch selber gibt es immer wieder zwischendrin eine Erzählform eines unbekannten Protagonisten der erst im letzten Drittel identifiziert wird. Man erfährt dass diese Person seit frühster Kindheit Missbraucht wurde vom Vater und wie diese Person immer verzweifelter wird. Von daher rate ich auch ab das dieses Buch Opfer lesen, denn es könnte unangenehme Erinnerungen wachrufen.
    Trotz Schutzumschlag, die bei mir ja regelmäßig verrutschen, konnte ich das Hardcover-Buch ohne diesen abzulegen, gut und zügig lesen. Schrift ist leserfreundlich und ich hätte gerne viel mehr als die 224 Seiten gelesen. In Deutschland kostet das Buch allerdings 17.95 Euro was ich ein wenig überteuert finde. Ich befürchte der Preis schreckt ab, und somit werden eine menge Leser diesen tollen Autoren gar nicht erst kennen lernen können.
    Einzig alleine der Buchtitel lässt mich noch ein wenig grübeln. „Im freiem Fall“ was will mir das sagen? Zu einer endgültigen Antwort bin ich noch nicht gekommen


    Ich werde mir sicher die beiden anderen Bände rund um Guido auch besorgen, um mich einige Stunden in die Welt Italiens verzaubern zu lassen.


    5 von 6 Sterne vergebe ich für das gesamt Werk und hoffe dass viele Leser noch dieses Buch finden werden

  • Hallo Karrlchen,
    zu diesem Buch gibt es bereits einen Rezensionsthread: klick.


    Zitat

    Original von Karrlchen
    Ich werde mir sicher die beiden anderen Bände rund um Guido auch besorgen, um mich einige Stunden in die Welt Italiens verzaubern zu lassen.


    Gibt es schon einen dritten Band? :wow *zu Amazon flitz*

  • Grundsätzlich hat mir auch der zweite Fall rund um Guido Guerrieri gut gefallen. Carofiglio versteht es wichtige Aspekte aus dem Fall herauszugreifen und diese anschaulich und gut darzustellen. Vor allem auch die Gerichtsszenen haben mich überzeugt, die eine große Spannung aufbauen.
    Insgesamt flaut diese Spannung aber durch zu lange und zu weit ausschweifene Schilderungen aus dem Privatleben ab. Letztlich enstanden dadurch in der Mitte einige Längen.


    .

  • Ich habe diesen Carofiglio nur deshalb gelesen, weil ich einen Frühlingsurlaub in Kalabrien machen wollte, da lag es nahe, mal etwas von einem kalabresischen Autoren zu lesen.
    Und ich fand schon die ersten Seiten sehr gut - die Gedanken darüber, dass man eigentlich nie wirklich das Rauchen aufgibt, sind so treffend, dass ich mich sofort "zu Hause" fühlte.
    Wunderbar finde ich auch, dass die Frauenfiguren, die in Guerrieris Privatleben eine wichtige Rolle spielen, sehr selbstbewusst und eigensinnig erscheinen - ganz anders als das, was ich erwartet hatte.
    Die toughe Nonne Claudia macht neugierig, die Scharmützel im Gerichtssaal und außerhalb des Gerichtes sind sehr spannend. Das Privatleben des Ermittlers und das Persönliche sind auf elegante Art mit der Handlung verflochten und geben dem Ganzen das Flair, das mir das Lesen zum Genuss machte. Reine Mafia-Krimis interessieren mich nicht, hier aber geht es um Frauen, die Bipolarität von Ohnmacht und Macht, um die Perversion der Macht - das alles im für mich richtigen Mischungsverhältnis und in einer Sprache, die mich voll in den Bann zog, dank der gelungenen Übersetzung.


    9/10 Punkten gibt's von mir dafür


    Edit: Tippfehler exen