Beiträge von WuscheliLoves

    Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. Meyerhoff schreibt von seiner Ausbildung zum Schauspieler in München, während der er, aus Norddeutschland kommend, im Haus seiner Großeltern lebte, und verknüpft diese Erzählung mit Anekdoten über seine Großeltern; meist erfolgt der Wechsel kapitelweise, häufig mit Rückblenden in die Vergangenheit. Dieser Schreibstil wirkt sehr natürlich, fast wie ein Plauderton: Thema soll die Ausbildung sein – ganz natürlich mischen sich damit die Anekdoten. Oder sind die Großeltern das eigentliche Thema?


    Man liest hier über das groß- und bildungsbürgerliche Milieu; die Großeltern wohnen nicht, sie residieren eher in München in einer Villa direkt neben dem Nymphenburger Schloss. „Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten.“ S. 17 Das Renommée der Großeltern ist groß: Die Großmutter war Schauspielerin und Schauspiellehrerin, der Großvater Philosoph; der Vater Meyerhoffs war Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, wodurch der Autor und seine zwei Brüder auf dem Anstaltsgelände heranwuchsen. Überschattet wird der Einstieg ins Erwachsenenleben vom vorangegangenen Unfalltod des mittleren Bruders des Autors – der Text stellt klar, dass er der Trauer daheim durch den Wegzug zu entgehen trachtete. „Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn.“ S. 32 Tod und Krankheit bleiben, so ist nun einmal das Leben, trotzdem Begleiter, der Autor kommentiert nüchtern, fängt das Kuriose in der Tragik ein.


    Der Text ist für mich angenehm, im Plauderton – es gibt viele Stellen, gerade in den Anekdoten über die Großeltern, über die ich, die ich selbst eng mit meinen aufgewachsen bin, schmunzeln oder lächeln kann, so der etwas, hm, höhertourige Getränkekonsum bis hinunter zum Gurgelmittel (mit Enzianschnaps), das letztlich getrunken zur frühmorgendlichen Start-Beschwingtheit führt, oder die ignorierte Schwerhörigkeit. „Der Gipfel der Absurdität war erreicht, wenn ich mit meinem Großvater telefonierte und meine Großmutter von weit weg etwas rief, was er falsch an mich weitergab. Ich hörte meine Großmutter rufen: ‚Herrmann, bitte frag ihn doch, ob er noch Kerzen hat!‘ Und daraufhin sagte mein Großvater zu mir: ‚Ich soll dir sagen, dass sie noch Schmerzen hat!‘ Ich antwortete: ‚Ja, ich glaube oben im Sekretär.‘ Und mein Großvater nach einer Pause mit leicht besorgter Stimme: ‚Junge, wovon sprichst du?‘ S. 52


    Auch die Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule bietet wenig Erholung von Skurrilitäten. „Folgender Reim sollte meine Lippen beweglicher machen und mit Blut füllen: ‚Bald balgen sich die beiden blonden Buben, bald bauen prächtige Burgen sie beim Bach, bald baumeln ihre braun gebrannten Beine vom Blätterbau des Birnenbaums heran.‘ Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, mein vegetatives Nervensystem für immer zerschossen zu haben.“ S. 93 Dazu kommen Aufgaben wie eine Szene aus Effi Briest als Nilpferd darzustellen oder Spaghetti im kochenden Wasser. Gleichzeitig erfährt der Schauspielschüler einen Mangel an echter Nähe bei permanentem Körper- und Blickkontakt. „Nur bei meinen Großeltern schloss sich allabendlich die Lücke und ihre Vertrautheit und Zugewandtheit, ihr aus Hochprozentigem geknüpftes Netz fingen mich sicher auf.“ S. 111 Das Gefühl des Versagens, der Zerrissenheit hält lange an, bis aus dem Schauspieler auch der Autor Meyerhoff wird, zunächst für eine Bühnenadaption von Goethes Werther (daher der Titel des Buches).


    Ich habe die Lektüre wirklich genossen – mir bleibt nur ein kleines Manko, das ich aber nicht dem Autor anlasten könnte: Das Buch steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2016, dem Preis, mit dem der „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird. Für die Nominierung ist mir das Werk einfach „zu viel“ Autobiographie und „zu wenig“ Roman. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – dazu plaudert Meyerhoff schlicht zu angenehm selbst über die traurigeren Aspekte seines Lebens mit einem leicht selbstironischen Blick auf sich selbst und schlägt damit letztlich eine Brücke zu MEINER geliebten Großmutter: wenn die hinfiel und selbst nicht wieder aufstehen konnte, fing sie stets furchtbar an zu lachen darüber, wie hilflos das wohl aussehen möge. Nicht die schlechteste Einstellung im Leben.


    https://de.wikipedia.org/wiki/Inge_Birkmann
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Krings
    Folgebuch:
    natürlich: Theodor Fontane: „Effi Briest“
    Frederik Backman: „Britt-Marie war hier“ (S. 113 bei Meyerhoff „Was, überlegte ich, braucht eigentlich mehr Kraft, mehr Mut: etwas durchzuhalten oder etwas abzubrechen?“)

    Klappentext (kopiert von Amazon):
    Nach einem schweren Unfall und dem Verlust ihres Geliebten ist Sayoko nicht mehr sie selbst. Sie hat das Zwischenreich der Geister betreten und Geheimnisse der unsichtbaren Welt erfahren. In der Tempelstadt Kyoto lernt sie allmählich das Leben so zu akzeptieren, wie es ist: voller Ungewissheiten und Rätsel, dem Tod immer nahe, ob man jung ist oder alt. Aber sie begreift auch, wie einmalig und geheimnisvoll das Diesseits ist.


    Meine Bewertung: Die Vertrautheit mit dem Tod und der Verlust des Nabels


    „Als ich die Eisenstange bemerkte, wie sie da in meinem Bauch steckte, dachte ich: Verdammt, das sieht nicht gut aus…Ich werde sterben.“ S. 9 Die junge Sayoko genannt Sayo und ihr Freund Yoichi haben schuldlos einen schweren Autounfall. Sie überlebt. Yoichi nicht. Sie erfährt ein Nahtoderlebnis, muss eine lange Rehabilitationsphase durchmachen – und lernen, mit den Folgen zu leben. Körperlich bleibt ihr von der tiefen Schnittwunde am Kopf eine Wulst, auf der keine Haare nachwachsen – also trägt sie sie kurzgeschoren. „Mein Körper war jedoch nicht mehr derselbe wie früher, er fühlte sich an wie geraspelt; und mir war ein neues Aussehen verpasst worden.“ S. 19 Doch schlimmer ist der Verlust des Geliebten, für dessen Hinterlassenschaft als bildender Künstler er sie als Erbe bestimmt hatte: „Er fehlte mir, meine Trauer war unbeschreiblich. Doch als ich das Schlimmste überstanden hatte, merkte ich auf einmal, wie sich die Welt um mich herum lichtete und durchsichtig wurde – eine verblüffende Erfahrung.“ S. 31 Um sich herum sieht sie die titelgebenden „Lebensgeister“, die Geister derer, die nach ihrem Tod noch herumstreifen. Sie kreist um sich selbst, analysiert alternative Verläufe des Geschehenen, begegnet in Träumen den geliebten Verstorbenen ihres Lebens.


    Autorin Banana Yoshimoto hatte bereits mit ihrem Debüt „Kitchen“ gleich einen Hit gelandet und einen wahren Hype ausgelöst, die „Bananamania“ (der Nom de Plume ist eine Art Kosename für die von ihr geliebten Blüten der Roten Bananen-Blume, ihr eigentlicher Vorname ist Mahoko). Wenn man über sie in den Feuilletons recherchiert, so scheint es, als hassten oder liebten die Kritiker sie, lauwarm gibt es nicht bei der Rezeption. Den einen bewegt sie sich zu nah am Rande von Kitsch und Trivialroman, den anderen erfasst sie treffsicher gesellschaftliche Phänomene. Die Popart spielt eine Rolle auch in diesem Buch, so werden Mangas herangezogen zur Erläuterung oder Songs.


    Mir gefiel die Lektüre des Buches mit seinem federleichten Durchschweben der Trauerphase, ohne in Melancholie zu verfallen. Es ist mehr so mit dieser besonderen Phase der Trauer nach dem Erstarren, wie es einst ein Lehrer vor langem zu uns über Liebeskummer gesagt hatte: man empfindet sich selten so intensiv. „Die Vertrautheit mit dem Tod ähnelt stark dem Gefühl, das dich nachts in einer Herberge überfällt, am Ziel deiner Reise, mutterseelenallein, und du hast vergessen, woher du eigentlich gekommen bist.“ S. 105 Dass der Wirt in Sayokos Stammkneipe ihr erklärt, sie habe bei dem Unfall ihren Nabel verloren, als Sinnbild für ihre Seele, mag programmatisch klingen: Die Suche nach ihrem Nabel, ihrer Seele, ihrer inneren Mitte birgt die Gefahr, zur Nabelschau zu werden im Kreisen um sich selbst. Viele der Sätze im Buch mochte ich notieren, grenzwertig dazu, eine reine Aphorismensammlung zu werden. Für mich passt es jedoch zu der typischen Ich-Bezogenheit von Trauerverarbeitung (nicht Trauer! es ist KEIN trauriges Buch – der Originaltitel lautet „Sweet Hereafter“). So folgt die Protagonistin dem Rat, mit dem ihr toter Opa zu ihr kommt: „Wenn du zu weit nach vorne schaust, stolperst du. Verweile lieber im Moment, und geh Schritt für Schritt deinen Weg.“ S. 111 Und irgendwann deutet sich zart eine mögliche Zukunft an…


    Anmerkung: Ich bin begeistert vom Übersetzer Thomas Eggenberg – der deutsche Text ist poetisch; aber darüber hinaus half er mir, die ich fast nichts über Japan weiß, mit seinen vielen Fußnoten zu Landestypischem. Ihm gelingt das Kunststück, dass ich mich verschämt wundere, dass die japanischen Protagonisten, die ich so fremd gewähnt hatte, uns so gleich sind, während gleichzeitig viele Begriffe ohne die Erläuterung gar nicht nachvollziehbar gewesen wären.
    http://www.nzz.ch/gesellschaft…weizer-aus-japan-ld.87859

    Klappentext (kopiert von Amazon):
    Die junge Polizistin Nicky Sheridan bittet FBI-Profilerin Sadie um Mithilfe in einem fast zwanzig Jahre alten Mordfall. Nickys kleiner Bruder Billy wurde als Sechsjähriger auf dem Heimweg von der Schule entführt und Wochen später ermordet und verbrannt aufgefunden. Der Täter konnte nie gefunden werden, weshalb Sadie beschließt, der von Schuldgefühlen geplagten Nicky zu helfen. Gemeinsam fahren sie in Nickys Heimatort am Fuße der südlichen Sierra Nevada und rollen den alten Fall neu auf. Bei ihren Ermittlungen finden sie schnell heraus, dass in der Region über Jahre hinweg immer wieder Menschen getötet und ihre Leichen verbrannt wurden. Nicky und Sadie stoßen auf eine beispiellose Mordserie …


    meine Meinung: „Cold Case“ als siebter Fall für Sadie Scott - Heiligt der Zweck die Mittel?


    Alle Fans der Serie „Cold Case“ dürfte das hier begeistern: Gerade, als eine Feier mit der Verwandtschaft zu Thanksgiving die FBI-Profilerin Sadie Scott in gewisse Zweifel stürzt angesichts ihres Lebenskonzepts, sich mit häufig gestörten Schwerverbrechern zu beschäftigen und die Familienplanung mindestens hintanzustellen, bekommt sie im Büro einen Gast: die junge Polizistin Nicky lässt Sadie in deren siebtem Fall in der Vergangenheit stochern. Da Sadies eigener kleiner Bruder durch ein Verbrechen schon als Kind sein Leben lassen musste, fühlt sie sich natürlich verpflichtet, zum lange zurückliegenden Tod des Brüderchens der jungen Polizistin zu recherchieren – die derzeitigen Alternativen, Berichte und Verwaltungsarbeit, sind auch wirklich wenig verlockend; die schwere Schussverletzung ihres Mannes Matt möchte sie lieber vergessen. Der kleine Junge verschwand, als er und seine Schwester Nicky noch Kinder waren; seine verbrannte Leiche wurde später gefunden. Die damalige Tat hat die Familie zerstört, besonders die Beziehung zwischen Nicky und ihrer Mutter, die ihr seitdem die Schuld gibt. Ähnlich wie bei Sadie, hat die Familiengeschichte zur Berufswahl auch bei Nicky geführt.


    Sadie wäre nicht Sadie, wenn sie nicht gründlich wäre, und so fällt ihr bald eine erschreckende Anzahl an ungeklärten Fällen mit einigen Parallelen ins Auge – kann das sein, über so einen langen Zeitraum? Wie lassen sich zeitliche Abfolgen erklären? Die Nachforschungen führen zur Auseinandersetzung mit schwelenden Gefühlen aus dem Hintergrund der beiden Frauen: von Verlustängsten über Schuldgefühle bis zu dem brennenden Verlangen, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen – oder irgendwann die Vergangenheit ruhen zu lassen. Autorin Dania Dicken stellt hier bewusst die unterschiedlichen Konsequenzen ihrer verschiedenen Hauptpersonen dar und stellt deutlich heraus, wie tiefgreifend ein Verbrechen Angehörige in Mitleidenschaft ziehen kann.


    Auf dem Weg dahin erfährt man viel über Hintergründe und Motivation der beschriebenen Taten, wobei speziell die Tätersicht harter Tobak ist. Es werden Parallelen gezeigt in die düsterste Vergangenheit… Im Laufe des Romans entwickelt sich noch ein anderer Gedankenstrang: welche Schuld kann jemand auf sich laden – durch Handeln UND durch Unterlassen? Die „einfache“ Lösung ist hier für beide Wege vielleicht menschlich nachvollziehbar, aber ob das jedoch als Entschuldigung ausreicht, war für mich tatsächlich ein Minuspunkt knapp an den 5 Sternen vorbei… In jedem Fall viel Spannung und einiges zum Nachdenken!

    Angekommen im Dazwischen


    „Irgendwann …[hat jeder] den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz.“ S. 7 So erzählt es der Ich-Erzähler dem Leser, spricht ihn häufig direkt an „Eigentlich wollte ich, bevor ich die Wohnung verließ, Sarahs Nachtlicht löschen,
    wie ich es tagsüber immer tat, aber das habe ich in der Aufregung vergessen. Ich bitte Sie, schalten Sie das Lichtchen für mich ab. Ein kleiner Schiebeschalter an der rechten Seite, Sie werden ihn finden.“ S. 9f Der Mann, der hier mit mir spricht, heißt Gerold Ebner – das erfahren wir erst auf Seite 20, der Name wird selten wiederholt, er scheint nicht wichtig zu sein. Wir beobachten ihn bei einer Bergtour samt ihrer Vorbereitungen, zielgerichtet, geordnet, ohne Hast – fokussiert. Er besteigt den Bocksberg in Österreich, im Vinschgau – und dort, am Rand zum Abgrund, beginnt er, sein Manuskript zu schreiben. Das, was da stattfindet, ist eine Art schriftgewordener Meditation, ein Geständnis, eine Beichte.


    Die Sprache ist bildhaft „Ab einer gewissen Höhe frisst das Weiß des Himmels das Grün von den Berghängen, enden Wiesen und Bäume, nur karge Schotterflächen ziehen sich noch weiter hinauf zu den der Sonne entgegengestreckten Gesteinsglatzen.“ S. 20 Die Geschichte zieht mich in ihren Sog, lässt mich hinterher atemlos zurück – begeistert von der Erzählweise, aber herausgefordert von der Geschichte Gerold Ebners.


    Gerold – der Herrscher mit dem Speer, geboren 1969, Sohn einer ehemaligen Prostituierten, die sich für dieses Kind entschieden hatte, danach fromm im Kloster arbeitet. Sie ist Südtirolerin. Wir lesen über die ausgrenzende Siedlung der Landsleute, die es seit dem Pakt zwischen Hitler und Mussolini vielfach in Österreich gibt. Es gibt Bandenkriege unter den Jungs, wilde Mutproben, Freundschaften. Die Jobs, die es für die Jungs von dort gibt, sind selten gesund für sie. Wir lesen von Gerolds Tätigkeit als Schriftsteller, seinem Versagen dabei, den Aushilfsjobs. Wir lesen über den Tod.


    Autor Hans Platzgumer platziert so einige Besonderheiten in diesem Roman, wie ein hineingemogeltes alter ego „Hansi Platzgummer“ (laut Wikipedia ist „Johann Platzgummer“ der Geburtsname des Autors), Musiker, in New York als Musiker tätig gewesen (beides wie der Autor). Ein bisschen „meta“, aber noch originell. Wir lesen von Schrödingers Katze und weitere Erörterungen über Physik, alle Kapitel beginnen mit „Hitotsu“, erstens, wie die Grundsätze des häufig bemühten Karate, bei denen alles gleich wichtig ist – aber da sind wir noch nicht im Ansatz am Kern der Geschichte.


    Gerold Ebner sitzt auf dem Berg und legt eine Beichte ab. Er stellt zur Diskussion, wann es gerechtfertigt ist, einen anderen Menschen zu töten. Dabei ist Sterbehilfe, eingefordert vom Jugendfreund, nur eines – Ebners Darstellungen des Erstickens eines Menschen erinnern mich irgendwie an den Hitchcock-Film „Torn Curtain“ in ihrer Dauer und Vehemenz (auch wenn dort erwürgt wird). Der Leser bekommt Fragen aufgeworfen zu (unterstütztem) Selbstmord, zu Liebe, Ausbrechen aus Gewohnheiten, Familie. Ein Roman, den man erst einmal sacken lassen muss, wenn klar wird, welche verschiedenen Kulminationspunkte die Andeutungen im Verlauf der Geschichte finden.

    Die Schatten der Vergangenheit


    Die unsterbliche Familie Salz erzählt die Geschichte ebendieser entlang hangelnd an der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Motiv der Schatten durch die gesamte Handlung: die spätere Matriarchin der Familie, Großmutter Lola, lernt als neunjährige mit ihrem Schatten zu kommunizieren, dem sie einen Namen gibt und so den abwesenden Vater erträgt, die Krankheit der Mutter – Schattenlose fürchtet sie besonders als Männer, nach den schrecklichen Erlebnissen mit ihrer Schwester im Zweiten Weltkrieg, als sie schon erwachsen ist. Schatten erzählen ihr die Wahrheit und ohne Schatten stirbt man – ihre Ängste gibt sie nach den Schrecken der Kriegsjahre weiter an ihre Kinder, besonders an die Tochter. Und während der Schatten einerseits als Schutz wirkt, lasten doch gleichzeitig die Schatten der Vergangenheit, der eigenen und der der Vorfahren, schwer auf dem Personal des Romans. „Sie alle handelten bloß getrieben von der Furcht, allein zu sein“ S. 373


    Was mich zunehmend beeindruckte an dieser Familiengeschichte, die im Wechsel aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder geschrieben ist, ist, dass die verschiedene Sicht auch einhergeht mit einem verschiedenen Stil: so berichtet zum Beispiel Lola, die Großmutter, als Ich-Erzählerin im direkten Dialog mit dem Leser aus ihrer Kindheit bis Jugend. Auch der spätere Ehemann Alfons berichtet als Ich-Erzähler, weiß jedoch gleichzeitig alles, was seiner Frau Lola und den beiden Kindern, Kurt und Aveline „Ava“ widerfährt – die Darstellung ist unterteilt durch Ortsangaben und kurze zusammenfassende Überschriften zum Inhalt im Stil von „Wo xy passierte“, eher in Form eines persönlichen Berichts. Auf mich wirkten die Kapitel unterschiedlich bindend als Leser: Während ich dem Plauderstil der alten Frau aus ihrem Krankenbett gern folgte und auch das Gefühl hatte, gut in die Zeit hinein versetzt zu werden, fremdelte ich eher mit Alfons‘ Kapitel: zu sehr sprangen mir die Erlebnisse gerade der ersten Jahre im Zweiten Weltkrieg, wirkten auf mich wie eine bloße Aufzählung: Bombenalarm, Schließung der Theater – weiter, Einberufung, Flucht vor den Bomben, Notquartier – weiter. Die vorher aufgebaute Beziehung zu den Personen ging mir fast verloren, kam erst zum Ende des Kapitels wieder und mit dem folgenden aus der Sicht von Tochter Avelina – diesmal als Du-Erzähler (ein Ich-Erzähler, der sich selbst duzt). Das Buch schließt (nun, fast…) gar mit einem Kapitel, das als Word-Dokument gelten soll.


    Die Erzählung läuft weitgehend chronologisch, bis auf das erste kurze Kapitel aus der Sicht von Emma Salz, der Enkelin, das 2015 angesiedelt ist, und die Geschichte einleitet sowie mit dem (vor-)letzten Kapitel eine Art Klammer um die Kapitel bildet. Dazu gibt es teils eine Art Vorgriff, wenn die jeweilige Perspektive auf eine zukünftige Konsequenz oder Handlung vorgreift – das geschieht weniger im Sinne eines übergeordneten allwissenden Erzählers, vielmehr wird weitestgehend der Eindruck heraufbeschworen, der jeweiligen Hauptperson des Kapitels beim Erzählen zuzuhören. Selten habe ich einen dergestalt meisterlichen Umgang schon allein mit der Form gelesen – der Inhalt steht dem mitnichten nach. Was wirklich geschehen ist, darf sich der Leser gelegentlich über die Seiten hin zusammenreimen – wenn es denn so eine einfache klare Wirklichkeit gibt, geben kann.


    Autor Christopher Kloeble schafft es, die vielen Personen der verschiedenen Generationen der Familie Salz so einzuführen, dass ich sie mühelos ein- und zuordnen kann, da er ihnen jeweils einzeln Zeit und Raum lässt. Sie alle, begonnen mit der Matriarchin Lola, haben diesen bereits erwähnten besonderen Bezug zu den Schatten – als Leser erfährt man viel über familienbezogene und historisch entstandene Verantwortlichkeit und Schuld, Liebe und Abhängigkeit, Verschweigen und Verleugnen. „…wir verstehen etwas und immer mehr. Aber eigentlich haben wir nichts verstanden. Wir glauben, Zusammenhänge zu erkennen, uns zu entwickeln, besser zu sein als jemals zuvor – und tappen damit in die gefährlichste aller Fallen: Wir verwechseln Glauben mit Wissen. Wir haben vergessen, dass wir einmal wussten, dass wir nichts wussten.“ S. 409


    Dieses Buch hat mich zum Nachdenken gebracht, mich verstört, verzaubert und ergriffen – und immer wieder überrascht mit einer neuen Wendung. Ich empfehle es nachhaltig, auch wenn es vielleicht zwischendurch etwas Geduld benötigt.

    Erwartungshaltung! Sehr spezieller Mix à la Gothic Novel


    Ich fand „Loney“ durchaus gut geschrieben - aber inhaltlich sollte man sich einstellen auf einen Mix aus, hm, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, Zafóns „Der dunkle Wächter“ und Enid Blyton-Abenteuerroman mit Spukschloß – wer hier zu lesen beginnt, lässt sich darauf ein, dass dieses Buch ziemlich sicher anders sein wird, als erwartet.


    Was habe ich Enid Blytons Bücher geliebt als Kind – Fünf Freunde, etc… Irgendwo gab es immer wieder ein geheimnisvolles Haus im Nirgendwo. Da ich die alten Bücher gerade wegen einer Umräum-Aktion in der Hand gehabt hatte, war ich wohl in der passenden Stimmung für dieses Buch. Ich fühlte mich wie in einem meiner Kindheitsbücher – in einer Version für Erwachsene. Weniger hinsichtlich irgendwelcher „expliziten Szenen“ – das Buch hat da eigentlich nur einen dezent exhibitionistischen Landstreicher an einer Bushaltestelle zu bieten, etwas totes Wild sowie einigem, was nur der Phantasie überlassen wird – soviel Horror, wie vom Kopfkino eben gewünscht. Nein, „erwachsen“ dank eines Vokabulars des strengen Katholizismus: Dabei ist Glaube an sich keine Voraussetzung für die Lektüre – allein das Wissen hilft, z.B. um den Zusammenhang „Christus, Lamm Gottes“ angesichts der Lämmergeburt auf dem Weg erfassen zu können und somit die Ergriffenheit der österlichen Gruppe nachzuvollziehen (wer hier schon aussteigt, wird vieles nicht verstehen können).


    Inhaltlich ist der Roman am ehesten als eine Art „Gothic Novel“ einzuordnen (die Kategorie, der „Frankenstein“ angehört). Die Handlung bezieht sich auf die Erlebnisse der Brüder „Tonto“, des Ich-Erzählers (sein richtiger Name wird nie genannt), und seines älteren Bruders, Andrew, genannt Hanny. Der junge Hanny spricht nicht – warum, Autismus, Mutismus, geistige Behinderung, erschließt sich nicht. Sie werden besonders von ihrer Mutter streng im Glauben erzogen, wobei diese durchaus vermittelt, allein über die Rechtgläubigkeit urteilen zu können. Der jüngere Bruder erhält hauptsächlich die Aufgabe als Hüter seines Bruders Hanny – er fungiert dabei auch als eine Art „Dolmetscher“, da die Brüder, wenn sie zusammen sind, in einer sehr eigenen Welt leben. Die Pilgergruppe der Gemeinde, der auch die Familie angehört, ist bestrebt, mit einer österlichen Wallfahrt die Heilung von Hanny herbeizuführen, ja, in der Sicht der Mutter quasi zu erzwingen. Was nicht gelingt, dafür wurde einfach nicht genug gebetet, geglaubt, verzichtet,… „Ihm war klargeworden, was ich schon seit langem über Mummer wusste: Wenn nur ein Teil wegbrechen würde, ein Ritual ausgelassen oder ein Verfahren aus Bequemlichkeit abgekürzt, dann würde ihr ganzer Glauben kollabieren und zerschmettern.“ S. 143
    Das Umfeld ist entsprechend, der verstorbene frühere Pfarrer trieb dann auch seinen Ministranten die Selbstbefriedigung aus, indem er sie zwang, fest in Nesseln zu greifen (nein, kein weiteres Buch zu Kirche und sexuellem Missbrauch).


    Dem gegenüber steht die phantasievolle Welt der Brüder, bei der Hanny mit einem Glas voller Nägel zu verstehen gibt, Schmerzen zu haben, oder die Jungs Geheimverstecke pflegen. In „The Loney“ allerdings, der titelgebenden Landschaft nahe Lancasters an der Westküste Englands, herrscht eine unterschwellig düster-bedrohliche Stimmung: hier ist das traditionelle Ziel der österlichen Pilgerfahrt. Von hier aus dringt auch der Horror in die Erinnerungen des Ich-Erzählers…man muss dann am Ende schon genau aufpassen, um die verschwundenen körperlichen Leiden gesammelt im Keller wiedererkennen zu können (wieder ein christliches Motiv, kombiniert mit der völligen Verkehrung) – analog dazu wirkt einiges am Glauben mit seinen volkstümlichen Anteilen und seinen Ritualen fast wie Aberglaube - ich verwirre hier vielleicht, aber sonst würde ich zu viel verraten.


    Dem „Fünf-Freunde-Fan“ in mir gefiel die atmosphärische Darstellung sehr – beim Inhalt änderte ich meine Meinung während der Lektüre und danach regelmäßig (die heutigen Amazon-Bewertungen der deutschen Ausgabe und des Originals verteilten sich recht gleichmäßig auf Bewertungen zwischen 2 und 5 Sternen, damit bin ich also nicht allein). Aber wegen des Muts zu einem solch ungewöhnlichen Thema und Stil komme ich auf 4 von 5 Sternen. Nicht einfließen lasse ich gewisse eher stilistische Schlampigkeiten mindestens der deutschen Übersetzung, die zwar verbreitet sind, aber in diesem Beruf nicht auftreten dürften wie S. 31 „Er entschuldigte sich“ statt „er bat um Entschuldigung“

    Sitten- und Zeitgemälde Neapels nach dem Zweiten Weltkrieg UND Bild einer lebenslangen Freundschaft, Teil 1


    Für die beiden gleichaltrigen Mädchen Elena, die Ich-Erzählerin, und ihre beste Freundin „Lila“ ist Armut ein ständiger Begleiter, während wir sie als Kinder und Heranwachsende begleiten. Es ist das Leben der „kleinen Leute“ in einem Viertel, einem sogenannten Rione, in Neapel. Die Sprache ist derb, Dialekt, auch der Umgang miteinander ist derb, Gewalt ist allgegenwärtig: Ehemänner schlagen ihre Frauen, beide die gemeinsamen Kinder, diese prügeln sich untereinander. Männer prügeln für ihr Ehrgefühl, einander, ihre Schwestern, deren Verehrer; der Ruf eines Mädchens wird zerstört mit Gerüchten in einem wenig aufgeklärten, meist verklemmt wirkenden Umfeld der gegenseitigen Missgunst. „Der Pöbel, das waren wir. Der Pöbel, das war das Gezanke ums Essen und um den Wein, war das Gestreite darum, war zuerst und besser bedient wurde, war dieser dreckige Fußboden, auf dem die Kellner hin und her liefen, und die immer vulgärer werdenden Trinksprüche.“ S. 421

    Das soll auf keinen Fall jemanden abschrecken; im Buch wirkt das alles, so seltsam sich das jetzt lesen mag, natürlich, folgerichtig: so ist halt das Leben in diesem Viertel, in dieser Zeit. Der Autorin Elena Ferrante gelingt es, ein Sittengemälde der einfacheren Leute in Neapel darzustellen anhand des Aufwachsens dieser beiden Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg (1980 sind sie 36 Jahre alt, also geboren 1944). Schuldbildung spielt keine wichtige Rolle für die Eltern in diesem Umfeld, besonders ein Mädchen findet mehr Anerkennung für eine „gute Partie“. Lila und Elena sind gut in der Schule, besonders Elena fühlt sich durch Lila herausgefordert, die immer einen Hauch mutiger ist als sie, kompromissloser, als Charakter ungewöhnlich fokussiert. Doch Lilas Vater erlaubt nicht den Übergang seiner Tochter in die Mittelschule – Elena hat mehr Glück, fühlt sich dabei aber immer im Nachteil gegenüber der Freundin, sieht das, was ihr widerfährt, immer nur im – meist negativ für sie selbst ausfallenden – Vergleich mit der anderen, die zunächst im Selbststudium weiter gegen die gesellschaftlichen Regeln aufbegehrt. Die Geschichte wird erzählt als Rückblick aus der Alterssicht Elenas: „Es war eine alte Angst, eine Angst, die mich nie verlassen hatte, die Angst, mein Leben könnte an Intensität und Gewicht verlieren, wenn ich Teile ihres [Lilas] Leben verpasste.“ S. 265


    Entsprechend fesselte mich die Lektüre nicht nur durch die atmosphärisch dichte Darstellung von Milieu und Zeit, sondern auch durch das enge Aufeinander-Bezogen-Sein der beiden Kinder und Jugendlichen, das man aussschließlich aus der Sicht von Elena dargestellt bekommt. Ich konnte einiges von Elenas Verhalten nicht nachvollziehen, wohingegen mir gleichzeitig ihre gesamte Person komplett nachvollziehbar erschien, wie widersprüchlich auch immer das jetzt erscheinen mag – eine meisterhafte Darstellung von Charakteren mit allen Ecken und Kanten, eine nicht immer sympathische, aber glaubwürdige Ich-Erzählerin ist mutig! Ein Problem hatte ich mit der schieren Personenfülle, wogegen zwar mit einem Verzeichnis zu Beginn des Buches und auf dem mitgelieferten Lesezeichen versucht wurde, entgegenzusteuern, was bei mir aber doch den Lesefluss etwas hemmte. Hingegen war der gelegentliche Wechsel der Autorin von gut lesbaren flüssigen Sätzen zu einigen echten verschlungenen Bandwurmsätzen nicht abträglich, sondern passte eher zum jeweiligen Gemütszustand Elenas. Ein Buch, das wiederzugeben oder auch nur weiter zu charakterisieren über „Sitten- und Zeitgemälde“ und „Buch über eine lebenslange Freundschaft“ hinaus schwer fällt, sich entzieht.


    Am Ende dieses auf vier Bände angelegten ersten ins deutsche übersetztenTeils eines Romanzyklus stehen die beiden Protagonistinnen am Übergang zum Leben als Erwachsene – mit einigen schmerzhaften Erkenntnissen. Ich ermutige, selbst herauszufinden, wer hier die „geniale Freundin“ ist, auch das Zitat am Anfang sollte nochmals nach der Lektüre in Erinnerung gerufen werden. Ich fühlte mich unterhalten, über ein Milieu informiert, zum Nachdenken angeregt – und hätte doch ein dickeres Buch und dafür weniger Teile bevorzugt.


    Ein passendes Folge- oder Alternativbuch für Deutschland ist von Ulla Hahn „Das verborgene Wort“.

    Klappentext kopiert von Amazon:
    Mein Name ist Rebecca Winter. Ich wurde entführt.“


    Im Sommer 2003 verschwindet die 16-jährige Rebecca Winter spurlos. Elf Jahre später greift die Polizei eine junge Rumtreiberin auf, die behauptet, Rebecca zu sein – und der Gesuchten tatsächlich so täuschend ähnlich sieht, dass deren Familie sie mit offenen Armen aufnimmt. Die vermeintliche verlorene Tochter genießt die ungewohnte Zuwendung und schlüpft mit wachsender Begeisterung in Rebeccas Kleider und Leben. Doch je intensiver sie sich mit ihrer Rolle identifiziert, desto tiefer dringt sie in Rebeccas Gefühlswelt vor. Und kommt der tödlichen Wahrheit um ihr Verschwinden immer näher …


    Meine Meinung: Atmosphärisch dichter Psychothriller; einfallsreich, ohne unappetitlich zu werden


    „Ihr letzter Sommer“ heißt im Original „Only daughter“ und erschien 2016, dabei etwas früher in Deutschland als im UK-Original (Autorin und Handlung sind in Australien beheimatet). Das Buch hat mich blendend unterhalten und in seinen Bann gezogen! Da ich einfach (zu) viel aus dem Genre Krimi und Thriller lese, finde ich inzwischen das meiste vorhersehbar: entweder in der Lösung und/oder bezüglich unappetitlicher Gewaltorgien um ihrer selbst willen. Dieser atmosphärisch dichte Psychothriller hat mich positiv überrascht.


    Achtung Erwartungshaltung: der Fokus liegt wirklich auf „Psycho“, es gibt keine Action, keinen Wettlauf gegen die Zeit, weniger ein „Whodunnit“ wie im klassischen Krimi, als vielmehr ein „was ist hier, was war hier los?“.


    „Ich heiße Rebecca Winter. Ich wurde vor elf Jahren entführt.“ S. 7 so stellt sich die junge
    Frau, die gerade beim Lebensmitteldiebstahl ertappt wurde, gegenüber der Polizei vor.
    Der Leser ist hier ein allwissender Leser, sein Wissen wird aber immer nur schrittweise entwickelt. Von Beginn an – der Klappentext verrät es auch – wissen wir, dass die junge Herumtreiberin sich nur als Rebecca ausgibt. Über ihre Motive, ihre Herkunft erfahren wir von Kapitel zu Kapitel mehr, wobei der Fokus eindeutig auf der „echten“ Rebecca liegt; stets im Wechsel spielt die Handlung 2003 und schildert die Geschehnisse rund um „Bec“ als Siebzehnjährige und 2014 um die junge Frau in deren Rolle, in deren Familie und in deren Leben.


    Von Anfang an ist die Atmosphäre eher düster, von den Sorgen der jungen Frau im „heute“ angefangen [Insider: sie nennt sich Rebecca Winter und bekommt nie wirklich einen eigenen Namen – DIE Hommage an Daphne du Maurier ist, nun ja, irgendwie cool]. Wurde „Bec“ wirklich beobachtet? Und Luke, für den sie schwärmt – welches Spiel spielt er? Wie ist das Verhalten von Becs bester Freundin Lizzie zu deuten? Was will deren Vater von ihr? Was passiert daheim, nachts?
    Einiges bleibt verstörend, was ich für einen sehr cleveren Schachzug halte, mir aber auch vielleicht fünfzig Seiten mehr gewünscht hätte, deshalb ganz ganz knapp an 5 von 5 Punkten vorbei.


    S. 63 „Niemand konnte je wirklich verschwinden. Irgendwo existierte man immer.“

    Sehr empfehlenswerter Mix aus Heimat- und Zeitgeschichte, Spionageroman, Politthriller,...


    Der Plot ist genial: Der Mossad schickt eine völlig unerfahrene gebürtige Kölner Jüdin los in den Schwarzwald, um dort ein Attentat gegen Adenauer zu verhindern – die Verhandlungen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ sollen nicht gefährdet werden. Ihre Eignung besteht darin, am Urlaubsort des Kanzlers selbst die Ferien ihrer Kindheit verbracht zu haben und die Sprache derer zu sprechen, die außer ihrer Schwester ihre gesamte Familie ausgelöscht haben. Der Attentäter wird befürchtet in den Kreisen derjenigen Israelis, die das „Blutgeld“ ablehnen.


    „Warten bedeutete, unnütze Zeit zu haben, und unnütze Zeit war ein gefährliches Pulver. Ein bisschen davon auf die gut verschlossene Kiste voll von Verlust, Schmerz und Erinnerung gestreut, und diese explodierte und ließ alles in Fetzen im Kopf herumschwirren. Das Vergessen war lebensnotwendig. Wer nicht vergessen konnte, wurde wahnsinnig. Sie war eine Meisterin im Vergessen. Nur so war das Leben auszuhalten.“ S. 27


    Wie bitte schafft es Autorin Brigitte Glaser, ein Buch zu schreiben, dass
    • sowohl Heimatgeschichte erzählt (Schwarzwald, besonders um Bühl)
    • als auch Zeitgeschichte (Adenauer und die Wiedergutmachungsverhandlungen bezüglich des Staates Israel, Leben im Kibbuz),
    • das Spionageroman und Politthriller ist (ich wusste nicht, dass es ein – reales - Attentat auf Adenauer durch Zionisten gegeben hatte, was verschwiegen wurde, um die Beziehungen zu Israel nicht zu gefährden, wofür ihm Ben Gurion dauerhaft dankbar war)
    • und noch dazu einen tiefen Einblick abliefert über Schuld, menschliche Beziehungen und Verdrängung?


    Das Buch entpuppte sich als absoluter Glücksgriff – ich liebe anspruchsvolle Romane, ich liebe spannende Literatur, ich nutze gerne Bücher, um mich einer Zeit, einem Land oder einer Gruppe zu nähern, hier finde ich einen der seltenen Fälle, die ALLES gleichzeitig können.


    Ich bin kaum jemals so vielen „red herrings“ hinterhergerannt, so viele Spuren legt die Autorin über praktisch die komplette Seitenzahl. Bei allem nutzt sie einen besonderen Stil: Es wird etwas erwähnt – und später, teils wirklich etliche Seiten später wird dieser Hinweis in einen Zusammenhang eingebettet. Ein Beispiel:
    „In Haifa waren Rachel und sie [Rosa Silbermann, die Protagonistin] vor fast zwanzig Jahren als Jugendliche angekommen.“ S. 8
    Später wird dann erklärt, dass Rachel sich kurz nach 1932 für die zionistische Idee begeistert hatte und mit ihrer jüngeren Schwester, auch angesichts der aufkommenden Probleme für Juden in Deutschland, mitnichten aus Spaß und Freude eingewandert war. Das ist noch ein mildes Beispiel, weil man sich diese Auflösung als naheliegend ja auch hätte denken können, doch ich werde ganz sicher hier nichts Weiteres verraten. Während mich oft in Büchern die sehr einfachen Beziehungen und Beweggründe stören, ist in diesem Buch fast alles und alle miteinander verwoben, was die Anzahl der red herrings ins Unermessliche steigen lässt, ohne dabei für mich aber undurchdringbar zu werden. Das Spannungsniveau bleibt einfach hoch, wie bei einem Thriller, weil man so aufmerksam bleiben muss. Da weiß jemand etwas, was einem anderen helfen könnte, erwähnt es aber nicht, um einem Dritten nicht zu schaden. Und über allem hängt die Vergangenheit. „So war das immer. Eine falsche Frage, ein falscher Satz, und alles Leichte und Fröhliche verschwand.
    ‚Welches Lager?‘, fragte Rosa leise.
    ‚Majdanek.‘“ S. 264


    Glaser schreibt sehr ausgewogen. Auch mit den besten Absichten können Menschen verletzt werden, so soll Rosa ein Attentat verhindern helfen, wird aber fragwürdig moralisch genötigt dazu und völlig unerfahren in eine gefährliche Situation geschoben. Kaum jemand ist einfach das, was er oder sie oberflächlich zu sein scheint. Dadurch ist Rosa bald verstrickt in ein „Gestrüpp aus Spekulation und Manipulation“. Dabei geht das Buch durchaus in die Tiefe, stellt die verschiedenen Lebensstile gegenüber: da sind die, für die jede Kritik an Israel einem Verrat gleichkommt, aber auch jene, die zurück nach Deutschland gehen, „weil ein judenfreies Deutschland einem Sieg über Hitler gleichgekommen wäre“. Da sind die Kriegsgewinnler, die Ewiggestrigen, aber auch jene, die heute noch von Albträumen geplagt werden, oder selbst Opfer der Befreier wurden, weil sie aus dem Volk der Täter stammten. Der Sicht Rosas gegenübergestellt wird die Sicht von Sophie Reisacher, Hausdame auf der Bühlerhöhe, auch hierdurch wird eine tiefere, ausgewogenere Sicht gezeigt, wird deutlich, dass persönlicher „Ballast“ und Ziele bei allen den klaren Blick hemmen können.


    Insgesamt definitiv fesselnd, informativ, schön zu lesen!


    Am Ende des Buches folgt ab Seite 337 ein Glossar – ich habe noch einiges mehr nachgeschlagen, und empfehle das je nach Wissensstand und Interesse auch durchaus – sowie weitere Quellenangaben.


    Das perfekte Buch "davor" oder "danach":


    Daphne du Maurier "Rebecca" (oder die tolle Hitchcock-Verfilmung)


    Leon Uris "Exodus" (als Film mit Paul Newman)

    Es lohnt sich! Während du es liest, gefallen dir einige Dinge nicht - ich hätte zwischendurch gerne die Protagonisten "anders" gehabt, hätte gewollt, dass sie sich anders verhalten. Dann habe ich nachgedacht - das wirklich ernüchternde ist, dass sie kaum eine andere Chance haben.


    Das drückt es hoffentlich aus, ohne gleich zu viel Spoiler hinein zu bauen ;-)

    ?! Jetzt habt Ihr mich verwirrt - ich habe mein Buch (ebook) vorab erhalten und zwar nicht hier - und ich wurde gebeten, baldmöglichst zu rezensieren?! Ich hänge hier eigentlich nur unter diesem Thread, weil es ja noch sinnloser wäre, einen eigenen dafür anzufangen.


    Was wäre da jetzt Eure Meinung? Danke. Will hier nun auch niemand verärgern, sonst warte ich halt bis 12., ist ja überschaubar. Amazon geht auch ohnehin erst dann, solange man nicht irgendeinen Sonderstatus hat bzw. Sonderlink.

    Hallo, eine Frage - ich hatte Bühlerhöhe als Vorableseexemplar und habe eben Euren Thread entdeckt - jetzt wäre es ja wenig sinnvoll, wenn ich für die Rezension einen neuen eröffnen würde, allerdings kann ich unter "Rezension" nichts schreiben - woran liegt das? Danke.

    Die jüdische Israelin Liat und der Palästinenser Chilmi begegnen einander zufällig im Herbst 2002 in New York, sie ist Philologin, 29, mit einem Stipendium erst seit zwei Monaten in den USA, er ist Maler, 27, schon seit über zwei Jahren im Land. Als ein Freund, mit dem sich Liat treffen möchte, kurzfristig verhindert ist, schickt dieser Chilmi, der ihm Arabischunterricht gibt. „Coup de Foudre“, denn Liebe auf den ersten Blick trifft es noch nicht annähernd: Die beiden sind von diesem Tag an zusammen. Chilmi entspricht Liats Begriff eines „vegetarischen Arabers“, nicht religiös, sehr weltlich – keinem Feindbild zuzuordnen.


    Liats Gefühle durchlaufen ein Wechselbad: anfangs Furcht aufgrund der Schauergeschichten, arabische Männer würden bevorzugt jüdische Frauen verführen und später versklaven, dann Schuldgefühle wegen der Besetzung, wegen der Dinge, die sie in Israel tun kann und er nicht. Er ist souveräner, beruhigt sie: „Weißt du, eines Tages …wird das Meer uns allen gehören, und wir werden dort gemeinsam schwimmen.“ S. 41
    Später, im Winter, kommt Verleugnung hinzu: während Chilmi unbefangen und offen zu Liat steht, verleugnet sie ihn, erzählt den Eltern nichts, versteckt sich, steht nicht zu ihm.


    Das große Können der Autorin Dorit Rabinyan besteht darin, dass diese Liat nicht unsympathisch wird, einerseits, weil sie als Ich-Erzählerin automatisch zu größerer Identifikation einlädt und der Leser an ihrem ganzen zerrissenen Innenleben inklusive der Scham über ihr Verhalten teilhat, andererseits, weil auch Chilmi in seiner Reaktion auf seine Erfolge als Maler mit einer chaotischen Besessenheit dargestellt wird, gegenüber der Liat immer als reifer, vernünftiger wirkt. Gleichzeitig wird beider Liebe sehr poetisch und sinnlich beschrieben: „Niemand erfährt, dass er für mich entbrennt wie trockenes Laub, mich immerzu begehrlich umschmeichelt und umwirbt. Unsere schönen Nächte sind wie eine Frucht, deren Fleisch stets nachwächst, so viel man auch abbeißt, unsere Lust steigert sich mit jeder Liebkosung, hungert uns aus und sättigt uns, bis wir wieder hungrig werden. Nehmen und Geben sind eins.“ S. 128f.


    Sie streiten viel, die Politik liegt immer nur ein Wort, ein Blick, einen Gegenstand entfernt, so ist für ihn ist ihre hebräische Bibel, die sie zur obligatorischen Soldatenzeit erhielt, nur das „faschistische Szenarium, Soldaten mit Gewehren und heiligen Büchern“ S. 91, nichts anderes als „die Kombination von Koran und Kalaschnikow“ bei der Hamas. Gleichzeitig bemerken diese beiden gerade in der Fremde Gemeinsamkeiten, im Umrechnen der Währungen, der Temperatur-Systeme, im Leiden unter dem strengen Winter – im Heimweh. Dennoch ist es eine „Liebe mit Verfalldatum“, mit einem antizipierten fixen Ende durch die Heimreise Liats – auch wenn sie nicht in der Lage sein wird, eine harmlose Cornflakes-Packung zu erwerben, die zufällig ihr Heimreisedatum als Verfallsdatum zeigt, akzeptiert sie diese Zäsur.


    Es ist unglaublich intelligent und einfühlsam, wie Rabinyan die Handlung dieses Buches aufbaut, von der Tatsache, dass diese Liebe ihren Anfang in New York nahm, bis hin zum „Wo“ und „Wie“ des Romanendes, nicht zu vergessen der Einstieg, als Liats hebräische Schriftzeichen den Verdacht des Terrorismus in einem Café provozieren und sie Besuch vom FBI bekommt, das dann, doppelte Ironie, wiederum nicht damit umzugehen weiß, dass ihre jüdischen Eltern aus dem Iran (ausgerechnet!) nach Israel eingewandert sind.


    Dieses wundervolle, poetische, sinnliche, tragische, intelligente Buch wurde vom israelischen Erziehungsministerium von der Lektüreliste für die Oberstufe gestrichen - die israelische Zeitung Haaretz zitierte eine Beamtin des Erziehungsministeriums mit der Einschätzung, der Roman ermutige zu Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, die die »separate Identität« bedrohten, und fördere die Assimilation (vgl. z.B. Jüdische Allgemeine oder Deutschlandfunk im Internet). Anhand eines Films, den Chilmis Bruder daheim für ihn gedreht hat, bittet Liat ihn, ihr die Grenze zu zeigen, gemäß der Lage der arabischen Dörfer und der jüdischen Siedlungen. Er sagt „Sie ist hier …sie verläuft in unseren Köpfen.“ S. 215

    Rose Tremains Buch über die lebenslange Freundschaft von Gustav Perle und Anton Zwiebel wurde 2016 sowohl in deutscher Sprache als auch im englischen Original „The Gustav Sonata“ veröffentlich. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, ein Inhaltsverzeichnis ist hintangestellt; der erste Teil beschreibt die sehr unterschiedliche Kindheit und Freundschaft der beiden Jungen im Schweizer Matzlingen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, der zweite die Vorgeschichte Emilies und ihres Ehemanns Erich, und der dritte Teil berichtet mit Rückblicken über die beiden als Erwachsene.


    Gustavs Kindheit ist geprägt von Armut und der Verbitterung seiner Mutter durch den sozialen Abstieg der Familie und den frühen Tod des Vaters Erich – dieser hatte die Arbeit bei der Polizei verloren, weil er vor dem Nationalsozialismus in die Schweiz geflohenen Juden geholfen hatte. Die Mutter erzieht Gustav dazu, er müsse wie die Schweiz sein: „Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen.“ S. 13 Gustav verinnerlicht ihre Prinzipien und verschließt seine Ängste. Anton hingegen, der Sohn eines Bankiers, ist empfindsam und ein begabter Klavierspieler. „Natürlich ist er ein Jude“ meint Emilie über ihn. „Die Juden sind die Leute, wegen denen dein Vater gestorben ist, als er sie retten wollte.“ S. 31. Dieser freudlosen Kindheit Gustavs gegenüber stehen die Besuche bei Antons Familie, die Gustav mitnimmt zum Schlittschuhlaufen, in den Urlaub und als der begabte Anton am Klavier vorspielen soll. Aber Anton kann vor großem Publikum sein Talent nicht zeigen.


    Die Autorin erzählt die Familiengeschichte, in beiden veränderten die Tode von Kindern das Leben der Eltern. Besonders Emilies Hoffnungen, aus ihrer ärmlichen, freudlosen Herkunft zu einem besseren Leben zu kommen, zerbrachen. "Wenn man jung ist, glaubt man, dass man noch eine Menge Zeit vor sich hat, dass man alles, was man plant, auch tun kann. Man merkt nicht, wie die Zeit vergeht, das ist das Schwierige daran. Denn sie vergeht trotzdem." S. 70 Der Leser erfährt bei Emilies Ehe vom Versuch, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, wo nichts mehr ist, von rücksichtslosem Begehren, von Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit, Verlust, Aufgeben.


    Als Erwachsener versucht Anton die Lieblosigkeit seiner Mutter zu verdrängen: „Sie hatte sich für die Person, die er war, im Grunde blind gestellt.“ Er wird Hotelbesitzer, bereitet anderen ein Heim fern der Heimat, sieht sich als „Sklave für anderer Leute Bedürfnisse und Wünsche“ S. 261, das Hotel wird ihm zur Zuflucht gegen die Kälte. Anton wurde Musiklehrer, bis er feststellt, dass er mit dem Aufgeben seines Traums, Konzertpianist zu werden, nie versöhnt war. Er erhält eine späte Chance. Gustav ist längst bewusst, „dass eine unerfüllte heimliche Leidenschaft zwangsläufig zum körperlichen Zusammenbruch führt.“ S. 294. Irgendwann wird klar: „Wir müssen die Menschen werden, die wir hätten sein sollen“ S. 327.


    Der Roman liest sich leicht und zog mich schnell in seinen Bann – beim ersten Mal bin ich so schnell hindurchgeflogen, dass mir das Material für eine Zusammenfassung fehlte. Bei der zweiten Lektüre merkt man besonders das Talent der Autorin zu unterschwelligen, (fast) versteckten Andeutungen. So deutet Tremain den vergangenen Nationalsozialismus an in den Ängsten von Antons Mutter: in ihrer Reaktion auf das Wort Lager, als die Jungen nur von ihrem Versteck im Wald berichten, oder auf Eisenbahnsignale, wenn der Ehemann sie beruhigen muss, dass der Zug nur deshalb halte. Wenn beim Klavierwettbewerb der Familienname statt Zwiebel als Zwebbel gesprochen wird, schwingt ein weiterer Unterton mit. Im späteren Verlauf berichtet ein Gast des Hotels Gustav von der Befreiung Bergen-Belsens. Das ist geschickt gemacht, der weitere Sinn für die Geschichte erschließt sich jedoch nicht.


    Sprachlich ist Tremain zart, poetisch, melancholisch – bis, ja bis auf das zweite Kapitel, das von geradezu besinnungslosem Begehren erzählt in Vulgärsprache – ich mag diese Sprache nicht, finde aber – eher zu meiner Überraschung – dass sie hier passt zu dem von den zwei Nebenfiguren selbst so beschriebenen hauptsächlich animalischen Treiben. Insgesamt wegen der sonst beeindruckenden Sprache und unkitschigen Emotionalität 9 Punkte von 10.

    „Erinnerungen sind keine runde Sache. Sie sind kantig und sie sind rau“


    Die meisten von uns leiden irgendwann im Verlaufe ihres Lebens an Verlusten, enttäuschten Hoffnungen, finanziellen Sorgen, Krankheiten,….
    Die Schwestern Katja und Alexa sind damit aufgewachsen. Sie hatten immer einander, jetzt ist die Mutter gestorben, zu der besonders Katja, fast 42 Jahre alt, in den letzten Jahren nur einmal Kontakt gehabt hat; Alexa, die drei Jahre ältere, hatte sie überredet, als die Mutter im Sterben lag. Unter dem wenigen, was vom Leben der Mutter übrig ist, findet Alexa nun einen Brief, dessen Inhalt sie verstört. Der Brief deutet an, dass es da noch etwas zu erzählen gab, unterlässt dies aber, belässt es bei Andeutungen.


    Die Beziehung zu Mutter Ines war für beide Töchter schwierig: „Sie ließ uns allein mit unserer Wut“. S. 25. Der Vater war gegangen, als die Mädchen noch klein waren – erklärte hatte die Mutter dies nie. „Sie war nicht böse, jedenfalls nicht immer, meistens hatte sie einfach keine Lust, sich um uns zu kümmern.“ S. 37 und „Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob Ines uns nicht liebte, weil sie es nicht konnte, oder ob sie uns nicht liebte, weil sie es nicht wollte.“ S. 72


    Beide Schwestern leben ihr Leben – Katja ist berufstätig, ein Teenager-Sohn, der Vater hat die Familie allein gelassen, auch er. Alexa ist Hausfrau, verheiratet, Teenager-Tochter, Teenager-Sohn – sie hatten noch eine schwerstbehinderte Tochter, die gestorben ist. So wie Katja als Begründung für ihr Tun oder (Unter-)Lassen vor sich herträgt, berufstätig zu sein, so verwendet Alexa ihr Familienmodell als Rüstung und Waffe. Autorin Barbara Kunrath schafft es, beider Lebenskonzept und Argumente gleichermaßen zu hinterfragen. Die Perspektive im Roman wechselt zwischen den Schwestern, wobei Alexa immer als Ich-Erzählerin erscheint, bei Katja wird zur dritten Person gewechselt.


    Mit Alexa ist das so: ich mag nicht besonders, dass sie vermittelt, die „richtige“ Art Leben zu leben – allerdings wäre sie diejenige, die ich sofort zum Babysitting für mein Kind einsetzen würde. Sie ist zuverlässig, es gäbe regelmäßige Mahlzeiten, alles würde „richtig“ ablaufen. Und ich würde hinterher Scham empfinden, ob sie die Wollmäuse gesehen hat, die Tiefkühlgerichte, …Katja hätte man gerne als Kumpel, Alexa nicht.


    Die Schwestern versuchen, dem Geheimnis aus der Geschichte ihrer Mutter nachzuspüren, stoßen auf Widerstände. Als es danach in ihrer beider Leben zu Auflösungserscheinungen ihrer Lebenskonzepte kommt, treiben sie die Suche voran. Was sie erfahren, verändert alles. Quasi nebenbei stellt sich heraus, dass das Miteinander geprägt ist davon, die Schwester sowohl zu beneiden als auch ihr Verhalten nicht nachvollziehen zu können. Letztendlich müssen sie sich, auch angesichts der neuen Erkenntnisse, beide ähnlichen Fragen stellen: „ ‚Wovor hast du Angst?‘, fragt er.
    Die Frage müsste lauten: Wovor hast du mehr Angst? Vor dem gar nicht? Oder vor dem zu viel? Sie weiß es nicht.“
    „Sie braucht Raum und Freiheit, sonst wird sie ersticken. Aber wo hört der Raum auf, und wo wird die Freiheit zur Lüge?“ S. 164


    Kein „Frauen-/Liebesroman“, aber doch eher Fragen nachspürend, denen sich Frauen ausgesetzt sehen - der Roman gibt in einem ruhigen, melancholischen Stil, häufig mit schöner bildhafter Sprache einen Einblick dazu, was funktioniert und was verletzt an Geschwistern und Familien, Eltern und Kindern, Paaren und Lebensentwürfen – meiner Meinung nach sehr gut gelungen, allein der Epilog ist mir zu glatt geraten, zu „aufgelöst“


    8 - fast 9 - von 10 Punkten

    Cozy-Krimi um Mops „Holmes“ als Ermittler (und ein paar Menschen)


    Mops Holmes darf mit seinen Eltern sein Frauchen Marlene zu ihrer Schwester nach Frankreich begleiten, denn deren heißgeliebter wertvoller Zuchtstier ist spurlos verschwunden.
    Als menschliche Verstärkung fahren Frauchens beste Freundin Jackie und deren Lebensgefährte mit, Detektiv Waterson.
    Waterson und Holmes haben zusammen bereits vorher ermittelt – ich kannte keinen der anderen Fälle vorher und auch, wenn darauf gelegentlich angespielt wird, war das kein Problem bei der Lektüre.


    Da Holmes ein Mops ist, „spricht“ er in Worten nur mit anderen Tieren – bei Menschen bellt er zustimmend oder versucht auf andere Art, sie auf etwas aufmerksam zu machen. Selbst bei den Tieren hilft diese Fähigkeit jedoch nicht immer, wie er anhand der Herde des Zuchtstiers feststellen darf: „Nach etwa einer halben Stunde hatte ich mir ein Bild vom Täter machen können: Er war groß-klein, blond-braun-schwarzhaarig, dick-dünn und fuhr ein blau-grün-schwarz-rotes Auto. Super, Kühe taugten als Zeugen etwa soviel wie Menschen.“ S 43.
    Bald jedoch überschlagen sich in dem einsamen Ort die Ereignisse: auf dem Zaun des benachbarten Hotels hängt eine Leiche (blutiger wird es nicht, Details beschränken sich darauf, dass dem Dorfpolizisten schlecht wird; daher Einordnung als „Cozy-Krimi“), das Telefon fällt aus, es gibt Ressentiments gegen die Deutschen und zu allem Übel verschwindet plötzlich noch Holmes' Mama Nelly.
    Sabotiert jemand das Hotel? Kam der Tote auf den Zaun durch Mord oder Selbstmord? Was bedeuten die seltsamen Gerüche im Hotelzimmer des Toten? Und wo ist der Stier, wo ist Holmes‘ Mama?


    Ich hatte mir eine leichte Lektüre versprochen mit niedlichen Akteuren und nur eher „hygienischem“, wenig brutalen Verbrechen und genau das bekommen (sieht man einmal vom Geruch im Kuhstall ab oder der Tatsache, dass natürlich nur ganz böse Menschen einen Mops ängstigen würden). Gut gelöst fand ich, dass die Tiere ausschließlich untereinander sprechen können und mit den Menschen eher so interagieren, wie man das als Tierbesitzer gerne empfindet („ich war mit dem Hund draußen und wir haben uns unterhalten“). Ja, das ist sehr vermenschlicht und niedlich (und passend für die entsprechende Stimmung als Leser). Somit hätte ich 4 von 5 Punkten gegeben, wäre ich nicht wirklich reichlich genervt gewesen von den vielen Fehlern in meiner Ausgabe, beim nervigen „Francois“ statt „François“ angefangen über oft mehrfache Wortwiederholungen innerhalb weniger Sätze bis hin zu weiterem an Patzern; auch Sprache/Satzbau waren mir teils zu einfach (das allein hätte aber immer noch 4 Punkte bedeutet). Das wäre jedoch für mich kein generelles Argument gegen die Autorin, wie auch die Leseprobe vom ersten Band (im Anhang) belegt.

    Klappentext:
    Ein Neuanfang wartet auf FBI-Agentin Sadie Scott: Als Profilerin arbeitet sie nun für das FBI Los Angeles Division und ermittelt gleich in ihrem ersten großen Fall gegen einen Serienvergewaltiger. Während der Ermittlungen lässt sie sich nicht anmerken, was sie wenige Monate zuvor durchgemacht hat. Davon wissen in Los Angeles nur ihr Freund und Kollege Phil und Matt, mit dem sie frisch verheiratet ist. Auch Matt ist nun Agent beim FBI und schon bald bittet er Sadie um Hilfe. Er ermittelt undercover gegen einen mexikanischen Kartellboss und ist zufällig auf eine Mordserie an illegalen Einwanderinnen aus Mexiko gestoßen. Erschreckende Gemeinsamkeit: Alle toten Frauen haben kurz vor ihrer Ermordung ein Kind geboren. Neben ihren eigenen Ermittlungen unterstützt Sadie Matt bei seiner Arbeit, doch beide ahnen nicht, in welche Gefahr sie sich begeben …


    Eigene Meinung:
    Dania Dicken und Sadie Scott „in action“ – temporeich, gesellschaftlich aktuell und vielschichtig


    Mit diesem sechsten Band der Reihe um FBI-Profilerin Sadie Scott beschreitet Autorin Dania Dicken neue Wege in mehrerlei Hinsicht:
    zum einen hat „Undercover“ viele Aspekte eines Actionromans inklusive furiosem und Hollywood-reifen Showdown zum Ende hin, zum anderen widmet sie sich (stärker) gesellschaftspolitisch aktuellen Themen. Ich schränke mit „stärker“ deshalb ein, als dass sexuelle Gewalt, wie sie in mehreren der vorangegangenen Bände thematisiert wurde, (leider) immer aktuell ist, während die meisten von uns (wenn auch wohl fälschlich) eher das Gefühl haben, als seien Serienmörder – ebenfalls ein Thema der vorangegangenen Werke - eher ein US-amerikanisches Phänomen. Gesellschaftspolitisch aktuell soll heißen, dass illegale Einwanderung ein großes Motiv im Buch ist, mit den sich daraus ergebenden Optionen zur Ausbeutung der dadurch in vielerlei Hinsicht rechtslosen Menschen, speziell zur sexuellen Ausbeutung von betroffenen Frauen. Auch die Möglichkeit illegaler Adoptionen steht im Raum. Beide Themen sind durchaus auch Europäern bewusst(er) – als die für uns meist abstrakter erscheinende Serienmörderthematik.
    Der Fokus der Reihe ist ebenfalls leicht verändert: Sadies Neu-Ehemann und Neu-FBI-Kollege Matt ist stärker im Blickpunkt, der aktuelle Titel bezieht sich auf seine Undercover-Tätigkeit im Milieu einer mexikanischen Gang, die ihr Geschäftsfeld im Drogen- und Mädchenhandel hat. Als er parallel zu seinen Ermittlungen auf ungeklärte Fälle stößt, bei denen nach längerer Zeit des Verschwindens mexikanische Frauen tot aufgefunden werden, jeweils kurz nachdem sie entbunden haben, zieht er offiziell seine Frau hinzu. Somit ermittelt Sadie bald auch im Umfeld der Tätigkeit ihres Mannes, parallel zu ihrem seit Anfang bestehenden Fall der Suche nach dem Pittsburgh Strangler. Das ist dann auch ebenfalls ein Novum und sicherlich realistisch für die Tätigkeiten bei der Behörde: es gibt durchaus mehrere Ermittlungen, die nebeneinander laufen können.
    Neben allem kommen auch die menschlichen Themen nicht zu kurz, ohne dass sie jedoch zu sehr ausgewalzt werden; im Gegenteil, gerade bei der Undercover-Arbeit bekommt der Leser sehr bildhaft vorgeführt, inwieweit sich hier die Arbeit gefährlich ins Private einschleichen kann. Wie bedrohlich das dann wirklich für Leib und Leben werden kann – nun, das muss bitte jeder selbst lesen, aber schnell!


    Ich kenne zwar alle vorangegangenen Teile, halte aber diesen wiederum für den Einstieg für geeignet, weil benötigte Vorinformationen durchaus kurz gegeben werden, zumindest ausreichend, um sicherlich ohne Probleme folgen zu können.
    Hinsichtlich der Gewaltdarstellung ist dieser Teil sehr viel zurückhaltender als speziell der vorangegangene, dafür gibt es den bereits erwähnten Showdown sowie einige Angriffe. Sexuelle Gewalt wird nicht während der Ausübung beschrieben, sondern distanzierter im Rahmen von (wenigen) Befragungen und einigen Berichten.
    Insgesamt ein sehr spannender „runder“ Band 6, der mich einen ganzen Abend nicht loslassen wollte, nur den generell sehr fesselnden Showdown fand ich doch etwas zu „bombastisch“. Wegen des aktuellen Themas und des Schreibstils (und weil ich es im Film toll fände) jedoch keinen Abzug nur dafür, der Rest ist toll.