Noch eine Ergänzung: Nach meiner Einschätzung und Beobachtung hat die ganze Gendern-Debatte überhaupt erst dazu geführt, dass Menschen in der alltäglichen Kommunikation damit angefangen haben, biologische Gruppen zu sehen, wo zuvor von allen Menschen alle Menschen gemeint waren. Diese vermeintliche Nicht-Sichtbarkeit von Frauen und nichtbinären Menschen (von denen es je 3 Millionen ungefähr 20 gibt, was fraglos unbedingt dazu führen muss, dass alle plötzlich zu faseln beginnen), ist nach meinem Dafürhalten ein Ergebnis der Gendern-Debatte, und nicht ihr Ursprung.
Zumindest ist das etwas, was ich an mir selbst beobachte. Während ich ein generisches Maskulinum immer als ein solches empfunden habe, kann ich es in einem Kontext, in dem fleißig gegendert wird, nicht mehr als solches empfinden. Was kein Wunder ist. Beim generischen Maskulinum wird das Geschlecht durch den Kontext erst festgelegt. In einem Kontext in dem das Geschlecht immer explizit erwähnt wird, verliert das generische Maskulinum automatisch seine Generik.
Es liegt nicht an der Sprache, sondern an dem Kontext, in dem sie verwendet wird.
Wer schulpflichtige Kinder hat, wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa katholischen Internaten im Allgäuer Hinterland (möglicherweise dort aber erst recht), ja inzwischen auch mit gegenderten Texten zugemüllt, während Repliken in Mailverteilern oder Whatsapp-Gruppen, die nicht gegendert sind, einerseits zu harschen Reaktionen und andererseits zu haarigen Missverständnissen führen.
Von den Schulen bekomme ich auch durchgehend gegenderte Lehrer-Eltern-Kommunikation, typischerweise in der Form der Nennung beider Geschlechter (also ohne *). Gleichzeitig bekommen meine Kinder allerdings auch von den Lehrerinnen ausgesuchte Arbeitsblätter mit Übungssätzen wie:
- Das Mädchen hilft seiner Mutter im Haushalt.
- Kleinen Mädchen schenkt man gerne eine Puppe.
- Blonde Haare finde ich schöner als dunkle.
- Der Lehrer gibt den Schülern viele Hausaufgaben.
- Der Koch steht in der Küche.
- Die Frau kauft ihrem Mann eine Krawatte.
- Einen dicken Blumenstrauß schenkte die Klasse ihrem Lehrer.
- Affenmütter lausen ihren Jungen das Fell.
- Der Fahrlehrer erklärt seinen Schülern die Verkehrszeichen.
- Der Zahnarzt hat dem Kind zwei Zähne ziehen müssen.
(alle von dem gleichen Arbeitsblatt)
Aber die gewaltig komplexe Debatte ist auch in jeder Hinsicht offen und unvollständig. Wenn man die Sprache auf die Weise, die zum Gendersternchen geführt hat, nach vermeintlichen Ungerechtigkeiten durchsucht, findet man ganze Universen von Formulierungen, Regeln, Begriffen, Hilfswörtern, Satzbauten usw. usf., die jede Abstufung von Ungerechtigkeit enthalten könnten - und derzeit gilt ja der Konjunktiv als Imperativ.
Wir haben z.B. diese Woche darüber diskutiert, ob man noch vom 'schwarzen Mann' reden darf. Die metaphorische Bedeutung ist der Tod und sie hat nichts mit Hautfarben zu tun. Aber man kann das eben auch verwechseln.
Aber breumel, Dir ist schon klar, dass es nichts weiter als eine Behauptung ist, dass es eine Kausalität zwischen den Berufschancen von Mädchen und dem generischen Maskulinum gibt, oder?
Die Probleme liegen eben sehr viel tiefer, wie auch das Arbeitsblatt weiter oben zeigt. Als ich wegen der Geburt meines Ältesten mehrere Monate bis wir eine Kinderbetreuung hatten nicht gearbeitet habe, wurde mit von meinem damaligen Kunden gesagt, er hätte gehört, ich würde in Frührente gehen. Meiner Frau wurde gleichzeitig untergeschoben, sie wäre eine Rabenmutter.
Meine Tochter ist sehr gut in den naturwissenschaftlichen Fächern. Sie glaubt es mir aber nicht, dass das so ist. Es ist bereits eine jahrelange Diskussion:
"Ich verstehe nichts davon."
"Schau her, es geht so..."
"Das ist ja ganz einfach!"
"Ja, es ist immer das Gleiche. Solange man es nicht verstanden hat, sieht es schwer aus, sobald man es kann, ist es ganz einfach. Und Dir fällt es immer leicht es zu verstehen."
"Das sagst Du immer..."
Dennoch:
Das Wesentliche scheint mir zu sein, dass die Debatte geführt wird. Das wir uns bewusster werden, bewusst eben auch, dass nicht die Sprache selbst sexistisch/rassistisch ist, sondern der Mensch, der sie benutzt. Und dass es dabei auf den Kontext, die Intention ankommt, nicht auf die einzelnen Wörter, die verwendet werden.
Und vor allem darauf, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben.
In diesem Sinne sehe ich die ganze Debatte um das Gendern eben als etwas Positives an. Auch wenn es mir nicht gerade der direkte Weg scheint, sondern ein durchaus umständlicher, bei dem man auch den ein oder anderen Schritt in die falsche Richtung macht.