Beiträge von Maarten

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    Diese Szene - und das ist die schlimmste Ausrede/Erklärung, die denkbar ist, denn eigentlich erklärt das im Hinblick auf den Text nichts - habe ich in fast identischer Dramaturgie selbst erlebt. Als mir das (indirekt, als Zeuge des Geschehens) passiert ist, stand ich eine ganze Weile ziemlich erschüttert da, während sich der Imbissbudenmensch schon wieder anderen Kunden gewidmet hat, und konnte den Anblick dieser Frau nicht loswerden, das knautschige Gesicht mit Ketchup beschmiert, aber auch ihren wütend-verzweifelten Blick, als sie mit der Pappe nach dem Imbissmenschen geworfen hat. Scheiße, habe ich da gedacht, nicht dass Dir sowas auch passiert, wenn Du über das Bisschen organische Material in Deinem Schädel allmählich die Kontrolle verlierst. Und deshalb ist es im Buch gelandet. Ich fand die Episode einfach sehr bemerkenswert, und brauchbar, weil sie einen Aspekt des Älterwerdens beleuchtet.

    Ja, im Leben erlebt man viele dieser Szenen, die, schreibt man sie in ein Buch, geradezu unglaubwürdig wirken.


    Puuuh, eine schreckliche Szene...

    Ich setze dem gerne mal ein Gegengewicht gegenüber (auch wenn es das im Buch mit Brahoon ja längst gibt):



    Und hier noch eines, wo er jung ist (irgendwas Anfang/Mitte 90 vermute ich):

    "Ich mag es sehr, in Großstädten zu sein und dort zu leben. In Großstädten gibt es vielleicht nicht weniger Arschlöcher als in kleinen Städten, prozentual betrachtet, aber in Großstädten ist es einfacher, ihnen aus dem Weg zu gehen." (aus 'Die Wahrheit über Metting' - Tom Liehr).


    Ich hatte ein wenig Angst vor dem neuen Roman 'Im wechselnden Licht der Jahre'. Ein melancholisch anmutender Titel, ein ebensolches Cover und ums Altern soll es auch noch gehen. Und es beginnt auch noch mit einem Prolog.

    Wird womöglich Tom Liehr langsam alt, und seine Romane auch?


    Nein, das eigentliche Thema dieses Romans ist das gleiche wie das aller Romane von Tom Liehr, das Leben an sich. (Und genau genommen fing schon 'Die Wahrheit über Metting' mit einem Prolog an...)


    Die Kulisse hier ist - und deswegen auch das obige Zitat - das Gegenteil einer Großstadt. Kleinmachnow zählt zwar zum Speckgürtel von Berlin, aber die direkte Umgebung dort von Alexander Bengt - dem Protagonisten dieses Romans - ist der Meisenring in Kleinmachnow und der ist wie ein kleines Dorf. Der Roman beginnt bereits deutlich davor in der Schulzeit von Alexander Bengt, aber auch da ist es immer seine direkte Umgebung, die beleuchtet wird. Zunächst seine Klasse, später die Bar, in der er arbeitet usw. bis eben zum Meisenring, der Gegenwart, die dann - ähnlich wie es auch in 'Die Wahrheit über Metting' war - im Präsens erzählt wird, in diesem für Liehr so typischen ungefilterten Stil bei dem man das Gefühl hat mitten im Kopf von Alexander Bengt zu sitzen. Womöglich sogar Alexander Bengt zu sein.

    Alexander Bengt ist dabei ein aufmerksamer, meist unvoreingenommener, empathischer Beobachter der, wie wir es von Liehr kennen, die Dinge sehr prägnant und häufig auch unkonventionell denkt - dabei gerne humorvoll durch starke Überspitzung. Altern ist tatsächlich ein Thema (die Dringlichkeit die das Verstreichen endlicher Zeit mit sich bringt, ist bei Liehr immer Thema), aber das eigentliche Thema ist die Interaktion zwischen Menschen, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander umgehen, die Dynamik des Lebens selbst. Das Ganze ist eingebunden in einer Handlung, die später im Roman sehr rasant wird und das Buch für mich zu einem Pageturner machte. Die eigentliche Action aber findet in den typischen überbordenden Sätzen mit ihren vielen Anspielungen und Betrachtungen statt.


    Dringende Empfehlung!

    Genau!

    (Edit: Auch bei zonaman eingestellt...)

    Unser Leben wird mit zunehmendem Alter immer stärker von unspektakulärer Routine bestimmt, die nicht in unsere Erinnerungen eindringt, weshalb die Lücken zwischen den guten Erinnerungen immer größere Zeiträume umfassen.

    Es kommt ein weiterer Effekt hinzu: Wir haben immer mehr bereits erlebt und dieses zum ersten Mal etwas machen und erleben und etwas dazulernen und zum ersten Mal schaffen, wird immer seltener. Das sind ja häufig die guten Erinnerungen.

    (Mal davon abgesehen, dass es sich auch umdreht: Zum ersten Mal etwas nicht mehr schaffen...)

    Edit: Ok, nicht hinzu, wie ich jetzt merke, es ist Teil des Mechanismus, den Du bereits beschrieben hast.

    Und noch einen:
    Das Gürsel stirbt, spielt eine erstaunlich geringe Rolle bei diesem HappyEnd. Das liegt natürlich auch daran, dass er in der Geschichte kaum auftaucht.

    Aber es ist auch ein Teil des Alterungsprozess:
    Wir verlieren Freunde aus den Augen, das macht nichts, es sind gute Freunde, man kann das jederzeit wieder auffrischen, man trifft sich und es ist wie in alten Zeiten. Bis man Freunde nicht nur aus den Augen verliert.

    In dem vorhergehenden Leseabschnitt und diesem stehen die vielen Katastrophen, die auf Alex hereinbrechen im Vordergrund. Einige davon sind selbst verschuldet, die schlimmste hingegen nicht.


    Ein wichtiges Thema in diesem und dem vorherigen Leseabschnitt scheint mir der Umgang mit Fehlern zu sein. Fehler haben diese unangenehme Eigenschaft, dass sie über die Zeit immer größer werden können und irgendwann sind sie so groß, dass sie nicht mehr eingefangen werden können. Es gibt vor allem 2 Fehler, die mit der Zeit größer geworden sind


    - Die abgekupferten Romane: Wir sind hier beim letzten Punkt, an dem Alex seinen Fehler noch eingestehen konnte.

    - Die Hetze gegen KK-Mann: Favel ist in der gleichen Situation wie Alex: Auch hier war es der letzte Punkt, an dem er seinen Fehler noch eingestehen konnte.


    Es geht aber auch um das Verzeihen von Fehlern. Monika Westhaus fällt es natürlich schwerer Alex zu verzeihen, als Alex seinem Sohn Favel bzgl KK-Mann. Was auch daran liegt, dass sich für Alex einiges wegen Tabeas Unfall stark relativiert.


    Alex prügelt sich kurz beim Einparken, es ist eine Situation, die typischerweise stark eskalieren kann. aber auch hier können sich beide verzeihen.


    Alex, kann auch sich selbst verzeihen, als er statt bei seinen Kindern oder bei Tabea im Krankenhaus zu sein, mit Big G und reichlich Herrengedecken die Nacht verbringt und sich am nächsten Tag auf die Suche nach alten, schlechten Erinnerungen macht. Und er kann diesen Fehler im Kontext der Situation auch richtig einordnen.


    Diese Fehler sind alle nichts gegen Tabeas Unfall, der aber nicht das Resultat eines Fehlers ist, sondern einer unglücklichen Ballung von Singularitäten. Wir wissen bereits aus dem Prolog was alles zusammenkam und das es ein Unfall ist, bei dem es ein Opfer gibt, aber keinen Schuldigen.


    Einen weiteren Fehler begeht Rafael, indem er nicht versucht das Erbe bei einem gemeinsamen Gespräch zu klären, sondern direkt die Anwaltskeule schwingt. Auch dieser Fehler wird verziehen.


    Wir bekommen auch die Auflösung bzgl. Tabeas angeblicher Misanthropie.
    Tom, da hast Du mich wirklich reingelegt. Ich habe an der Stelle als Tabea diesen Spruch bzgl. der Dummen bringt noch gedacht, was ist denn hier los: Die weiblichen Protagonisten sind bei Tom doch immer die weisen, klugen Menschen die ihre Männer an die Hand nehmen und ihnen zeigen, wie das so funktioniert mit dem Leben. Das kann hier nicht anders sein. Aber Alex hat an der Stelle die Introspektive, er scheint es zu glauben und später wird es immer wieder angedeutet, dieses Schauspieltalent von Tabea.

    Gerade die Stelle nochmal nachgelesen und tatsächlich

    'Du bist also genau genommen eine Misantropin", sagte ich und konnte das Lachen nicht unterdrücken. kann man auch so verstehen, dass Alex Tabea in dem Moment durchschaut hat. Ich habe mich jedenfalls gerne täuschen und hier aufklären lassen. Sehr gelungen...


    All das oben (und noch ein bisschen mehr) passiert in Relation zu Tabeas Unfall quasi nebenbei. All diese Geschehnisse spielen dabei kaum eine Rolle. Jedes dieser Ereignisse hätte ohne Tabeas Unfall ein großes Gewicht gehabt, jetzt passiert es alles gleichzeitig und ist trotzdem nahezu bedeutungslos. Gerade diese Phase in der Alex um Tabea Angst hat, fand ich sehr glaubhaft und packend geschrieben.


    Nach dem weitgehenden Happy-End (und wie viele andere hier, sehe ich das Aneurysma als ein Bewusstmachen der Kostbarkeit jedes Tages an. Tatsächlich ändert sich Tabeas Lebenserwartung dadurch ja nicht wirklich...) gibt es noch diese merkwürdige Currywurst-Szene. Eine Vegetarierein/Veganerin (vermute ich) bekommt einen unbezwingbaren Fressflash oder was ist das? Tom? Musstest Du mit dieser Szene eine verlorene Wette einlösen oder was?

    Das freut mich, dass Ihr das gelungen findet.

    Für mich hat dieser Wechsel große Bedeutung - was im Präteritum und dann auch noch von einer ich-erzählenden Person erzählt wird, ist reflektierend, verbindet das vergangene Ich mit dem gegenwärtigen, das die Vergangenheit hinter sich hat und, wichtig, die Erzählung bestimmt. Im Präsens ist die erzählende Person sozusagen unbefleckt, kennt ihre eigene, unmittelbare Zukunft noch nicht und muss mit dem Geschehen unvoreingenommen umgehen, während sie es gleichzeitig erlebt und davon erzählt.


    Edit: Im Präteritum sind der Ich-Erzähler und das Ich, von dem er erzählt, nahezu zwei verschiedene Personen, im Präsens ist es ein und dieselbe.

    Eine Stelle, die mir z.B. diesbezüglich positiv aufgefallen ist

    Zitat

    Es fühlt sich an, als wären der Hund und ich alleine auf der Welt, und für den Hauch eines Moments bemächtigt sich meiner ein anderes, ganz eigenartiges Gefühl: das Gefühl einer unerwarteten Freiheit. Es ist ein verklärter Augenblick, einer der die Vergangenheit falsch einschätzt und die Zukunft sowieso. Und der Moment, der mir vor mir selbst unangenehm ist, ist auch sehr schnell wieder vorbei. Dafür knockt mich der Gegengedanke fast aus, der eines zweiten, dieses Mal aber totalen, hoffnungslosen, endgültigen Verlusts.

    Der erste Gedanke ist eine Art Selbstschutz, eine irrationale Vorwegnahme des Verlusts, ein vorweggenommenes, behauptetes sich damit zurechtfinden, es ist ein Selbstschutz der tief aus dem Unterbewussten aufsteigt.
    Er wird ersetzt durch den bewussten Gedanken, verdammt, das passiert tatsächlich! Ein Gedanke, der durch das Erkennen des Selbstschutzmechanismus noch realer wird, quasi schon passiert ist.
    Und deswegen ausknockt!

    Es gibt in diesem Roman so viele gelungene Stellen, dass mir das Rosinen picken schwer fällt. Eine aus diesem Teil ist das Kapitel Zweihundertfünfzig bis zur Null, in dem es um Zeit geht, vor allem um die Endlichkeit der Zeit, aus subjektiver Sicht. Um den nicht greifbaren Kipppunkt an dem sich das Fortschreiten der Zeit von etwas positivem auf das man sich freut, in ein Zerrinnen des immer geringeren Rests dreht.

    Besonders gefällt mir dabei die Badezimmerszene...
    'Ich werde sterben'...

    'Das stimmt... Und willst Du im Bad sterben? Im Bett ist es viel gemütlicher.'

    Mehr kann man es doch nicht auf den Punkt bringen, oder?

    Hallo, Maarten.


    Tatsächlich ist die Kriki-Episode kurz vor dem Aufeinandertreffen mit Ayksen Brahoon ein Abschnitt, von dem ich mir beinahe gewünscht hätte, er wäre dem Lektorat zum Opfer gefallen. Er ist geblieben, weil es darin ja auch (wie an vielen Stellen) ums vorschnelle Urteilen geht, um ein Urteilen, das ins Weltbild passt, dem eigenen Weltbild dient, wofür nicht wenige über Leichen gehen, metaphorisch gesprochen. Die Rassismuskomponente darin kommt selbst mir beim Lesen ein gutes Jahr später ziemlich willkürlich vor, dramaturgisch gesehen. Inhaltlich ist das realistisch und zutreffend, dienen solche Vorgänge vor allem der Selbstüberhöhung, genau wie Du schreibst, aber trotzdem ist das ein bisschen verunglückt und macht einen Nebenschauplatz auf, wo es eigentlich schon genügend davon gibt.


    Deine Gedanken dazu fand ich trotzdem sehr spannend.

    Ich verstehe, warum Du es Dir beinahe gewünscht hättest. Mir geht es beim Lesen ja genau so.

    Ich habe mittlerweile geschaut, wo es in Präsens losgeht: Teil zwei - Kleinmachnow. Speckgürtel wird fast komplett in der Vergangenheit erzählt, weil die Entwicklung erzählt wird. Aber bis zu Gegenwart und dort im Präsens. Präsens kommt dabei fast nicht vor, aber immer mehr und es endet dann eben im Präsens. Und da geht's dann auch im nächsten Kapitel weiter. Es ist als würde von der Vergangenheit in die Gegenwart übergeblendet. Gefällt mir sehr. Und dieser Wechsel in das eher unübliche Präsens ermöglicht dann dieses Jonglieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

    Tom schaltet irgendwann diverse Gänge höher, so dass ich das ganze Buch jetzt durch habe, wieder zurückblättern muss und nochmal die vielen Eindrücke einsammeln muss. Ist mir bei den 'Freitags' damals auch so passiert, meine ich...

    Kleinmachnow...
    Dieser Teil fing sehr unkonventionell an, viele Infos, die nicht direkt was mit der vordergründigen Geschichte zu tun haben, dabei sehr geschickt jongliert in Gegenwart (tatsächlich auch in Präsens, bin mir nicht sicher, wann Du, Tom, dahin gewechselt hast) und Rückblende. Die Zusammenstellung der Menschen in Kleinmachnow ist dabei arg bunt geworden, was mir erst mal unglaubwürdig vorkommt. Andererseits: Wenn ich über meine eigene Wohngegend nachdenke, die nichts unkonventionelles ist, fallen mir 2 Dinge auf:
    Zum einen interessiert sich Alex wirklich für Menschen, nicht in einem 'Tratsch'-Sinn, sondern tatsächlich. Zum anderen, ja, es ist schon eine sehr bunte Gesellschaft, die man so um sich hat. Und ich vermute diese 'Diversität' sollte dargestellt werden, eine Diversität die sich nicht ergibt aus irgendwelchen Kategorien wie Hautfarbe, Religion, Ethnie usw., sondern einfach weil ohnehin jeder Mensch anders ist und es verdient individuell gesehen zu werden.
    Und im Zusammenhang mit der Kriki-Szene: ...individuell gesehen zu werden, statt in irgendwelche Kategorien eingeteilt zu werden und daraus Vor- und Nachteile ableiten zu wollen, vor allem aber Vorteile für sich selbst, indem man sich als den besseren Mensch markiert und daraus eine Machtposition ableitet (Während Kriki in der Szene eben vor allem eine Lachnummer ist, ist Christoph Berninger die Steigerung, er kann nicht nur moralische, sondern sogar göttliche Macht für sich beanspruchen...).

    Ich lese diese Szene im Zusammenhang mit der Kriki-Szene, nehme gedanklich Identitätspolitik mit ins Boot und fange an für mich selbst - mit meinem gesellschaftlichen Stammtischwissen und hoffentlich auch etwas gesundem Menschenverstand - das Ganze zu sortieren:

    Ich/wir sind im Geist des Universalismus erzogen. Gleiche Rechte und Pflichten für alle, um's mal knapp zu sagen. Und wenn jeder sich daran hält, wird die Welt automatisch gut, es gibt dann z.B. keinen Rassismus mehr.
    Jetzt ist schon wieder etwas Zeit vergangen und es ist die Frage aufgekommen, ob das wirklich so stimmt, ob das Prinzip des Universalismus tatsächlich ausreicht, um z.B. den Rassismus aus der Welt zu schaffen, warum stagniert die Entwicklung diesbezüglich dann? (Und ich frage mich, ob das nicht schon optimistisch ausgedrückt ist...)
    Die aktuelle Antwort darauf scheint mir zu sein, dass es neben dem individuellen Rassismus, der, wenn wir uns alle an den Universalismus halten komplett verschwindet, etwas gibt, das unter dem Begriff struktureller Rassismus (im engl. auch systemic racism) läuft. Der strukturelle Rassismus ist ein widerspenstiges Ding, weil er sich nicht in individuellen Verfehlungen zeigt, es gibt keinen Täter, er entzieht sich den Rechten und Pflichten des Universalismus. Sichtbar wird er stattdessen in Statistiken, z.B. hier:

    https://www.reuters.com/graphi…L-RACE/USA/nmopajawjva/#0

    Struktureller Rassismus ist nie individueller Rassismus, das ist ja sein Wesen. Wenn z.B. jemand sein Kind lieber in eine Schule stecken möchte mit wenig Schülern mit Migrationshintergrund, dann ist das kein individueller Rassismus - es gibt keinen konkreten Täter, es gibt kein konkretes Opfer - es fördert aber strukturellen Rassismus.


    Diese schwierige Herausforderung versucht Identitätspolitik zu adressieren, es ist eine Gratwanderung und an irgendeiner Stelle ist dabei was schiefgegangen, denn irgendwann wurde dieses strukturelle Problem, zu dem man strukturelle Lösungen finden muss, individualisiert. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.

    Nimmt man obige Statistik, dann ist klar: Weiße Menschen sind gegenüber schwarzen Menschen in den USA in den angegebenen Bereichen privilegiert. Statistisch gehören damit alle weiße Menschen in dieser Hinsicht der privilegierten Klasse an, alle schwarzen Menschen nicht, vollkommen unabhängig von ihrer jeweiligen individuellen Situation. Natürlich stimmt der Umkehrschluss nicht, das ist das Wesen von Statistik und genau das ist ja auch das Wesen von strukturellem Rassismus, und damit auch von der Politik, die sie adressiert, der Identitätspolitik.


    Irgendwann und irgendwie ist diese statistische Größe von irgendwem trotzdem individualisiert worden... Der falsche Umkehrschluss ist gezogen worden.


    Ich vermute, es hängt mit folgendem zusammen:
    Rassismus ist so verwurzelt in unserer Geschichte und Traditionen, dass es uns schwer fällt ihn zu erkennen. 'Sinterklaas und zwarte piet' scheint mir dafür ein gutes Beispiel.
    Für Menschen, die nicht mit dieser Tradition aufgewachsen sind, ist klar zu erkennen, dass es keine gute Idee ist, einen weißen Mann mit Bart auf einen Schimmel zu setzen und Geschenke an liebe Kinder verteilen zu lassen und diesen mit einem Haufen schwarz geschminkter Menschen mit Afroperücke, großen goldenen Ohrringen und rot geschminkten Lippen zu umgeben, deren Aufgabe es ist, böse Kinder zu bestrafen.


    Tatsächlich ist es ein langer gesellschaftlicher Umdenkungsprozess daran etwas zu ändern.
    Vor - keine Ahnung 10-15 Jahren - hätte ich als Niederländer, der in dieser Tradition aufgewachsen ist, gesagt: 'Leute, das ist eine vollkommen harmlose Tradition an der alle Spaß haben, niemand - wirklich niemand - hat dabei irgendeinen Hintergedanken...' und hätte über 90% der niederländischen Bevölkerung inkl. Premierminister Rutte hinter mir gewusst. Heute begrüße ich es sehr, dass eine Abkehr vom zwarten Piet stattfindet, die rassistische Verkleidung durch eine neutrale ersetzt wird.


    Es gibt ihn, diesen blinden Fleck und das scheint mir das Körnchen Wahrheit zu sein, was dazu geführt hat, dass dieser falsche Umkehrschluss gezogen wird. Dieser blinde Fleck ist etwas, was Zeit und Überzeugung braucht und eben auch jemanden der ihn sieht. Der eben nicht derjenige sein kann, der ihn hat.


    Nun ist Rassismus nicht das Thema dieses Romans, auch Identitätspolitik ist nicht das Thema dieses Romans. Kriki leitet aus einer sich selbst verliehenen moralischen Überlegenheit eine persönliche Überlegenheit ab. Sie kombiniert diese moralische Überlegenheit mit einer ebenfalls sich selbst verliehenen Überlegenheit, indem sie sich der sozial unterprivilegierten Seite zuordnet und dabei diesen Umkehrschlussfehler macht und aus dieser statistischen Unterprivilegiertheit heraus Ansprüche stellt. Sie ist eine Lachnummer. Eine individuelle Lachnummer.
    Wir sehen unterschiedlichste Fälle in diesem Roman, in dem Menschen für sich beanspruchen die Moral auf ihrer Seite zu haben und daraus etwas herleiten, oder auch Menschen, die feststellen, moralisch falsch gelegen zu haben und ihren Fehler korrigieren müssen (oder auch nicht). Oder auch das etwas schief geht, ohne dass jemand eine moralische Schuld hat und wie damit umgegangen wird.


    Dennoch brauchte ich diesen Exkurs zum Thema strukturellem Rassismus um das alles für mich ein bisschen zu sortieren...

    Zu Anfang des Abschnitts und als er seine Klischees über alte Leute von sich gibt dachte ich häufiger "was für ein Dummschwätzer". Und dass er bezahlte Fake-Rezensionen schreibt, macht ihn mir noch unsympathischer. Das ist Betrug am Kunden, und ich vermute nicht, dass er die Waren, welche er kostenlos erhält, versteuert. Er weiß schon, warum er anderen gegenüber eher vage bleibt.


    Und Tabeas Menschenbild ist zumindest während der Schulzeit ziemlich arrogant. Für eine hochbegabte Diplomatentochter ist ein Yogastudio dann auch nicht wirklich eine erfolgreiche Karriere ...


    Als Familie finde ich sie sympathisch, als Einzelpersonen eher nicht sonderlich.

    Bist ja schon hart in Deinem Urteil...
    Ich habe es nicht gelesen als Klischees über alte Leute, sondern als seine Ängste, die er gegenüber dem Alt werden hat. Und es ist eine Introspektive, wir lesen seine Gedanken, seine Ängste, seine Gefühle, es ist nichts was er ausspricht, es ist nichts was rational sortiert wird, sondern ungefiltert.

    Die Fake-Rezensionen macht er nach dem er lange anderes versucht hat, was er aus moralischen Gründen hingeschmissen hat. Es ist seine Abwägung und er versucht die Rezensionen so zu schreiben, dass wenn man sie liest, man trotzdem seine ehrliche Meinung herausliest.

    Die USA habe eben das Problem mit ihren zwei Parteien und wer dann von denen am meisten Lobbyisten hinter sich versammeln kann. Eine ungute Lösung in meinen Augen aber was soll ich über die USA meckern, wenn es hier mit jüngeren Leuten (Kanzeler etc.) auch nicht klappt?

    Zum Zeitpunkt der letzten Wahl: Scholz 62, Habeck 51, Baerbock 40, Lindner 42...
    Selbst der unabhängige Kandidat, der Kennedy-Neffe der drüben wegen seiner 'Jugendlichkeit' gerade punktet, ist 70, Trump bei der Wahl 78, Biden 82. Ich verstehe nicht, was Du da meinst...


    Ich empfinde durchaus Bewunderung dafür, dass jemand wie Nancy Pelosi sich mit 82 noch zumutet in die Ukraine zu reisen (2022), aber natürlich hätte sie längst Platz machen müssen... (was sie ja zum Glück mittlerweile gemacht hat. Nur Biden leider nicht...)

    Oh, tatsächlich gelten Psychopathen - die übrigens überproportional in den Vorständen großer Firmen vertreten sind - als meistens sehr oder sogar extrem intelligent, aber ihr Sozialverhalten lässt oft zu wünschen übrig, um es nett zu sagen. Man misst ja auch nicht ohne Grund einen IQ und einen EQ, und beide sagen Unterschiedliches aus.

    ...

    Ansonsten verlasse ich mich in dieser Hinsicht auf die Einschätzung, zu der man gelangt, wenn man eine Person ein bisschen näher kennengelernt hat. Am Rande: Ich bin mit jemandem bekannt, der amtlich belegt einen ziemlich hohen IQ hat und sich damit brüstet, im "Mensa-Club" zu sein, aber dieser Mensch hat nicht nur das Sozialverhalten einer Rolle Klopapier, nein, er glaubt auch noch, die Krone der Schöpfung zu sein.

    Doch noch mal ein paar Gedanken dazu...
    Wovon Du sprichst ist eine Korrelation zwischen Psychopathen, Vorständen, Intelligenz und sozialem Verhalten. Das hat allerdings nichts mit einer Korrelation zwischen Intelligenz und Sozialverhalten zu tun, sondern zeigt lediglich, dass das spezielle Profil Psychopath - mit u.a. dem Merkmal eines gestörten Sozialverhaltens - häufig mit hoher Intelligenz zusammengeht. (Und nebenbei, tatsächlich gibt es Berufe, in denen Psychopathen ihre speziellen Eigenschaften gut einsetzen können. Sie halten große Belastungen aus, verzeihen sich selbst ihre Fehler, können unter großem Druck die richtigen Entscheidungen treffen: Chirurgie z.B., ein Beruf der so belastend ist, dass er mit einer stark unterduchschnittlichen Lebenserwartung einhergeht.)
    Um feststellen zu können, ob es eine Korrelation zwischen Intelligenz und Sozialverhalten gibt, darf man nicht spezielle psychologische Profile betrachten. Ich meine mal gelesen zu haben, dass es eine solche Studie gab und tatsächlich keine Korrelation festgestellt werden konnte. Aber ja, es ist nur meine Erinnerung und ich habe mir auch nicht die Studie angeschaut. Wenn man das tut, stellt man sehr häufig fest, dass das Ganze nicht haltbar ist.
    Dein Mensa-Bekannter ist - wie Du sicher selbst weißt - ohnehin nur eine Anekdote. Aber ich bin mir auch sicher, dass die Mitgliedschaft im Mensa-Club ein sehr spezieller Filter für eine bestimmte Ausprägung von intelligenten Menschen ist. Und kann mir gut vorstellen, dass es ein Filter ist, der mit einer eher schlechten Ausprägung des Sozialverhaltens einhergeht.

    Und jetzt noch die Brücke zum Buch:
    Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum mir die Stelle mit Kriki nicht gefällt. Ich vermute es ist, weil es ein ähnlicher Filter ist, wie der Psychopathen-Filter oben. Kriki ist überspitzt dargestellt, aber man findet in den sozialen Medien Beispiele für diese Verbohrtheit und Dummheit, klar. Und auch ich ärgere mich dann darüber.
    Aber die 'wokeness'-Bewegung scheint mir auch eine gemäßigtere, zahlenmäßig größere Seite zu besitzen, die einfach nicht so auffällig ist, weil sie gemäßigt ist und dadurch mit Beispielen wie Kriki in einen Topf geworfen wird. Die ursprünglichen Ziele, aus der diese Bewegung mal hervorgegangen ist, teile ich durchaus. Hmm, ich muss die Stelle nochmal lesen.

    Vielleicht liegt's aber auch daran, dass ich den Eindruck habe, dass der Höhepunkt der Wokeness-Welle ohnehin überschritten ist und wir die nächsten Jahre mit dem Backlash zu tun haben werden, dessen Auswirkungen ich sehr viel mehr fürchte...
    Tatsächlich gibt's ja jetzt die befürchteten Sprachverbote und sie kommen nicht von der 'Sprachpolizei' und auch nicht von der Verbotspartei...
    Das meine ich aber noch nicht mal mit dem Backlash, sondern vielmehr den Umschwung bei den 12-27-Jährigen Richtung AfD...

    Für sich hat denke ich auch Trump die richtigen Entscheidungen getroffen. Er kann damit leben, in meinen Augen ein arroganter, ekelhafter Mensch zu sein. Er ist Präsident, steinreich, hat Kinder und eine hübsche Frau und gute Connections. Was sollte er bedauern?


    Wer seine Entscheidungen nicht bedauert, hat für sich gesehen auch nicht falsch entschieden.

    Meine Sicht is da eine ganz andere. Altern hat ja auch diese Eigenschaft, dass man Menschen immer mehr ansieht, ob sie glücklich durch's Leben gegangen sind und sein Gesicht spricht da eine klare Sprache, finde ich.


    Aus meiner Sicht braucht er immer mehr Macht, Ruhm und Bestätigung durch andere, weil er falsche Entscheidungen getroffen hat, eine lange Kette davon, der Point of no return anscheinend lange überschritten. Er ist eine tragische Figur wie aus einer griechischen Tragödie und die Frage, wie viele er mit in sein Schicksal zieht, ist noch offen. Er hatte alle Möglichkeiten und alles was er hinbekommen hat, ist ein unglücklicher Mann zu sein, der versucht sich selbst zu täuschen, indem er möglichst viele findet, die ihn bestätigen. Und je näher ihm die Leute sind, umso schlechter klappt das. Die sagen typischerweise irgendwann vor Gericht gegen ihn aus...


    Obama hingegen...

    https://en.wikipedia.org/wiki/Steal_Like_an_Artist


    Steal like an artist: The author cautions that he does not mean ‘steal’ as in plagiarise, skim or rip off — but study, credit, remix, mash up and transform. Creative work builds on what came before, and thus nothing is completely original.


    Das Problem ist, dass die Originalgeschichte nie veröffentlicht wurde und deswegen der 'Credit'-Teil schwierig wird. Und dadurch ist auch schwer zu beurteilen, ob Alex tatsächlich nur nacherzählt oder ob seine Umarbeitung genug Eigenständigkeit hat. Es klingt hier so, als hätte es die nicht, aber das kann auch sein Selbstbild sein.


    'Wetfield' übersetze ich für mich mit 'Treibsand'.

    Ich habe mal mit jemandem über Trump diskutiert. Meine Meinung ist, dass er jemand ist, der sein Leben komplett vergeudet hat und ich finde, dass man ihm das sehr gut ansieht. Mein Gegenüber meinte, er hat alles erreicht, ist sogar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten geworden, fand meine Ansicht vollkommen unverständlich.


    Wichtig scheint mir, ein Leben zu leben, das zu einem passt und sich dabei mit Menschen zu umgeben, mit denen man wachsen kann, sich gegenseitig beflügeln. Und das ist wirklich schwer genug die zu finden.


    Obama hat die richtigen Entscheidungen für sich getroffen, Trump die falschen. Oder?

    Also ich habe ein Buch gekauft in dem es um einen Mann geht, der Angst vor seinem 60 Geburtstag hat. Mir wurde außerdem auch was mit Musik versprochen... 🤔


    Aber wenn's um Moral geht, dann lasst uns gerne noch Ethik dazunehmen, denn in dem Spannungsfeld finde ich Tabea spannend. Moralisch ist sie doch eigentlich absolut perfekt. Ethisch hingegen finde ich sie ganz schön zwielichtig...


    Bei Alex ist's anders herum.


    Vielleicht hat Breumel ja das richtige Gespür und als Familie bringen sie beides überein? 😉

    Man misst ja auch nicht ohne Grund einen IQ und einen EQ, und beide sagen Unterschiedliches aus.


    Intelligenz nur an logischem Denken oder gar an Bildung/am erreichten Schulabschluss festzumachen, das ist eine Fehleinschätzung, die einem nicht mehr so häufig begegnet, aber hin und wieder doch.

    Ja, ich war recht unklar in meiner Aussage.
    In den IQ geht nicht nur logisches Denken ein, sondern auch z.B. Gedächtnis, räumliches Vorstellungsvermögen, Zahlenkompetenz, Sprachkompetenz. Und spätestens bei der Sprachkompetenz ist die Bildung mit im Spiel. Es ist der IQ, der mit Intelligenz gleichgesetzt wird und - hier kommt meine Verkürzung - im wesentlichen gemessen wird als eine Kombi aus logischem Denken (hierunter habe ich den logischen Anteil der obigen Einzelkomponenten summiert) und Bildung (hier habe ich den Bildungsanteil der obigen Einzelkomponenten summiert, der zwar eigentlich unerwünscht ist in IQ-Tests, aber unausweichlich ist).

    Der EQ wird zwar auch unter dem Begriff 'emotionale Intelligenz' geführt, aber in der Praxis spielt er keine Rolle, bei einem 'Intelligenz-Test' wird er typischerweise nicht getestet. Folgerichtig betrachtet der Mensa-Club für eine Aufnahme ausschließlich den IQ, nicht den EQ.


    Aber ich bin bei meinem Beitrag sowieso irgendwo falsch abgebogen, es hatte mehr zu tun mit einer anderen Diskussion die ich zeitgleich an anderer Stelle führte, wie ich jetzt merke... Egal...