'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Dunkles Wasser

  • Pünktlich zur Mitternacht habe ich mit dem Öffnen des Buches begonnen und gleich nach der Widmung mit googeln begonnen. Van Morrison war mir nicht geläufig, aber einige seiner Songs kommen mir doch bekannt vor.


    Die erste Geschichte bringt zunächst einige Schwierigkeiten für mich, da ich keine umfassenden Kenntnisse des Plattdeutschen sowie Bootsbegriffe habe. Für einiges ist Wikipedia hilfreich. Heute früh habe ich da noch einiges über den Aufbau eines Segelbootes und über den Glühkopfmotor gelernt.


    Die Geschichte selber ist in knappen aber markanten Worten geschildert. Lars ist der ältere Sohn des Fischers Jacobsen und nicht glücklich, das generationenalte Handwerk ausüben zu müssen. Sein Jähzorn hat ihn bereits als Jugendlichen in Schwierigkeiten gebracht und ist nur mühsam unter Kontrolle zu bringen. Alkohol hilft da nur scheinbar. Betrunken verliert er auch noch die Hemmung seinen Bruder zu beseitigen, weil Christoph sich das Mädchen angelacht hat, das sich Lars als seine Braut geglaubt hatte.

    So wie sein Vater ihn nie gefragt hat, ob er Fischer sein will, so wenig hat vermutlich Lars nie dieses Mädchen Gesa gefragt, ob sie ihn denn wirklich haben will.


    Christoph ist von ganz anderer Art. Er ist von heiterem Gemüht, ihm macht das Fischen auf hoher See Spaß und wahrscheinlich fliegen ihm alle Herzen zu. Grund genug für Lars eifersüchtig zu sein. Leider hat Christoph den Zeitpunkt schlecht gewählt, Lars mitzuteilen, dass er sich mit Gesa einig ist.


    Einige Stunden mit anstrengender Arbeit auf dem Boot vergehen, bis Lars die Gelegenheit zum Brudermord nutzt. Der Vater hat das wohl nicht beobachtet, aber sein Verdacht besteht. Die Mutter scheint auch etwas in diese Richtung zu ahnen und befragt Lars immer wieder. Aber der gesteht es nicht ein.


    Mit einer List bringt der Vater schließlich doch noch das Geständnis heraus: er lässt mit Hilfe des verkleideten Bootsjungen Christophs Geist erscheinen und den betrunkenen Lars eine Horrorvision durchleiden.


    Ob Lars durch eigenes Verschulden oder mit Nachhilfe des Vaters ins Wasser gestoßen wird, konnte ich nicht zweifelsfrei erkennen.


    Jedenfalls bleibt ein hochverschuldeter alter Fischer zurück, der beide Söhne verloren hat. Tragisch genug! :(

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Kurzgeschichten sind immer wieder einen Ausflug wert. Sie werfen uns direkt ins Geschehen, es gibt keine Zeit für Erklärungen, manches wird nebenbei klar oder erläutert, anderes muss erschlossen werden und dadurch lassen Kurzgeschichten finde ich besonders viel Raum für unterschiedliche Leseeindrücke - das wird eine spannende Runde.


    Ähnlich wie Tante Li habe ich auch früh mit dem Lesen der ersten Geschichte begonnen, nicht um Mitternacht, aber vor dem Frühstück. Und ich teile mir die Geschichten ein, damit ich nicht heute damit durch bin ;)


    Dunkles Wasser ist direkt ein Einstieg nach meinem Geschmack. Probleme habe ich auch mit dem Verständnis, gerade beim Dialekt, aber das macht die Atmosphäre dichter, und auch wenn ich den Vater nicht immer verstehe, erschließt es sich aus dem Kontext. Zwischendurch nachschlagen liegt mir nicht, solange ich noch mitkomme.


    Auf wenig Raum mit 13 Seiten und großer Schrift entfaltet sich ein Familiendrama, wie es das wohl häufig gab und auch gibt, wenn auch nicht in dieser drastischen Auswirkungen. Wir haben Zorn, Enttäuschung, Trauer, Einsamkeit. Und natürlich Distanz, Lars, der in seiner Rolle nicht zufrieden ist, in die er durch seine Eltern und die Umstände gedrückt ist, der alle auf Distanz hält. Was auch schön dargestellt wird, dass Mutter und Vater Namenlos sind und auf ihre Funktion reduziert werden. Einen Vater, der die Wünsche der Kinder auf Distanz hält und über deren Zukunft entscheidet. Eine Zukunft, die beide Kinder nicht mehr haben können.


    Den Gedankengang, dass der Vater Lars ins Wasser stößt, der kam mir nicht. Ich habe das Ende nochmal gelesen gerade, ich lese es nach wie vor nicht so. Kann aber nachvollziehen, dass es nach der Schilderung doch so passiert sein könnte und finde es gut, dass es offen formuliert ist.

  • Zum Glück scheint (zumindest hier in Hamburg) die Sonne, denn ich dachte, dass ich mal schnell in die erste Geschichte reinluschere (luschern = neugierig und heimlich gucken), natürlich bin ich "kleben" geblieben, aber sie hat mich leider ziemlich deprimiert...

    Aber sie ist großartig geschrieben und und hat mich förmlich eingesogen in die harte Welt der Fischerei, ich konnte den kalten Sturm, die Gischt förmlich spüren. 1922 war Fischerei ja noch richtig "Handarbeit" (heute sind die Fischfangboote ja manchmal kleine Maschinenschiffe) und der Gedanke sein Leben lang diesen Beruf ausüben zu müssen, kann einen schon deprimieren, da muss ich Lars recht geben - rechtfertigt aber in keiner Weise seine Handlungen...

    Ich habe so vor mich hinüberlegt: Christoph hat ja wohl den denkbar schlechtesten Moment gewählt, seinem Bruder von Gesa zu erzählen (die Frage: wusste Gesa, dass Lars denkt, sie sei "sein Mädchen"?), aber so ist es eben manchmal im Leben... Vater und Mutter scheinen etwas zu ahnen, denn anscheinend schätzen sie den Jähzorn ihres ältesten Sohnes richtig ein - na ja, es ist ja schon einmal ein ähnlicher Vorfall passiert... Und durch die List will der Vater erreichen, dass Lars seine Schuld eingesteht... Die Szene habe ich mehrmals gelesen, weil mir unklar war, ob der Vater "nachgeholfen" hat, dass Lars über Bord geht - ich denke, Lars ist von allein gesprungen, aber der Vater hat nichts unternommen, ihm zu helfen...

    Aber der eigentlich Grund, warum mich die Geschichte so traurig gemacht hat: da sitzen Vater und Mutter (beide wohl schon älter )hochverschuldet zu Beginn einer Wirtschaftskrise, haben keinen Erben - wie müssen sie sich gefühlt haben?

    Aber wie ich oben schon schrieb: abgesehen davon ist die Geschichte ganz toll geschrieben, kein Wunder, dass sie einen 1. Platz belegt hat!!!

  • da ich keine umfassenden Kenntnisse des Plattdeutschen

    Ich auch eigentlich nicht, aber das hat bei mir ganz gut geklappt, in dem ich mir die Sätze vorlese, gesprochen kann ich besser verstehen als gelesen...

    Die Geschichte selber ist in knappen aber markanten Worten geschildert.

    Das ist eine gute Beschreibung!

    Ob Lars durch eigenes Verschulden oder mit Nachhilfe des Vaters ins Wasser gestoßen wird,

    Darüber habe ich auch gegrübelt... Ich bin (für mich) zu dem Schluss gekommen, dass der Vater "nur" keine Hilfe geleistet hat...

    Jedenfalls bleibt ein hochverschuldeter alter Fischer zurück, der beide Söhne verloren hat. Tragisch genug!

    Das empfand ich auch so...

  • Ich habe die Geschichte auch schon gelesen. Mit dem Platt hatte ich nicht so das Problem, geschrieben verstehe ich da deutlich mehr, als wenn es jemand spricht.


    Dieter Neumann Ist die Geschichte schonmal online zu lesen gewesen? Oder hast du sie mal bei einem Eulentreffen gelesen? Ich kann mich dumpf an sie erinnern.


    Ich würde schon sagen, dass Lars von alleine über Bord ging, springen ist ja doch eine aktive Sache:


    Zitat

    Lars greift an die Schanz, springt, fällt

    Ich denke, er ist kopflos vor Panik geflohen, betrunken war er ja wohl auch....


    Traurig für die Familie, jetzt sitzen die Eltern ohne Kinder da und die Zeiten werden sicher nicht einfacher.....

  • Was mit Schanz genau gemeint ist, konnte ich nicht eruieren.

    Lars bekommt irgendwie das Beiboot in den Rücken gestoßen, oder? :/

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Das stimmt, es kommt auf jedes Wort an streifi Das spricht dann schon komplett gegen ein gestoßen werden. Vielleicht war mir das unterbewusst klar, und beim Nachlesen habe ich dann doch nicht genau geschaut.


    Die Schanz müsste die „Reling“ sein, also der Aufbau außen am Boot. Und beim Fallen kracht Lars dann noch mit dem Rücken ans Beiboot, das ja weiter unten hängt.

  • Besagtes Segellexikon sollte man sich als Landratte besser neben das Buch legen. ;) Denn mit den Begriffen hatte ich deutlich mehr Schwierigkeiten als mit dem Platt, das war kein Problem.


    Mir ist jetzt kalt.

    Und hätte ich einen Vater, würde ich den jetzt anrufen. Einfach mal hören, wie es ihm geht. Man muss ja nicht viele Worte machen.

    Für Eltern kann es doch nichts Schlimmeres geben, als dass ein Kind vor ihnen stirbt. Und hier beide...

    Und ganz profan: Ich überlege, wie frisch ein mindestens drei Tage alter Dorsch wohl ist,

  • Kurzgeschichten sind immer wieder einen Ausflug wert. Sie werfen uns direkt ins Geschehen, es gibt keine Zeit für Erklärungen, manches wird nebenbei klar oder erläutert, anderes muss erschlossen werden und dadurch lassen Kurzgeschichten finde ich besonders viel Raum für unterschiedliche Leseeindrücke (...)

    Besser kann man das Wesen der Short Story kaum zusammenfassen!

  • Bevor ich jetzt die Geschichte lese:

    Ich mag die Widmung "für meine geliebten Enkelkinder" in einem Band mit Kurzgeschichten.

    Vor meinem geistige Auge liest Opa seinen Enkeln vor und macht sie so mit Literatur bekannt.

    :love:

    Das ist sehr schön gesagt, obwohl ich meinen Enkelkindern (11,10,3 u. ab Mai 0 Jahre alt) derzeit nicht gerade DIESE Geschichten vorlese ... =O

  • Meine Fresse, ich sitze noch im Büro, habe gerade das Plastik vom Büchlein entfernt und dann gleich mal angefangen, die erste Geschichte zu lesen. Ich wollte nur die ersten Sätze auf mich wirken lassen und dann zu Hause weiterlesen. Ging aber nicht. Die Worte, die Sätze, die Bilder haben mich mitgezogen, ich konnte nicht mehr aufhören, ich bin mit Lars versunken.

    Ein toller Einstieg, ich bin fasziniert und berührt von diesem Text.