'Ansichten eines Clowns' - Kapitel 13 - 16

  • Nach 27 Jahren führen nun also Hans und sein Vater das erste ernsthafte und ehrliche Gespräch miteinander. Aber beide können nicht aus ihren Rollen. Hans ist weiterhin der Clown und der Vater ... ? Der ist schwierig zu greifen finde ich. Nach außen der makelose Unternehmensleiter, TV-erprobt und immer souverän und nach innen steht er unter der Fuchtel seiner Frau. Nach dem Gespräch mit Hans ist er völlig verwirrt, da er wohl merkt, dass seine Innen- und seine Außenwelt völlig konträr sind.

  • Der Vater gewinnt hier im Kapitel 15 Profil, da er sich jetzt mit seinem Sohn selbst auseinandersetzt. Bisher hat man ihn ja nur als blassen und handlungslosen Background hinter seiner Frau wahrgenommen.
    Man erfährt auch mehr, wie du, xexos , ja oben schon geschildert hast, über seine öffentliche Rolle, und diese scheint viel gewichtiger als das, was bisher zu erwarten war. Vorher dachte ich, dass er im Wesentlichen Verwalter des ererbten Vermögens und der Firmenanteile sei, aber hier wird ja klar, dass er durchaus auch eine Person des öffentlichen Lebens ist.

    Bezeichnend ist aber wieder die Gefühlskälte oder -verirrung, wenn er Leos Konversion zum Katholizismus fast genauso schlimm findet wie Henriettes Tod. Und die Mutter ihren Sohn später mit den Worten Arthur Schnitzlers verstößt. So eine Art von Eltern-Kind-Beziehung kommt vielleicht auch heute noch vor, ist aber schon ein Schreckgespenst einer massiv konventionsgebundenen Gesellschaft, die das gesellschaftliche Ansehen innerhalb der sozialen Gruppe über sogar die engsten familiären Bindungen stellt.

  • Wenn wir es ganz genau nehmen, sagt Hans' Vater im 15. Kapitel:


    "Was glaubst du wohl, wie mir zumute war, als Leo zu mir kam und sagte, er würde katholisch. Es war für mich so schmerzlich wie Henriettes Tod [---]."


    Monströs ist das auf jeden Fall, egal ob er das schlimmer oder gleich schlimm findet wie den Tod seiner Tochter.


    In diesem Kapitel gibt es auch eine Stelle, die Hans' Beziehung zu Marie sehr schön beleuchtet. Als er in der Küche seinen Teller mit Bohnen isst, schaut er sich im Spiegel dabei zu und erinnert sich an sein Gesichtstraining und wie er danach immer zu Marie musste, um sich in ihren Augen zu spiegeln und sich dadurch wieder seiner selbst sicher zu werden. Das finde ich ein starke Metapher dafür, dass Marie sein Halt war und er sonst Gefahr läuft, sich selbst zu entäußern, weil er ja auch in der Gesellschaft und in den bestehenden Gruppierungen und deren Ideologien nur Verlogenheit und keinen Halt finden kann. Da ihm nun Marie genommen ist, schlägt er metaphorisch gesehen um sich, um seine eigene Haltlosigkeit zu überspielen.

  • Ja, sehr treffend ausgedrückt finsbury !

    Ich weiß nicht, ob man das noch Liebe nennen kann? Mir kommt es wie Selbstaufgabe vor. Hans ist mental völlig abhängig von Maries Beachtung und vergisst dabei, dass sie auch andere Bedürfnisse hat als ständig nur für ihn dazusein.


    Die Sache mit den Verrechnungschecks hat mich auch ziemlich verblüfft. Warum kann er kein eigenes Konto bei einer Bank eröffnen? Gab es damals Girokonten nur für Leute mit regelmäßigen Einkünften?

    Hat er alle Rechnungen immer nur bar bezahlt? Für seine Wohnung muss er doch auch Strom, Wasser, usw. bezahlt haben.

    :hmm

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Wenn wir es ganz genau nehmen, sagt Hans' Vater im 15. Kapitel:


    "Was glaubst du wohl, wie mir zumute war, als Leo zu mir kam und sagte, er würde katholisch. Es war für mich so schmerzlich wie Henriettes Tod [---]."


    Monströs ist das auf jeden Fall, egal ob er das schlimmer oder gleich schlimm findet wie den Tod seiner Tochter.

    Ja, das ist schon der Hammer.

    Wenn es nicht so traurig-skandalös wäre, könnten einem diese Eltern fast leid tun: keines ihrer Kinder erfüllt deren Erwartungen.

    Henriettes Tod war natürlich schlimm für die ganze Familie, aber es war Krieg - da wird überall um einen herum gestorben. Das konnten die vielleicht eher als Schicksal (oder Gottes Wille) annehmen.

    Leos Entscheidung nicht nur katholisch zu werden sondern sogar eine kirchliche Laufbahn anzustreben, war insofern anders hart für den Vater, der sich dadurch wohl persönlich verraten gefühlt hat :/

    Und Hans enttäuscht auch, weil er keine anerkannte Künstlerlaufbahn anstrebt.

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    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Warum darf man einem einjährigen Kind kein rohes Ei geben? :gruebel

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    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Henriettes Tod war natürlich schlimm für die ganze Familie, aber es war Krieg - da wird überall um einen herum gestorben. Das konnten die vielleicht eher als Schicksal (oder Gottes Wille) annehmen.

    Naja, nach dem Willen der Eltern hätten die Kinder bis 1945 stramme Nazis werden müssen. Zumindest Henriette hat diesen Wunsch erfüllt. :rolleyes:

    So, wie ich es gelesen habe, ist Henriette von ihrer eigenen Mutter an die "Front" geschickt worden, um "die heilige deutsche Erde zu verteidigen" (Kap. 4), und zwar als völlig klar war, dass der Krieg verloren war. Also, unbeeinflussbares Schicksal würde ich das nicht nennen. Zu Beginn des Kapitels heißt es zwar, dass Henriette sich selbst meldete, aber aus dem Gespräch später am Esstisch wird klar, dass die Mutter sie darin zumindest massiv unterstützte. Dass Henriette Nazi war, habe ich so im Buch nicht mitbekommen. Sie hatte doch auch so einen anarchischen Zug, vergaß plötzlich um sich Zeit und Raum, das passt eher nicht zu einer strammen Parteisoldatin. Dass sie auch unter einem schulischen sozialen Druck stand, unbenommen, aber ohne Einwilligung der Eltern mit sechzehn ... ?


    Ich habe inzwischen ein bisschen in einer Böll-Biografie von Klaus Schröter über Bölls Familie, Kindheit und Jugend gelesen. Das ist ganz erhellend, wenn man sich überlegt, wie Böll auf diesen Hans Schnier kommen konnte. Böll selbst kommt aus einer Handwerkerfamilie, sein Vater war eine Art Kunsttischler und konnte der Familie bis zur Weltwirtschaftskrise Anfang der Dreißiger einen recht guten Wohlstand ermöglichen, zeitweise lebten sie in einem eigenen "herrschaftlichen" Haus mit sieben Zimmern in einem Kölner Vorort, wo "Hein" mit seinen Geschwistern eine glückliche, wohlbehütete, aber auch freie Kindheit genoss. Die Familie war praktizierend katholisch, aber nicht bigott. Auch als es durch das Faillement einer Handwerkerbank zu einer massiven Geschäftskrise kam und der Vater seine inzwischen vier Häuser verkaufen musste, blieb die Familie in sich geschlossen in einer Art trotzigen Familiensolidarität gegenüber den Zeitumständen.

    Vielleicht spricht das ein bisschen aus Hans Schnier in seiner Entrüstung über seine Eltern, da ja der Autor aus eigener Erfahrung weiß, dass Familie und auch praktizierte Religiosität durchaus auch sichere Häfen sein können. Deshalb entrüstet sich Böll vielleicht um so mehr über Heuchelei, Karrieristentum im Mäntelchen des Eintretens für eine Sache und was dergleichen Dinge mehr sind.

  • finsbury Deine interessante Schlussbetrachtung kommt hier etwas zu früh. Möchtest Du diese Absätze nicht besser in den letzten Abschnitt verschieben?

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    :lesend Tom Liehr: Im wechselnden Licht der Jahre

  • Dass Henriette Nazi war, habe ich so im Buch nicht mitbekommen. Sie hatte doch auch so einen anarchischen Zug, vergaß plötzlich um sich Zeit und Raum, das passt eher nicht zu einer strammen Parteisoldatin. Dass sie auch unter einem schulischen sozialen Druck stand, unbenommen, aber ohne Einwilligung der Eltern mit sechzehn ... ?

    Nein, von einer politischen Überzeugung stand da nichts. Ich habe da wohl ein paar Gedankengänge übersprungen. Die Ideologie, wessen auch immer, führte jedoch zu ihrem Tod.

  • Ich bin noch dabei, hatte nur in den letzten Tagen keine Zeit für Böll. :wave


    In diesem Abschnitt lernen wir endlich Hans Vater etwas näher kennen. Bisher hatte ich den Eindruck, dass er ein unnahbarer Patriarch sei, der hauptsächlich in seinem Büro "thront" und die Erziehung seiner Kinder seiner Frau überlässt. Aber in dem Gespräch mit Hans zeigt er durchaus Gefühle und Sorge um ihn. Er kann leider aber damit nicht bei Hans ankommen, die beiden sind zu verschieden, um sich verständigen zu können. Das hat eine gewisse Tragik.


    Betroffen hat mich Hans Bericht darüber, dass es im Hause Schnier zuwenig zum Essen gab - die Furcht vor Kohlehydraten scheint älter zu sein als ich dachte. Dass sich die Kinder der reichen Schniers bei den Eltern der ärmeren Freunde "durchfraßen", zeigt, dass Mutter Schniers Erziehung ziemlich erbarmungslos war. Sie ist eine richtige "Almond Mom", auch wenn es diese Bezeichnung damals noch nicht gab.


    Bei Hans bekomme ich immer stärker das Gefühl, dass er Marie als eigenständigen Menschen gar nicht richtig wahrgenommen hat. Sie war für ihn selbstverständlich, was nicht heißen soll, dass er sie nicht geliebt hat. Ich denke, es lag nicht nur am "ungesunden" Einfluss der Katholiken, dass sie ihn verlassen hat.

  • Nach dem Gespräch mit Hans ist er völlig verwirrt, da er wohl merkt, dass seine Innen- und seine Außenwelt völlig konträr sind.

    Ihm war vermutlich nicht mal klar, wieviel er von seiner Familie gar nicht mitbekommen hatte.

  • Hans ist mental völlig abhängig von Maries Beachtung und vergisst dabei, dass sie auch andere Bedürfnisse hat als ständig nur für ihn dazusein.

    Sehr gut gesagt, so meine ich das auch.