Heute Abend hat mich das Meer besucht

  • Oben beim Wald wollten wir uns treffen, damit uns niemand sieht. Ich bin ja nicht die einzige, die den Ozean liebt, und heute will ich es nicht teilen, das Meer. Heute soll es nur mir gehören.
    Es verspätet sich ein bisschen. Kein Wunder, es ist ein weiter Weg ins Weinviertel, egal, ob vom Norden oder vom Süden.
    Ich warte geduldig am Ufer des tiefen Maisfelds, als erst der Wind, dann die Möwen sein Kommen ankündigen. Aufgeregt schlüpfe ich aus den Schuhen, ziehe die Socken aus und wate vorsichtig ins Wasser. Es ist kühl, aber schließlich haben wir eine Verabredung, also beiße ich die Zähne zusammen, bis ich in seinen Fluten versinke.
    Auf dem Grund des Meeres setze ich mich. Lasse ihm Zeit, sich von der anstrengenden Reise zu erholen. Streiche über die Pflanzen, die neben mir wuchern, bewundere die Korallen und folge den Fischschwärmen.


    Dann erzählt das Meer mir eine Geschichte. Das tut es immer, wenn es mein Gast ist. Ich liebe seine Geschichten, lausche ihnen atemlos, lasse mich in sie fallen, treibe in ihnen.
    Von Meerjungfrauen erzählt es mir heute. Sie weinen kostbare Perlen und fädeln sie zu langen Ketten. Warum sie unglücklich sind? Sie sehnen sich nach stürmischen Berührungen, peitscht das Meer, aber sie wissen, dass sie sterben werden, wenn sie ihre Unberührtheit verlieren. Doch ihre Furcht vor dem Tod ist mächtiger als die Sehnsucht.


    Von furchtlosen Piraten erzählt es später. Ich rolle die Augen. Jungfrauen und Piraten, anscheinend hat das Meer unterwegs im Kitsch gebadet. Trotzdem lausche ich gebannt. Die Seeräuber ertrinken, weil sie sich nicht mit ein bisschen Gold zufrieden geben, sondern alles wollen. Sämtliche Schätze vom Meeresgrund. Unersättlich sind sie und haben keine Angst vor dem Tod. Und, sind sie glücklich?, schweige ich und das Meer schweigt zurück: Sie sterben mit einem Funkeln in den Augen.


    Während das Meer sich müde zurückzieht, breite ich Arme und Netze aus. Ein großer Fisch verfängt sich in mir. Am offenen Feuer werde ich ihn braten, mit Butter und Knoblauch, denke ich und sage dem Meer Lebwohl.


    „Es gibt Fisch“, strahle ich zu Hause.
    „Mama, das ist Kukuruz.“ Meine Tochter schüttelt verwundert den Kopf, als ich den Maiskolben auf den Rost lege. „Wo hast du eigentlich deine Schuhe gelassen?“


    Ich könnte schwören, bei meiner Lebenslust, meiner Nachdenklichkeit und allem was mir sonst noch heilig ist, ich könnte schwören, das Meer hat mich heute Abend besucht.

  • Hinterwäldlerin,


    man nennt es Phantasie.


    Heutzutage leider fast außer Gebrauch, wenn es nicht mit Produktwerbung einhergeht. :grin


    (Josephine, es ist einfach nicht Dein Genre, Du hast beim Schreiben wie bei Lesen einen ganz anderen Schwerpunkt, das ist völlig in Ordnung. Kann auch eine Entwicklungsstufe sein, ich selber war mit 15/16 bei weitem sachlicher und zugleich romantischer als heute, 30 Jahre später. Es bleibt spannend)



    testsiegerin


    etwas stört mich am letzten Satz. Ich sitze hier und spreche ihn laut vor mich hin, komme aber nicht ganz dahinter. Scheint am 'schwören' zu liegen. Vielleicht ist das Wort bei mir falsch besetzt. Wenn man schwört, ist man doch sicher. Bei mir klingen Zweifel mit.
    Denke ich zu sehr vom Gegenüber und nicht vom erzählenden Ich aus?
    Liegt es am 'könnte'?
    Ich habe den vagen Eindruck, daß der letzte Satz das Konzept aushebelt. Oder wenigstens ins Schwanken bringt.
    Vielleicht brauche ich auch bloß noch mehr Kaffee.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus


  • Liebe Testsiegerin,


    ich bin angetan,berührt, begeistert!


    LG Sarah :wave

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

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  • a) "ich könnte schwören, ich habe gerade xy vorbeigehen sehen" (= aber ein bisschen zweifle ich doch)
    b) "ich schwöre beim allem, was mir heilig ist, ich habe gerade xy vorbeigehen sehen" (= ich bin total sicher, aber ich merke, dass du mir nicht richtig glaubst)


    der letzte Satz kombiniert a und b - vielleicht ist es das, was dich stört, magali ? dass man nicht bei allem, was einem heilig ist, schwören (= beteuern) kann, wenn man sich selbst gar nicht ganz sicher ist?


    wunderschöner Text! :anbet

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • MaryRead


    Ich glaube, Du hast den Kompaß richtig ausgerichtet.
    Es geht doch nichts über eine echte Piratin!
    :lache


    Und ja, der Text ist schön, hatte ich vor lauter Irrungen und Wirrungen ganz vergessen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Nur beides zusammen will nicht recht passen ;-)

  • Zitat

    Original von testsiegerin
    warum?


    ist es im prinzip nicht egal, ob man sich selbst oder jemand anderem beteuert, dass es genauso gewesen ist?


    Darauf kommt es in der Tat nicht an, zumindest nicht für mich.
    Aber, wie auch Magali & Mary schon festgestellt haben, stört das Nebeneinander von Zweifeln einerseits und Beteuern andererseits... :wave

  • also... ich versteh zwar, was ich da erklärt hab - aber wenn ich mir den Text so durchlese, stört's mich inhaltlich nicht, sondern ich finde, es ist okay, wenn beides drin ist ;-)


    sprachlich quietscht's - aber vielleicht, wenn man's umdreht?


    bei allem, was mir heilig ist (= ich schwöre, dass es stimmt, was jetzt als Nächstes kommt:), ich könnte schwören (= ich glaube fast, aber wirklich sicher bin ich nicht) , das Meer...

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Verstehe Dich schon, Mary...
    Hätte dazu auch nichts gesagt (wollte einfach mal gar nicht meckern), aber da der Anstoß dann kam...
    Ich persönlich hätte es runder gefunden, entweder zu beteuern ODER Zweifel anklingen zu lassen...
    Mit beidem bekommt der Text ganz zum Schluss eine Note, die mich grübelnd zurücklässt... Ja wie denn nun, war das jetzt so oder nicht oder was oder wie? Das mag vielleicht sogar beabsichtigt sein, mir wäre es aber lieber gewesen, ich hätte könnte einfach nur denken hach, schön, wow!


    (Das kann ich zwar, aber eben mit der erwähnten, kleinen Eischränkung)

  • Zitat

    so scheint's dir öfter zu gehen, oder?


    Gar nicht wahr!

    Zitat

    zumindest bei meinen texten.


    Das trifft es wohl besser.


    Das ist alles nur die Schuld von meinem Deutschlehrer. Nach 5 Monaten bei dem muss ich alles interpretieren und ein Tertium comparationis finden und kann nichts unkommentiert und ohne standfesten bezug zur Vergangenheit einfach genießenderweise stehenlassen.



    Zitat

    Josephine, es ist einfach nicht Dein Genre, Du hast beim Schreiben wie bei Lesen einen ganz anderen Schwerpunkt, das ist völlig in Ordnung.


    Ich habe beim Schreiben einen Schwerpunkt? *Freude* Das wusste ich noch gar nicht. (Was denn für einen?)