'Die Nebel des Morgens' - Seiten 097 - 202

  • Irgendwie merke ich, daß mir ganz andere Dinge auffallen ...


    ... und deshalb bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Beiträge nicht gleich in den Rezensionsthread stellen sollte ...



    Dieser Roman spielt nämlich m.A.n. ein feines doppelbödiges Spiel mit uns, und da die Autorin längere Zeit mit dem Theater zu tun hatte und wieder zu tun hat, ist mir von anfang an die attische Tragödie nicht aus dem Sinn gegangen: Man nehme einen Stoff, der mindestens in groben Zügen als bekannt vorausgesetzt werden kann, und inszeniere ihn neu, um ein bestimmtes Sujet herauszuarbeiten. Motivationen zu erforschen, die zu den Ereignissen führten.
    Dazu bringt man die vorkommenden Figuren in völlig neue Beziehungen, verleiht ihnen eine eigentümliche Psychologie. Wichtig ist, daß sie eigentlich alle "Mittlere Charaktere" sind, und im Falle einer Tragödie, wie in unserem Falle, "bigger than life", d.h. die Helden etwas besser als "Normalsterbliche", so daß man sie bewundern kann.


    Das Historische dient in diesem Roman -- wie in der attischen Tragödie -- als Verortung und verfremdende Kulisse zugleich, als eine Bühne, die Distanz schafft, so daß man das Dargestellte quasi in der Totale betrachten kann.


    Und zugleich sorgt die konsequent subjektive Sicht durch die Augen des Erzählers für eine weitere perspektivische Verfremdung und Verzerrung. Wir sehen die Ereignisse mit Brynts Augen, aus Brynts Erinnerung (eine doppelte Verfremdung und Verzerrung, denn jede Erinnerung ist ein subjektiv verändertes Abbild des tatsächlichen Geschehens, zu dem wir als subjektive Wesen ohnehin keinen unverfälschten -- objektiven -- Zugang haben).



    Ich habe am Anfang gerungen mit historischen Ungenauigkeiten -- bis mir nach etwa 20 Seiten klar wurde, daß diese keine Rolle spielen! Dies ist -- als was immer der Verlag das Buch etikettiert -- kein "historischer Roman" im engeren Sinne. Es geht nicht um eine wie auch immer geartete historische Realität, sondern um eine "überzeitliche", allgemeinmenschliche Wirklichkeit, wie sie sich in Mythen ausdrückt. Denn das Nibelungenlied mag einen historischen Kern haben -- nichtsdestotrotz ist und bleibt es (wie die geschichte Markes in Das Herz des Königs) ein Mythos.


    Mythen sind keine in Stein gemeißelten Texte mit ganz bestimmten Bedeutungen in jedem einzelnen Wort. Sie haben bestimmte feste Handlungselemente, Wendepunkte, Personennamen, sind jedoch variabel in ihrer Durchführung. Wagners Ring des Nibelungen ist eine Variante, das Nibelungenlied eine andere, eine dritte das Kudrunslied, dann sind da die unterschiedlichen Varianten in den Sagenkompilationen, meist durchdrungen vom Geist der Zeit ihrer jeweiligen Niederschrift: häufig deutschnational und schwülstig wie alte Sammelbildchen oder gestellte Fotos von den Bayreuther Festspielen, manchmal wie simple Abenteuergeschichte, dann wieder tiefenpsychologisch überhöht ...


    Viola Alvarez' Variante ist wieder anders. Hier ist z.B. nicht der blonde Recke Siegfried die große Nummer, sondern Hagen von Tronje. Nicht daß das neu wäre (auch W. Holbein hat sich daran versucht), aber ihre Auseinandersetzung spielt sich sprachlich, erzählerisch und dramaturgisch auf einem Niveau ab, das einen Unterhaltungsroman weit hinter sich läßt und zugleich überaus unterhaltend ist.


    Auf jeden Fall macht es sogar einer verkopften Tante wie mir großes Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Weglegen? Das kam schon nach 10 Seiten nicht mehr in Frage!



    Klingt wie eine abschließende Rezi ... und das nach kaum 100 Seiten ... :wow

  • Hagen beweist seine Treue nach Gilbichs Tod, indem er darauf verzichtet, selbst König zu werden, und stattdessen Gunther auf dem Weg zum König zu unterstützen.
    Neben Selbstverzicht hat Hagen noch weitere Eigenschaften.
    Er besitzt Sensibilität, wie das Gespräch zwischen ihm und Giselher im Kapitel "Das Land der Untergegangenen Die fünfte Erinnerung".
    Seine Liebesfähigkeit zeigt sich in seinen Beziehungen zu Uote und Brynhild.


    Krimhilds Entwicklung als eitle, verzogene junge Frau ist weniger schmeichelhaft.
    Das gipfelt darin, dass sie sich mit Nadeln in die Lippen sticht, damit diese roter werden.
    Ich wundere mich, dass Uotes gute Erziehung nicht greift. Uote müsste doch eigentlich ein positives Vorbild sein.


    Etwas unklar ist mir auch Krimhilds Traum und wie er zu deuten ist.
    Der Falke ist vermutlich Siegfried? und die Adler Hagen und …?


    Dann taucht Siegfried auf. Er und Krimhild sind ähnlich wie Tristan und Isolde in „Das Herz des Königs“ weniger sympathisch als die meisten Interpretationen implizieren.


    Zitat

    Original von Gräfin Derkum
    Das was ich hier jedenfalls sehr berührend finde, ist die Liebe, das Vertrauen und der Respekt, den Sigfried schließlich für seinen Lehrer Mime entwickelt.


    Gräfin Derkum, herzlich Willkommen in der Leserunde.
    Der Unsichtbare ist tatsächlich ein ganz besonderes Kapitel.
    Schade, dass Mime so schnell sterben musste, er hätte Siegfrieds Charakter zum Positiven wandeln können.


    Die langen Schilderungen der Belagerung Worms durch die Sachsen und die Hunnen sind, vermute ich stark, authentisch und glaubwürdig geschildert.
    Ich will aber nicht verschweigen, dass gerade dieser Abschnitt bei mir etwas Durchhaltevermögen abgefordert hat, dass ich aber gerne investiert habe.


    Sehr gut gefällt mir Dankwart, obwohl ich immer noch nicht durchblicke, ob er wirklich Hagens Bruder ist.
    Aber er pflegt ihn wenigstens brüderlich, als Hagen krank wurde und singt ihm sogar vergangene Lieder ihrer gemeinsamen Vergangenheit.
    Ich würde mir wünschen, dass Dankwarts Rolle noch mehr ausgebaut würde.

  • Zitat

    Original von beowulf
    Es wird jetzt mehr inhaltlich breiter, aber was mir schon im ersten Teil so gut gefällt, der aufblitzende Humor bleibt erhalten


    *unterschreib* Langsam aber sicher erfährt man mehr, kann sich mehr zusammenreimen und durch den trockenen Humor zwischendurch wird das Ganze herrlich aufgelockert. Die Szene, wo Gunther entsetzt ist, weil Hagen krank ist und sie daher doch überhaupt nicht kämpfen können, ist einfach grandios.


    Erstaunlich fand ich, wie ätzend der Siegfried doch als Kind und Teenager war, bis Mime ihm seine Grenzen aufgezeigt hat und er sich erfolgreich gewandelt hat. Und sein passendes Gegenstück hat er ja in Ms.Oberflächlichkeit-in-Person, Krimhild, gefunden.


    Zitat

    Original von ParadiseLost
    Er erinnert mich an Gilderoy Lockhart aus Harry Potter und so in der Art stell ich ihn mir auch vor ("Hab ich übrigens schon erzählt, dass ich 5 mal hintereinander den Preis für das goldenste Haar von ganz Xanten gewonnen habe?).


    :rofl :rofl :rofl Gilderoy trifft ihn perfekt! :anbet



    Zitat

    Original von Grisel
    wir haben einen namenlosen "Zwerg", der von schnell zu unsichtbar wird, also Alberichs Gegenstück


    DANKE Grisel, ich habe gestern die ganze Zeit überlegt, wie er hieß, auf Alberich bin ich partout nicht gekommen *andenkopfhau*


    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Die langen Schilderungen der Belagerung Worms durch die Sachsen und die Hunnen sind, vermute ich stark, authentisch und glaubwürdig geschildert.
    Ich will aber nicht verschweigen, dass gerade dieser Abschnitt bei mir etwas Durchhaltevermögen abgefordert hat, dass ich aber gerne investiert habe


    Das war bei mir ganz anders, ich fand diese Belagerungsszene wesentlich spannender und interessanter geschildert als z.B. die Kriegsszenen in „Die Kastellanin“ von Iny Lorentz, wo mir die Kriegsszenen die Lesefreue massiv geraubt haben. Hier war ich aufgrund der sprachlichen Ebene total gebannt und fasziniert.


    Ich bin gespannt, wie sich Dankwart weiter entwickelt und suche verzweifelt mein "Deutsche Heldensagen"-Exemplar, auch um einiges anderes nachzulesen...Hagen und er Brüder? Sie sind sich schon erstaunlich ähnlich und Dankwart kümmert sich rührend um den kranken Hagen - aber irgendein Geheimnis wartet doch da noch auf uns, oder?! Auch die Frage, wohin Hagen immer wieder verschwindet, bleibt im Hinterkopf verankert.


    Es ist und bleibt spannend, dann will ich mal weiterlesen...

  • Ihr seid euch alle so einig, dass Kriemhild die Oberflächlichkeit in Person ist, überseht ihr dabei nicht die Ursache des Verhaltens und den Vulkan unter der Oberfläche- ist das nicht zunächst nur der Panzer, danach das unlogische Verhalten von Liebe, die lange vermisst und nie gegeben wurde? Dass da noch was kommt wussten wir ja schon, bevor wir das Buch aufgeschlagenhaben.

  • Hallo "Eulen


    Also ich schlage mich mit dem Buch allmählich weiter und habe mich so

    langsam an der "Erzählkunst gewöhnt !!!


    Immerhin ist diese "Erzählweise für mich ziemlich neu und gewöhnungsbedürftig .


    Trotzdem auf einer Art sehr poetisch und feinfühlig !!!


    Jedenfalls ist die "Hemmschwelle gegen das Buch überschritten, so das


    ich mittlerweile "Gefallen an der Handlung des Romanes bekomme und


    den Ehrgeiz entwickelt das Buch bis zum Ende zu lesen .

  • Zitat

    Original von beowulf
    Ihr seid euch alle so einig, dass Kriemhild die Oberflächlichkeit in Person ist, überseht ihr dabei nicht die Ursache des Verhaltens und den Vulkan unter der Oberfläche- ist das nicht zunächst nur der Panzer, danach das unlogische Verhalten von Liebe, die lange vermisst und nie gegeben wurde? Dass da noch was kommt wussten wir ja schon, bevor wir das Buch aufgeschlagenhaben.


    Nene, mir ist schon klar, dass die Gute unter ihrer ruhigen Oberfläche eine Menge gefährliches Potential hat (wie Du schon sagst, man kennt ja "das Ende vom Lied") und auf keinen Fall so ein liebes nettes Fräulein ist. Trotzdem stört mich ihr eitles Verhalten. Für wen macht sie das eigentlich? Ihre Mutter rügt sie, die Dienerninnen lachen sie aus und von Männern will sie ja (angeblich) nichts wissen.


    Ich warte mal ab, was ihr im Laufe des Buches noch so alles zustösst. Es ist nicht völlig auszuschliessen, das sie mir vielleicht doch noch imponiert oder leid tut. Aber ich seh das im Moment eher nicht.

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Zitat

    Original von beowulf
    Ihr seid euch alle so einig, dass Kriemhild die Oberflächlichkeit in Person ist, überseht ihr dabei nicht die Ursache des Verhaltens und den Vulkan unter der Oberfläche- ist das nicht zunächst nur der Panzer, danach das unlogische Verhalten von Liebe, die lange vermisst und nie gegeben wurde? Dass da noch was kommt wussten wir ja schon, bevor wir das Buch aufgeschlagenhaben.


    Und daher wissen wir ja auch, was mit Krimhild geschieht :grin nur aktuell, wie sie dargestellt wird, da ist sie sehr oberflächlich, barbiepüppchenlike. Da ich mich gern auch mal eines Besseren belehren lasse, gebe ich ihr auf jeden Fall noch eine Chance, sich sympathischer zu präsentieren. Mal sehen, was noch passieren wird...


  • :write :write

  • Ich habe hin und wieder herausgelesen, dass sich die kuriven Erinnerungen aus dem "Land der Untergegangenen" nicht so leicht erschließen. Macht es das Lesen - und Raten - spannender? Oder behindert es, der Handlung flüssig zu folgen?
    Ich liebe solche Einschübe, habe bis jetzt kein Buch ohne geschrieben und würde mich gerne belehren lassen.


    Vielen Dank,


    Viola

  • Also mir persönlich gefällt es wenn diese Passagen zu anfangs etwas rätselhaft sind und sich erst rückblickend nach und nach erschließen (so z.B. bei Magister Conradus auf dem Boot).


    Ich bin jetzt auf S. 284 und bin mal gespannt warum Hagen, Gunther und Co. jetzt überhaupt unterwegs sind. Kommt mir von dem was ich von der Sage her kenne gar nicht bekannt vor. :gruebel

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Zitat

    Original von Viola Alvarez
    Ich habe hin und wieder herausgelesen, dass sich die kuriven Erinnerungen aus dem "Land der Untergegangenen" nicht so leicht erschließen. Macht es das Lesen - und Raten - spannender? Oder behindert es, der Handlung flüssig zu folgen?


    Also ich finde es macht das Gesamte noch spannender, da zwei verschiedene Erzählstränge abwechselnd ja wie eine kurze Zäsur des vorherigen wirken, aber selbst so interessant sind, dass man sich sofort darin verliert und natürlich grübelt man (zumindest unbewusst) immer über den direkten Zusammenhang, der sich idealerweise - wie hier :-) - Stück für Stück erschließt.

  • Zitat

    Original von Viola Alvarez
    Ich habe hin und wieder herausgelesen, dass sich die kuriven Erinnerungen aus dem "Land der Untergegangenen" nicht so leicht erschließen. Macht es das Lesen - und Raten - spannender? Oder behindert es, der Handlung flüssig zu folgen?


    Also ich fühle mich manchmal schon gestört in meinem Leseerlebnis, weil ich dann wissen möchte, wie der andere Handlungsstrang weiterläuft und das dann durch den kursiven Einschub behindert wird. Allerdings finde ich mich dann im kursiven Teil auch recht schnell wieder ein und fühle mich wieder gestört, wenn der "normale" Teil weitergeht. :grin
    Spannungssteigernd ist das aber allemal!
    Ich empfinde diese parallele Erzählweise aber durchaus als bereichernd. Ich ärgere mich zwar gelegentlich darüber, aber das ist im Endeffekt nicht schlimm. :-)
    Zumal Du das auch clever gelöst hast, normalerweise wäre ich versucht, die kursiven Stellen zu überspringen und so weiterzulesen, aber so ganz unabhängig sind die Teile ja dann auch wieder nicht. Sie sind miteinander verwoben. Ich freue mich schon auf den Augenblick, wenn der normale Teil im kursiven "ankommt". Also der normale Teil seine zeitliche Verzögerung aufholt.

  • Gibich stirbt und keiner scheint so richtig traurig zu sein, nicht mal die Kinder. Aber wenn wunderts. Tja und der Priester will nur seinen eigenen Vorteil.
    Gibich hinterlässt ja ziemlich viele Kinder. :grin Gab es damlas in in irgend einer Form schon sowas wie Unterhaltszahlung? Bestimmt nicht. :chen


    Bei Krimhild, da bin ich sehr gespannt wie es weitergeht.

  • Zitat

    Original von Cassandra79


    Gibich hinterlässt ja ziemlich viele Kinder. :grin Gab es damlas in in irgend einer Form schon sowas wie Unterhaltszahlung? Bestimmt nicht. :chen


    Ja, über die Kinderzahl bin ich auch gestolpert. :grin
    Die Frage nach dem Unterhalt finde ich auch interessant.
    Irgendwo steht ja, dass Hagen die unehelichen Kinder bzw. deren Mütter mit jeweils einem Sack Gold in die Verbannung schickt. Ob das mit dem Gold eine freiwillige Geste oder üblich war, vermag ich nicht zu sagen. Ansonsten sind sie wahrscheinlich dann am Hofe mit durchgefüttert worden, wenn ihre Mütter dort tätig waren. :gruebel

  • Da habe ich hier ein spannendes Buch liegen und finde in den letzten beiden Tagen einfach nicht die Zeit, weiterzulesen. :-( Heute werde ich sie mir aber mal nehmen.


    Den Abschnitt hatte ich auch schon beendet und jetzt wollte ich auch noch mal eben etwas zu Siegfried sagen.


    Den Vergleich mit Gilderoy Lockhardt find ich gut! Das passt wirklich. :grin
    Dass Siegfried so selbstüberzeugt und eingebildet herüberkommt, liegt sicherlich an seiner Erziehung. Er wurde als Kind verzogen, hat meist alles bekommen, was er wollte.


    Den Vergleich auf S. 208 - "wie ein Tropfen Regen gegen das Meer" - mag ich total gerne... gut ich würd's persönlich nicht auf einen Wandbehang beziehen... :grin


    Die kursiven Elemente stören mich nicht wirklich, obwohl es für mich etwas schwierig ist, die beiden Handlungsstränge einzuordnen, besonders am Anfang war etwas verwirrend. Aber das wird sich wohl nach und nach erschließen.
    Das Einzige: mir geht es ähnlich wie Friderike. Ich habe mich richtig in die Handlung hineingelesen, dann wird sie unterbrochen, um eine Andere zu erzählen.
    Aber ich finde das nicht so tragisch.

    Alles Liebe!

    Bücher sind fliegende Teppiche ins Reich der Fantasie
    (James Daniel)

    Ich lese gerade: Charlotte Thomas - Die Madonna von Murano