Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul

  • Asya Kazanci ist 19 Jahre alt und lebt mit ihren Tanten im Herzen Istanbuls. Ihr Onkel ist vor 20 Jahren nach Arizona in den USA gezogen und hat dort Rose geheiratet, die aus erster Ehe eine Tochter mit dem schönen Namen Armanoush Tchakmakhchian mitbrachte. Der Grund: Ihr Ex-Mann war ein armenischer Einwanderer, dessen Familie nach dem armenischen Völkermord Anfang des 20. Jahrhunderts nach San Fransisco ausgewandert war.


    Amy, wie sie von ihrer amerikanischen Mutter kurz genannt wird, möchte die Wurzeln ihrer armenischen Familie erkunden und lädt sich flugs bei der Familie ihres Stiefvaters in Istanbul ein. Als sie dort auf Asya trifft, verstehen sich die beiden jungen Frauen trotz der verschiedenen kulturellen Hintergründe auf Anhieb. In vielen Gesprächen und Unternehmungen stellen sie nicht nur fest, dass die osmanische Vergangenheit auch auf ihren Schultern schwer lastet, sondern sie entdecken auch viele Gemeinsamkeiten und gewinnen durch ihren unbeschwerten Dialog neue, unerwartete Erkenntnisse über ihr Land und ihre Wurzeln.


    Elif Shafaks neues Buch ist ein spannend geschriebener Roman und gleichzeitig ein aktuelles Zeitdokument. Denn die Diskussion um den Genozid der Armenier in der Türkei während des Ersten Weltkriegs ist brisant wie nie zuvor – erst vor wenigen Wochen erschütterten der Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink und die überstürzte Ausreise des liberalen türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk die Weltöffentlichkeit.


    Der Autorin, selbst wegen „Verunglimpfung der türkischen Republik“ angeklagt, geht es in ihrem Roman aber nicht um blinde Schuldzuweisungen, sondern um eine Aufarbeitung der türkischen Geschichte. Und es geht ihr um das private Schicksal zweier Familien und ihrer Frauen, die sich den aufrechten Gang durchs Leben von der Geschichte und den verbrämten Nationalisten nicht verbieten lassen wollen.


    Ein sehr empfehlenswerter Blick auf unseren europäischen Nachbarn - und in der Türkei mit über 60.000 verkauften Exemplaren schon jetzt ein Bestseller. Ein Zeichen, das Hoffnung macht.



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  • Ich hatte mir dieses Buch in Istanbul gekauft, weil mein mitgenommenes, das im englischen Winter spielt, nicht recht zu den Außentemperaturen passen wollte. Ohne die Autorin zu kennen, habe ich einen richtigen Glücksgriff getan.
    Es gibt zwei Handlungsstränge, die vielfältig und nicht nur oberflächlich miteinander verwoben sind. Da ist einmal Armanoush, Kind eines armenischen Vaters und einer amerikanischen Mutter, die im Amerika der Gegenwart ihre Identität im Zweispalt dieser beiden Kulturen sucht. Auf der anderen Seite Asya, die in der patriarchalischen Gesellschaft der Türkei in einer absolut ungewöhnlichen Familie aufwächst: sie besteht nur aus Frauen, weil alle männlichen Nachkommen jung sterben. Sie ist die uneheliche Tochter der unkonventionellen Zeliha, die mit ihren ebenso ungewöhnlichen aber angepassteren drei Schwestern, Mutter und Großmutter in Istanbul lebt. Der einzige lebende männliche Nachkomme ist der Bruder der vier Schwestern, der in Amerika lebt und mit Armanoush' Mutter verheiratet ist. Um ihre armenische Herkunft besser zu verstehen, reist Armanoush heimlich zur Familie ihres Stiefvaters nach Istanbul. Er selbst ist seit zwanzig Jahren nicht mehr nach Hause gereist. Dort konfrontiert sie die Familie mit ihrer Version des Völkermordes der Türken an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916. Ihre Großmutter verlor damals erst den Vater und das Heim, später auch den Kontakt zu ihren Geschwistern und landete in einem Istanbuler Waisenhaus. Asya, die zunächst dem Gast aus Amerika ablehnend gegenüber steht, schließt schließlich Freundschaft mit dem Mädchen, das ihr näher ist als alle ahnen.
    Die einzelnen Kapitel sind jeweils mit Zutaten eines türkischen Desserts, Asure, überschrieben. Diese Speise spielt am Ende eine entscheidende Rolle, genauso, wie sie auch im türkischen Alltag eine große Rolle spielt. Traditionell wird sie in großen Mengen zubereitet und dann auch an die Nachbarn verteilt.
    Elif Shafak erzählt sehr farbenfroh, lies das Istanbul der Gegenwart, aber auch das Grauen der Deportationszüge der Vergangenheit eindringlich vor meinem inneren Auge entstehen. Die Personen sind sehr gut charakterisiert, sind sehr lebendig und lebensnah. Die Autorin musste sich wegen "Herabsetzung der Türkei" durch dieses Buch vor Gericht verantworten, wurde jedoch frei gesprochen. Dass die türkischen Namen der Speisen nicht übersetzt sind, auch nicht in einem Glossar, hat mich nicht gestört. Eine direkte Übersetzung im Text hätte ich eher als Unterbrechung empfunden.
    Wer mehr über das Istanbul der Gegenwart, aber auch über die armenisch-türkische Vergangenheit erfahren möchte, liegt mit diesem Buch genau richtig. Ich habe eine englische Ausgabe gelesen.

    :lesendCharlotte Roth - Grandhotel Odessa


    If you don't make mistakes, you're not trying hard enough. (Jasper Fforde)

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  • Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde mit den Querbeeteulen gelesen. Und ich bin sehr froh, dass ich dadurch auf diesen tollen Roman und diese Autorin aufmerksam gemacht worden bin.
    Es war mein erstes Buch von der türkischen Autorin, aber es wird bestimmt nicht mein letztes gewesen sein, weil mir die Lektüre sehr gut gefallen und mich stark bewegt hat.


    Es ist ein Buch über die Geschichte von zwei verschiedenen Familien und über die Suche nach seiner Identität und den eigenen Wurzeln. Und es ist auch ein Roman über den Genozid an den Armeniern im Jahr 1915.
    Besonders gut gefallen hat mir Darstellung der einzelnen Personen. Alle vorkommenden Figuren wirken sehr authentisch und jede hat seine Eigenheiten und ist ein wenig skurril. Genau wie im echten Leben hat jeder seinen eigenen Charakter und selbst die Nebenfiguren sind wunderbar gezeichnet.
    Die Autorin hat es geschafft mit viel Humor eine doch zum Teil ernste und erschreckende Geschichte zu erzählen. Dabei wirkt alles sehr lebendig und farbenfroh. Ich war selber noch nie in Istanbul, konnte mir aber während des Lesens alles wunderbar vor meinem inneren Auge vorstellen und habe mich verzaubern lassen von seinen Bewohnern und der orientalischen Küche .


    Je länger ich gelesen habe um so fesselnder und spannender fand ich das Buch.
    Deswegen gebe ich auch sehr gerne eine absolute Leseempfehlung und 10 Eulenpunkte.

  • Der Bastard von Istanbul
    Elif Shafak
    Gebundene Ausgabe: 458 Seiten
    Kein & Aber (21. November 2008)
    978-3821857992


    Die Autorin (Verlagsangabe)



    Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Sie studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara, erhielt einen "Master of Sciences in Gender and Women's Studies" und promovierte an derselben Universität. Die preisgekrönte Autorin von zwölf Büchern, darunter darunter Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013) und Ehre (2014), schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Ihre Bücher sind in über 30 Ländern erschienen. Elif Shafak lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London und Istanbul.



    Inhalt und meine Meinung


    Armanoush ist Amerikanerin. Ihre Mutter war mit einem Armenier verheiratet und hat sich von ihm getrennt, weil sie das Leben in der armenischen Großfamilie nicht ertragen konnte.
    Asya lebt in Istanbul. Ebenfalls in einer Großfamilie, die allerdings nur aus Frauen besteht. Aus mehreren Tanten, Großmutter und Urgroßmutter. Das Zusammenleben der äußerst unterschiedlichen Frauen ist schon im Alltag nicht ganz einfach und Asya hat ihre eigenen Wege gefunden, ihnen zu entkommen.
    Armanoush wünscht sich, die Vergangenheit ihrer Familie besser zu verstehen und besucht deshalb heimlich die Verwandten ihres vor Jahrzehnten nach Amerika ausgewanderten Stiefvaters.
    Asyas Familie.
    Die beiden Mädchen verstehen sich gut, nachdem jede festgestellt hat, dass die andere so gar nicht den eigenen Vorurteilen entspricht und werden Freundinnen.
    Als Armanoushs Tarngeschichte auffliegt und Mutter und Stiefvater eilig nach Istanbul reisen, gerät das mühsam aufrechterhaltene Gleichgewicht in Asyas Familie ins Wanken.


    Mich fasziniert an diesem Buch, dass es so viele Geschichten gleichzeitig erzählt. Es ist die Geschichte zweier junger Frauen, die erwachsen werden. Damit verwoben sind die Geschichten ihrer jeweiligen Familien. Da Armanoushs Familie armenische Wurzeln hat, ist damit auch der Völkermord an den Armeniern zu Beginn des 20.Jahrhunderts Thema.
    Diese äußerst unterschiedlichen Welten werden farbenprächtig und lebendig gezeichnet. Dann sind da noch die Familienmitglieder und die Beziehungen unter ihnen. Manchmal konnte ich mir kaum vorstellen, wie ein Zusammenleben von weltoffenen, westlichen orientierten Frauen mit recht konservativ muslimischen funktionieren kann.
    Mehr möchte ich vom Inhalt gar nicht verraten. Mir hat dieses Buch jedenfalls großen Spaß gemacht und ich kann es allen empfehlen, die Spaß an verwickelten Familiengeschichten mit ungewöhnlichen Protagonisten haben.


    8 von 10 Punkten

  • Auch ich habe dieses Buch in der Leserunde der Querbeeteulen gelesen.


    Über den Inhalt wurde ja schon einiges geschrieben deshalb hier nur noch mein persönlicher Eindruck.


    Ich habe bei diesem Buch hier festgestellt, dass ich eigentlich gar nichts über die Geschichte der Türkei weiß, obwohl ich schon oft dort Urlaub gemacht habe, und ich habe nicht nur die Hochburgen der Touristen besucht.


    Durch dieses fesselnde Buch habe ich Sachen über die Türkei erfahren, die mich doch glatt zum recherchieren animiert haben. Die Geschichte wurde durch die Schreibweise der Autorin nicht nur ein "Geschichtsbuch", sondern es war auch sehr spannend. Es war nicht mein erstes Buch von Elif Shafak und bestimmt nicht mein letztes.


    Von mir gibt es hier die vollen 10 Punkte.


    Viele Grüße :wave

  • Von der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak habe ich erst jetzt den Roman „Der Bastard von Istanbul“

    Die Autorin schreibt gekonnt über eine schräge Familie in Istanbul. Die Charaktere der Personen sind toll beschrieben. Es ist eine Familie, die fast nur aus Frauen besteht, die Männer sterben jung.

    Es werden viele verschiedene und aktuelle Themen angesprochen. Auch der Völkermord an den Armeniern kommt zu Wort.

    Der Roman hat zwei Zeiten einmal in der heutigen Zeit und dann in der Vergangenheit, im Jahre 1915.

    Man erfährt von den Ansichten der Türken, die ich so noch nicht richtig wusste.

    Witzigerweise sind die Kapitel mit Süßspeisen betitelt.

    Elif Shafak ist eine wirklich brillante Schriftstellerin, da werde ich mir schnellsten einen neuen Roman zulegen.