Atemschaukel - Herta Müller

  • Zitat

    Original von Vulkan
    Das hatte ich so verstanden, ich wollte trotzdem mein Interesse an Deiner Meinung bekunden, sobald Du einen der beiden gelesen hast - in näherer oder fernerer Zukunft - gerade weil es so ein völlig anderer Ansatz ist. :-)


    Solschenizyn steht auf jeden Fall schon länger auf meiner Wunschliste, ich werde ihn sicherlich bald lesen und kann dann vielleicht auch besser beide Ansätze miteinander vergleichen. :-)

  • Ich bin jetzt ca. bei der Hälfte des Romans und bin beeindruckt. Auch sprachlich gefällt es mir - und die Begriffe wie "Hungerengel" oder "Eisnägel" verdeutlichen nur.


    Vergleiche kann ich nicht ziehen, da ich weder von Schalamow noch von Solschenizyn was gelesen (nur von gehört) habe.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Zitat

    Original von Conor
    Vergleiche kann ich nicht ziehen, da ich weder von Schalamow noch von Solschenizyn was gelesen (nur von gehört) habe.


    Etwas anders gelagert, aber zumindest zum Vergleichen nicht so abgelegen, ist Imre Kertesz' "Roman eines Schicksallosen". Da waren auch einige sprachliche Dinge, die mich irgendwann irritiert haben, die dann aber auch aufhörten im Verlauf des Buches. Sprache und Inhalt sind bei Kertesz für mich folgerichtiger oder zumindest verständlicher. Nur als Anregung. :-)


    Ich habe jetzt mitbekommen, dass man "Herztier" und "Der Fuchs war damals schon der Jäger" von Müller lesen sollte, wenn man von der "Atemschaukel" irritiert ist. Mal sehen, wann ich soweit bin...

  • Vulkan :
    Imre Kertesz' Buch "Roman eines Schicksallosen" leihe ich mir dann mal aus -die hiesige Bücherei hat es.
    Danke, dass du mich dran erinnert hast. :-)

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  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Kertesz Roman eines Schicksalslosen muss ich unbedingt noch einmal lesen!


    Ich habe das Buch vor mehreren Jahren gelesen und es hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ging mir damals sehr unter die Haut.


    "Die Atemschaukel" habe ich mir jetzt doch bestellt. Muss mir da ein eigenes Bild machen.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Zitat

    Original von Cookiemonster
    Da würd sich ja fast ein Lesezirkel anbieten - :lache


    Den besagten Kertesz habe ich auch noch im SuB liegen :-)

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Gegen eine Leserunde mit dem Roman von Kertesz hätte ich auch nichts. ;-)
    Es wäre jedenfalls sehr interessant, auch andere Bücher über dieses Thema zu lesen.


    Ich habe gerade "Atemschaukel" fertiggelesen und bin beeindruckt.
    Da kann ich mich den obigen Meinungen mal einfach anschließen.
    Auch wie sich Leo fühlt, nachdem er aus dem Lager zurückgekehrt ist, kommt gut rüber.


    :wave

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  • Ich habe gerade zufällig entdeckt, dass im November eine günstige gebundene Ausgabe des "Roman eines Schicksallosen" erscheint.


    Ach, schon erschienen ist. Steht zwar 2. November, ist aber bei Amazon schon lieferbar :-).

    Liebe Grüße, Sigrid

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  • Hab heute gesehen, dass Herta Müller am 30.11. bei uns in der Uni ist und aus "Atemschaukel" liest. Ich denk, da geh ich hin und wenn mir das Buch dann gefällt, kauf ich es mir... bis dahin warte ich noch ab.



    Hier die Quelle, falls jemand interessiert ist.

  • Eine beeindruckende Frau schreibt ein beeindruckendes Buch über ein bedrückendes Thema. Und nach drei Anläufen kann ich sagen, ich habe es gelesen und es war eine beeindruckende Erfahrung. Extreme Schwierigkeiten hatte ich, wollte das Buch gar nach drei Seiten zurückgeben; ein zweiter Versuch brachte mich auch nicht sonderlich weiter, erst das gemeinsame Lesen im Lesekreis und der Austausch mit einigen anderen zwar Willigen, aber zunehmend Eingeschüchterten, dazu einigen wenigen Begeisterten und einer Literaturkennerin haben mich das Buch beenden lassen.


    Und was soll ich nun sagen? Die Sprachkunst, die Sprachbeherrschung, die Sprach(er)findung hat mich sehr beeindruckt (ich bin immer wieder froh, dass es dieses Wort in unserer Sprache gibt), ja stellenweise habe ich ihre Formulierungen als überwältigend empfunden. Nur: Eben diese Sprache hat mich nicht zu ihrem Thema geführt, sondern eher davon abgehalten. Dieser Riesenberg aus Worten, ihrer Sprache, ihrem Stil hat mir den Blick für alles andere verstellt, fühlte ich mich wie außen vor, wo es mich doch eigentlich hätte schütteln müssen.


    „Ich schreibe an Pastior entlang“ hat Herta Müller in einem sehr bemerkenswerten Gespräch anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2009 gesagt. Und ich stehe nun vor dem Dilemma, mir überlegen zu müssen, ob dieses Entlangschreiben in meinen Fall nicht ein Entlanglesen am eigentlichen Inhalt nach sich zieht. Auch wenn ich mir einzureden versuche, ihre Sprache sei vielleicht ihre Art, mit diesem Trauma fertig zu werden, nutzt mir das nicht viel. Vielleicht, weil mir eine auch nur annähernd vergleichbare Erfahrung fehlt? Weil ich in ihrer (Sprach-)Welt nicht zu Hause bin, sondern sie mir erst zu erobern versuche? Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Einfach (als gelesen) abhaken und ins Regal stellen, das geht bei diesem Buch nicht.

  • Ende des zweiten Weltkrieges wurden in Rumänien lebende Deutsche für den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Sowjetunion zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert.
    Mit großer Eindringlichkeit erzählt Herta Müller von diesen Schicksalen anhand des damals 17-jährigen Leopold Auberg aus Siebenbürgen.
    In kraftvoller poetischer Sprache beschreibt der Ich-Erzähler Leo den Hunger, die Armut, die Kälte, die Schwerstarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen während der fünf Jahre seines Lagerlebens.
    Obwohl eine gewisse Gemeinschaft unter den Insassen entsteht, treibt die herrschende Not zum Egoismus und bisweilen zur Niedertracht. Ein Toter kann Gewinn bedeuten, wenn man ein Kleidungsstück, ein paar Brotreste von ihm ergattert. Es herrschen Angst und Kampf ums Überleben. Heimweh ist „Luxus“: „Ich habe meinem Heimweh trockene Augen beigebracht, [….] mein Heimweh sogar herrenlos gemacht.“
    Besonders plastisch wird der zähe, immer-währende, monotone Hunger Leos deutlich. Die Worte, die Herta Müller für den bedrohliche Hunger findet, treffen empfindlich:“Jedes Hungerwort ist ein Esswort, man hat das Bild des Essens vor Augen und den Geschmack am Gaumen. Hungerwörter oder Esswörter füllen die Phantasie. Sie essen sich selbst, und es schmeckt ihnen.“
    Nach fünf Jahren kehrt Leo als ein Andere aus dem Lager zurück. Auch 60 Jahre nach seiner Lagerhaft spürt Leo ein Recht auf Elend, fühlt sich unfrei, ja hat Heimweh nach dem Lager. Leo musste von zu Hause weg und kam nie wieder an.


    Herta Müller schildert Leos Schicksal mit einer überwältigenden poetischen Wucht, reich an eindringlichen Bildern und Metaphern. Neben „Hungerengel“, „Herzschaufel“, „Hautundknochenzeit“ finden sich weitere Worte, die für sich sprechen: arbeitsmüd, hungerblind, kniesteif, totkalt, traurigmüde, vom Brot tauschkrank.
    Für mich schiebt sich die Wortgewandtheit der Autorin an einigen Stellen „vor“ die dramatischen Geschehnisse dieses Romans.


    Herta Müller arbeitete mit Oskar Pastior, der ehemals deportiert war, zusammen an dem Material für dieses Buch. Leider verstarb Pastior 2006 plötzlich, so dass Herta Müller es allein vollenden musste.


    Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen der sowjetischen Verbrechen an den Rumäniendeutschen.


    8/10 Punkten

    Liebe Grüße, Sigrid

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  • Tja, mich konnte das Buch leider nicht begeistern.
    Ich bin jetzt auf Seite 100 (von 300) und breche den Roman an dieser Stelle entnervt ab.


    Ich hatte mich auf das Buch gefreut. Bücher, die Lagerhaft, Gefangenschaft, Krieg oder auch die Schoah thematisieren, habe ich schon einige gelesen, die Autoren dieser Bücher haben viel zu sagen, auch mir noch und in heutiger Zeit, solche Bücher haben Tiefe und sie sprechen unmittelbar letzte Wahrheiten aus. Mir hatte auch die Leseprobe vom Anfang der "Atemschaukel" gefallen.


    Herta Müller benutzt eine sehr eigene Sprache, und wie gesagt, zu Beginn fand ich ihren Stil noch ansprechend und lesenswert. Mal was anderes, dachte ich. Auch einige Wortschöpfungen der Autorin gefielen mir, z. B. das Wort Eisnagel für den einsetzenden Schneeregen bei Winterbeginn. Nun machen einige gute Formulierungen aber noch keinen guten Roman!
    Je länger ich an dem Buch gelesen habe, desto mehr nervte mich die Sprache. Ich empfand den Stil bald nur noch als überdreht, gedrechselt und maniriert.


    Zitat von Seite 87:
    "Ich bin kurz vor dem Zusammenbruch, im süßen Gaumen schwillt mir das Zäpfchen. Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist eine Waage. Er setzt meine Augen auf und die Herzschaufel wird schwindlig, die Kohle verschwimmt. Der Hungerengel stellt seine Wangen auf mein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. Ich hebe den Blick, da oben stille Sommerwatte, die Stickerei der Wolken. Mein Hirn zuckt mit einer Nadelspitze am Himmel fixiert, besitzt nur noch diesen einen festen Punkt. Und der fantasiert vom Essen. Schon sehe ich die weißgedeckten Tische in der Luft, und der Schotter knirscht mir unter den Füßen. Und die Sonne scheint mir hell mitten durch die Zirbeldrüse."


    Meiner Meinung nach ist eine derartige Sprachverkünstelung unangemessen für ein solch schweres Thema. (Mich würde wirklich mal interessieren, was Menschen, die solche Erfahrungen machen mussten, zu derartigen Formulierungskünsten sagen würden …)


    Mich konnte das Buch nicht packen, ich konnte mit der Hauptperson nicht mitfühlen. Zum einen lag dies an der Sprache, die für mich weit weg war, und an den kurzen, eher unvermittelt nebeneinder stehenden Kapiteln.


    Mich hat es übrigens nicht gestört, dass Hera Müller "nur aus zweiter Hand" geschrieben hat, dass sie also das Erzählte nicht selbst erlebt hat. Ich kann diesen Vorwurf nicht einmal richtig ernst nehmen, denn die Arbeit eines Schriftstellers besteht ja nun gerade darin, sich in Menschen und Situationen hineinzuversetzen. Spätestens, wenn kein Überlebender mehr berichten kann, braucht es Autoren, die aus "zweiter Hand" weiter erzählen – damit nicht vergessen wird.


    Vom mir leider nur 4 Punkte.

  • Ich habe gestern dieses Buch zu Ende gelesen und habe zwiespaltige Gefühle demgegenüber. Einerseits hat mich die metapherreiche Sprache sehr beeindruckt und begeistert, ich konnte das Buch einfach nicht ablegen und musste immer weiter lesen. Andererseits war ich so sehr auf die Sprache konzentriert, dass die Haupthandlung, das Schrecken und die Tragödie des Straflagers für mich nebensaechlich blieb. Ich frage mich, ob es von der Schriftstellerin so beabsichtigt wurde. Es war mich für jedenfalls eine neue Erfahrung, über ein so dramatisches und schreckliches Geschehnis zu lesen und dabei unberührt zu bleiben. Die Seiten, die von der Angst des Homosexuellen Ich-Erzaehlers in Bucharest handeln, haben mich mehr berührt, als die vom Straflager. Ob sich die Schriftstellerin in die erste Situation besser hineinsetzen konnte? So oder so erachte ich das Buch als absolut lesenswert, aber einen Nobel-Literaturpreis haette es von mir nicht bekommen. :D