So 'n Gedicht ...

  • Nein, das kannte ich noch nicht. Danke für den Tipp.:)


    Angeregt dadurch habe ich mich auf die Suche nach Veröffentlichungen von Lutz Görner gemacht.

    >>Im Fernsehen war Görner von 1993 bis 2010 durch die 200-teilige Serie „Lyrik für alle“ vertreten, eine kleine gesprochene Literaturgeschichte der Lyrik vom Barock bis heute, die jeden Sonntagmorgen bei 3sat gesendet wurde.<< (Wikipedia)


    Schade, dass es diese Sendung nicht mehr gibt und auch nicht als DVD zu kaufen ist :(

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Osterspaziergang


    Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

    durch des Frühlings holden, belebenden Blick.

    Im Tale grünet Hoffnungsglück.

    Der alte Winter in seiner Schwäche

    zog sich in rauhe Berge zurück.

    Von dorther sendet er, fliehend, nur

    ohnmächtige Schauer körnigen Eises

    in Streifen über die grünende Flur.

    Aber die Sonne duldet kein Weisses.

    Überall regt sich Bildung und Streben,

    alles will sie mit Farbe beleben.

    Doch an Blumen fehlts im Revier.

    Sie nimmt geputzte Menschen dafür.


    Kehre dich um, von diesen Höhen

    nach der Stadt zurückzusehen!

    Aus dem hohlen, finstern Tor

    dringt ein buntes Gewimmel hervor.

    Jeder sonnt sich heute so gern.

    Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

    denn sie sind selber auferstanden.

    Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

    aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

    aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

    aus der Strassen quetschender Enge,

    aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

    sind sie alle ans Licht gebracht.


    Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge

    durch die Gärten und Felder zerschlägt,

    wie der Fluss in Breit und Länge

    so manchen lustigen Nachen bewegt,

    und, bis zum Sinken überladen,

    entfernt sich dieser letzte Kahn.

    Selbst von des Berges ferner Pfaden

    blinken uns farbige Kleider an.

    Ich höre schon des Dorfs Getümmel.

    Hier ist des Volkes wahrer Himmel.

    Zufrieden jauchzet gross und klein:

    Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!


    - Johann Wolfgang von Goethe 1749-1832 -

    aus: Faust 1

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Ja, dieser Osterspaziergang gehört einfach mit zu meinen Frühlingsgefühlen. :strahl

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • ∼ Er ist's ∼


    Frühling läßt sein blaues Band

    Wieder flattern durch die Lüfte;

    Süße, wohlbekannte Düfte

    Streifen ahnungsvoll das Land.

    Veilchen träumen schon,

    Wollen balde kommen.

    – Horch, von fern ein leiser Harfenton!

    Frühling, ja du bist's!

    Dich hab ich vernommen!


    Eduard Mörike (1804 – 1875)

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Das passt zwar jahreszeitlich überhaupt nicht, aber es kam mir so in den Sinn:

    Septembermorgen

    Im Nebel ruhet noch die Welt,
    noch träumen Wald und Wiesen;
    bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
    den blauen Himmel unverstellt,
    herbstkräftig die gedämpfte Welt
    in warmem Golde fließen.


    Eduard Mörike

    (1804 - 1875), deutscher Erzähler, Lyriker und Dichter

  • Ich liebe ja Hesses Gedichte sehr....


    "Im Nebel" ist eines meiner Lieblingsgedichte, gelesen vom Meister persönlich ist es natürlich ein besonderer Genuß.


    H.Hesse liest: Im Nebel

    Eines meiner Lieblingsgedichte von ihm ist: Blume, Baum, Vogel

    Gibt man die Anfangszeile (Bist allein im Leeren,) in die Suche ein, wird man auch im Netz fündig.




    Da ich die Tage schon einen sah, passt er, der


    Zitronenfalter im April


    Grausame Frühlingssonne,

    Du weckst mich vor der Zeit,

    Dem nur in Maienwonne

    Die zarte Kost gedeiht!

    Ist nicht ein liebes Mädchen hier,

    Das auf der Rosenlippe mir

    Ein Tröpfchen Honig beut,

    So muß ich jämmerlich vergehn

    Und wird der Mai mich nimmer sehn

    In meinem gelben Kleid.


    Eduard Mörike

  • Möricke ist ja Hochromantik. Und die ist manchmal nicht so einfach zu begreifen. Wenn man aber weiß, wie bitterarm er war und auch die meisten seiner Kollegen, schleicht sich der Gedanke ein, dass sich die Menschen in die schöne heile Welt der Natur flüchten mussten, um ihr eigenes trauriges Leben zu ertragen. Für manche blieb anscheinend nur die Flucht in den Tod. Hesse war ja auch so ein Weltflüchter. Ich liebe ihn wegen seiner wunderbaren Sprache und Einsicht und seiner Gabe, mich in seinen Bann zu ziehen. Allerdings ist sein unerschütterliches und kompromissloses Streben nach dem Vollkommenen in allen Bereichen schon oft nicht mehr nachvollziehbar und weltfremd. Trotzdem: "Einsam im Nebel zu wandern, ...."

    Ich werde mir diese Hesse-CDs kaufen. Als Meditation.

  • Weil unter der Rezension zu Erich Mühsams Tagebüchern die Sprache auf seine Gedichte kam. Vielleicht schaut @Rumpelstilzchen ja hier mal vorbei.

    Frühlingserwachen

    Wieder hat sich die Natur verjüngt,

    wieder sich mit frischem Stoff gedüngt,

    und dem Moder wie den jungen Keimen

    hat die Kunst zu malen und zu reimen.


    Die Gebeine harren der Bestattung,

    währenddem die Früchte der Begattung

    fröhlich ins Bereich des Lebens ziehn –

    insoferne sie soweit gediehn.


    Viech- und Menschern heben sich die Büsen;

    in den Bäumen quillt's und den Gemüsen.

    Tief im Kern der Erde hat's gekracht:

    Ja, der Früh-, der Frühling ist erwacht.



    Erich Mühsam

    (1878 in Berlin geboren, am 10. Juli im KZ Oranienburg ermordet)

    Projekt Gutenberg

  • Ich seh' schon, ein Erich Mühsam löst keine Begeisterung aus. Sonderlich romantisch war er nicht, das ist wahr, aber das da oben ist vielleicht auch nicht sein bestes Gedicht. Es war der krachende Frühling!


    Die Tage war ich mal wieder in der großen Stadt und danach völlig erledigt. Ich weiß dann oft gar nicht wovon eigentlich, im Wald kann ich ganz andere Strecken mit Behagen bewältigen.

    Da fiel mir wieder der Seelensteig im Nationalpark Bayerischer Wald ein.

    Wunderschön!

    Ihr könnt das googeln, auch die Texte.

    Einer davon ist aus Erich Kästners: Die Wälder schweigen


    Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.

    Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden

    und tauscht bei ihnen seine Seele um.

    Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.

    Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.


  • Zum Thema "Fortbewegung" fällt mir ein ganz besonders elegantes Tier ein. :chen


    Christian Morgenstern - Das Nasobēm


    Auf seinen Nasen schreitet

    einher das Nasobēm,

    von seinem Kind begleitet.

    Es steht noch nicht im Brehm.


    Es steht noch nicht im Meyer

    Und auch im Brockhaus nicht.

    Es trat aus meiner Leyer

    zum ersten Mal ans Licht.


    Auf seinen Nasen schreitet

    (wie schon gesagt) seitdem,

    von seinem Kind begleitet,

    einher das Nasobēm.

  • Hallo @leselampe, erst mal sorry für die späte Antwort.

    Du hast schon recht, diese Zeilen sind komisch, glaube aber nicht, dass da was fehlt.

    Die Büsen sind ja auch so eine Merkwürdigkeit, er hätte auch aus Gemüsen Gemusen machen können. :grin Hauptsache es reimt sich.

    Aber wie geschrieben, sicher nicht sein bestes Gedicht, das Thema passte halt.

    Und hier passt das Thema gut zu einem Buchforum:


    Kleiner Roman


    Sie lernte Stenographin.

    Er war Engros-Kommis.

    Im Speisewagen traf ihn

    ein Blick. Er liebte sie.


    Auf einer Haltestelle

    brach man die Reise ab,

    woselbst er im Hotelle

    sie als sein Weib ausgab.


    Nicht viel, das man sich fragte.

    Doch küßten sie genug.

    Und als der Morgen tagte,

    ging schon der nächste Zug.


    Nach einer kurzen Stunde

    fand ihre Fahrt den Schluß.

    Er nahm von ihrem Munde

    noch einen heißen Kuß.


    Er sah sie schnupftuchwinkend

    noch stehn zum letztenmal,

    und in sein Auge blinkend

    sich eine Träne stahl.


    Er soll sie heut noch lieben.

    Sie war so drall und jung.

    Ihr ist ein Kind geblieben

    und die Erinnerung.


    Erich Mühsam

  • Weil es gerade so gut zur aktuellen Leserunde von "Narziß und Goldmund" im 14. Kapitel passt:


    Der Lebende unter den Toten


    Gott sei´s geklagt! Der schwarze Tod

    Ist wiederum im Land

    mäht um, was ihm im Wege steht

    mit seiner Knochenhand.


    Ein kecker Musikant allein

    Lacht und ist kreuzfidel,

    spielt Dudelsack und grölt dazu

    sein Lied aus rauer Kehl´.


    Einmal hat wieder er gezecht,

    nun schwankt er heimwärts spät –

    er stoplert – fällt – liegt steif und stumm –

    von rauem Wind umweht.


    Da kommt ein Karren noch vorbei,

    der ist beladen schwer

    mit vielen Toten stumm und steif,

    die schauen aus wie er.


    Der Wagen hält, man lädt ihn auf –

    Er schläft und merkt es nicht –

    und niemand ahnt, dass lebend er

    stumm bei den Toten liegt.


    Im Finstern stößt das Wagenrad

    Unsanft an einen Stein.

    Jetzt wacht er auf, merkt, wo er ist –

    will laut um Hilfe schrei´n.


    Wie hat Entsetzen jäh gepackt

    die arme sünd´ge Seel´!

    Er kann nicht schrei´n; oh weh, ihm ist

    wie zugeschnürt die Kehl´.


    Da fällt der Dudelsack ihm ein.

    Er bläst: horch welch ein Ton!

    Die Kärrner hörn´s, sie fasst der Schreck

    und laufen wild davon.


    Ein ein´zger bleibt gelassen stehn,

    schaut nach trotz Lärm und Nacht,

    befreit das arme Pfeiferlein,

    das Tränen weint und lacht.


    Still trabt es heim – es bleibt verschont,

    ist nach wie vor gesund.

    Doch ist sein Übermut vorbei

    Seit jener Schreckensstund´.


    _____

    Dieses Gedicht über den Dudelsackpfeifer ist Otto Barthels Heimatgeschichtlichen Lesebuch entnommen. Der Verfasser ist leider nicht genannt.

    Link



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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust