Sarrazin oder: "Haben Sie? Nein. Warum nicht? Wann kommt es?"

  • Zitat

    Die früheren Einzelleistungen der Sozialhilfe, wie Kleidergeld, Einrichtungshilfe und Ähnliches, sollen seit Einführung des ALG II monatlich zurück gelegt werden. Viele Leistungsempfänger haben das nie gelernt, werden vor eine für sie unmögliche Aufgabe gestellt.


    Das war vielleicht nicht deutlich genug. Von dem übrigen Satz müssen Strom, Telefon, Reparaturen, Anschaffungen, Hygienebedarf, Putzmittel, Stifte, (außer jetzt einmalig 100,- Euro Zuschuss für Schulkinder extra pro Jahr), Fahrtkosten, Kleidung, Teilnahme am sozialen Leben finanziert werden. Und das schaffen die meisten Familien nicht, zumal sehr oft die Kaltmieten bereits über dem Satz liegen, der tatsächlich gezahlt wird.


    Die 4 Euro am Tag können nur für die Ernährung reichen. Nicht für mehr, in der Praxis sind aber oft diese 4 Euro nicht mehr vorhanden.

  • Zitat

    Original von Esmeralda
    Um wirklich gut mit dem Geld auszukommen, müssten solche Familien um einiges besser funktionieren, als die deutsche Durchschnittsfamilie. Ist da die Erwartung nicht deutlich zu hoch?



    Eindeutig.
    Ich habe jahrelang in einer psychosozialen Arbeitslosenberatungsstelle gearbeitet und das Elend, das man da zu sehen bekommt ist schon sehr heftig.
    Gerade auch die psychologische Gesundheit geht bei Hartz IV den Bach runter.
    Dinge an die Menschen wie Sarazin nicht denken - nicht denken wollen, es sich nicht vorstellen können/wollen.


    Schon bsp. der Verzicht an der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist eine ziemliche Härte - Keine Kino, kein Theater, geschweige denn eine Oper.
    Bücher - Pustekuchen. Mit Glück kannst Du Dir eine Bücherhallenkarte leisten.
    Schwimmengehen - überhaupt eine Art von Freizeitvergnügen, die Menschen einfach benötigen um Mensch zu sein in dieser Gesellschaft.
    Das Augeschlossensein fühlen führt dann irgendwann zu Depressionen, diese widerum machen es unmöglich arbeitsfähig zu sein.
    Aussichten = Null. - Abwärts in die Langzeitarbeitslosigkeit


    Und das ist leider nicht selten.


  • Ich finde das, was du mit dem Altenheim/Verpflegunssatz ansprichst für sehr wichtig. Leider wird mitlerweile nur noch über Hartz IV-Betroffenen geredet. Das "leider" soll nicht wertend sein. Es soll eher ausdrücken, dass, wie Salonlöwin schrieb, nicht nur Hartz IV-Betroffene zu wenig Geld in der Tasche haben.


    Hier wird zu recht angeprangert, dass man mit Hartz IV nicht am gesellschaftlichen Treiben (Sportvereine für die Kinder, Nachhilfeunterricht, etc.) teilhaben kann. Doch nicht nur Hartz IV Bezieher haben diese Probleme. Es gibt, so nehme ich zumindest an, ebensoviele oder gar mehr Menschen mit einem Gehalt, welches kaum höher als der Hartz IV Satz liegt. Diese können sich ebenfalls kaum etwas leisten. Ihre Kinder können ebenfalls in keinen Verein eingeschrieben werden und können auch keine Nachhilfe für die Schule erhalten. Ich kenne dutzende Nicht-Hartz-IV Bezieher, welche sich kein Kinoticket, Theaterbesuch oder einen Schwimmbadbesuch leisten können. Auch sie leiden (psychisch und physisch) extrem. Hier kommt sogar noch hinzu, dass sie Angst haben ihren Job zu verlieren.


    Das Problem ist einfach, dass durch die Hartz IV Debatte, meiner Meinung nach, zu sehr eben nur Hartz IV-Bezieher im Mittelpunkt stehen. Jedoch sollte es doch eher um ALLE Menschen gehen, egal ob Hartz IV oder jemand mit einem nur gering höheren Einkommen. Es sollte keine ausschließliche Hartz IV Debatte geben, sondern eine Gesellschaftsdebatte.


    Zu der Ernährungsdebatte kann ich persönlich nur sagen, dass wir in unserem Haushalt nicht mal ansatzweise 5€ benötigen. Und wir essen dreimal am Tag, gesund! Ich sagte bewusst "persönlich", weil Ernährung etwas individuelles ist. Ich bin schnell satt und trotzdem nicht unterernährt. Ich kenne jedoch Menschen, die wiegen genauso viel wie ich, benötigen aber wesentlich mehr Essen, um ihr Gewicht zu halten. Jeder Mensch unterscheidet sich auch in solchen Dingen. Daher kann ich verallgemeinernde Nahrungsstatistiken von Ernährungsspezialisten nichts abgewinnen, geschweige von einer Statistik, die aufklären soll, wie viel Geld ein Hartz IV-Bezieher für eine gesunde Ernährung benötigt.


    EDIT:


    Ich wollte zur Themenerstellerin noch etwas sagen:

    Zitat

    Original von Baby_Tizz
    Er bezieht sich auf Daten und Fakten, die es so ja tatsächlich gibt, bloß scheint er zu vergessen, dass diese entweder meist schon vollkommen überholt sind und zudem noch sehr selektiv. Alles klingt anders, sobald man es von zwei Seiten oder lediglich von einer betrachtet.


    Denn "Dummen" verbieten, Kinder zu kriegen, mag ja seine Meinung sein, jedoch sollte ihm klar sein, dass er damit gegen Menschenrechte verstößt, die es nun mal in Deutschland so gibt und die auch festgehalten sind.


    Ich habe kürzlich zwei interessante Artikel gelesen. Interessant deshalb, weil sie sich nicht blind auf Sarrazin stürzen, sondern sachlich mit ihm auseinandersetzen. Liegt vielleicht daran, dass die Artikel von Wissenschaftlern geschriben wurden und nicht von professionellen Journalisten.


    http://www.sueddeutsche.de/kul…-staemme-israels-1.996208


    http://www.faz.net/s/RubF01367…Tpl~Ecommon~Scontent.html

  • @ Esmeralda:
    Du hast sicherlich Recht mit dem was Du sagst.
    Zu den Neuanschaffungen noch ein Hinweis. Es ist grundsätzlich möglich, für größere Anschaffungen mit der Behörde einen Darlehnsvertrag abzuschließen, der eine monatliche Rückzahlung mit Raten vorsieht.


    @ Johanna:
    Was die kulturellen Aktivitäten anbelangt und die Einschränkungen von Arbeitslosengeldbeziehern angeht, hast auch Du sicherlich Recht, auch wenn ich an dieser Stelle Sarrazins Buch S.112 ins Feld führen möchte.
    Zu seiner Zeit als Finanzminister gab es die Möglichkeit, beispielsweise als Empfänger von Sozialleistungen, Oper und Theater in Berlin für 3,00 Euro zu besuchen; der Besuch von Museen und Bibliotheken war unentgeltlich
    Nach den Statistiken ist von diesem Angebot kaum Gebrauch gemacht worden.
    Eine hochverschuldete Stadt wie Berlin leistet sich diese Angebote und sie werden nicht genutzt. Warum nicht?


    Letztlich bleibt wohl festzuhalten, was ein Angestellter der BfA vor kurzem zu mir sagte:"Warum hat der Gesetzgeber wohl so viele Punkte bei der Schaffung des Arbeitlosengesetzes II offen gelassen? Damit die Betroffenen klagen."
    Das Recht scheint wie immer auf der Seite der Informierten zu stehen.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    @ oemchenli:
    So populistisch Sarrazin auch ist, so denke ich doch, dass eine Verpflegung mit 4,20 Euro/Tag möglich ist. Leichter wird es sicherlich, wenn man sich nicht allein verpflegen muss, sondern für mehrere kocht. Das setzt allerdings einen straffen Plan voraus, man sollte kochen und wirtschaften können und jeglicher stuff findet gar nicht erst den Weg in den Einkaufswagen.
    Was ich allerdings mit diesem Budget für schwer umzusetzen halte, sind die 5 Portionen Obst und Gemüse am Tag, die die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt.


    Du sagst es. Ich exerziere das seit Anbeginn. Bis jetzt gehts gut. Naja so ganz ohne Hilfe doch nicht. :-(

  • Zitat

    Original von Esmeralda
    Sicher ist es machbar, mit 4,20 € pro Tag die Grundernährung zu gewährleisten. Dass man sie überhaupt hat, dafür braucht es ein paar winzig kleine Bedingungen:


    1. Die Kaltmiete und die Nebenkosten übersteigen nicht die "angemessenen" Kosten. - Sonst muss die Zuzahlung nämlich aus dem Regelsatz geleistet werden.


    Zuzahlen aus dem Regelsatz ist gar nicht erlaubt.

  • Bei mir ging es um mehr!
    Da müsste ich mal die Papiere raussuchen. So aus der Lameng: Es wurde VOM AMT vorgeschlagen die Heizkosten im Vertrag höher zu setzen und somit die Mietkosten weiter runter. Es wurde ausserdem vorgeschlagen mit dem Vermieter eine Abmachung nebenher zu vereinbaren, also quasi einen zweiten Mietvertrag bei dem der Restbetrag zum tragen kommt.
    Quatsch einfach mit dem Vermieter und regel das mit ihm unter der Hand. Wenn er Ahnung hat wird er froh sein einen H4 zu bekommen, denn da hat er IMMER das Geld auf dem Konto.... Apropos, es gleich so einrichten dass das Amt DIREKT auf das Konto vom Vermieter überweist, das macht einen guten Eindruck und er lässt sich auf mehr ein.
    Und ALLES eine Frage des Auftritts!!!!!!!!!!

  • Also was Hartz-IV angeht kann ich nur sagen, das Geld reicht aus. Es sollte nicht mehr sein aber auch nicht weniger. Ich zB. als Student wäre froh, wenn ich im Monat soviel Kohle zur Verfügung hätte wie ein Hartz-IV-Empfänger, habe ich aber nicht, beschwer ich mich auch nicht drüber, denn ich komme damit klar. Eine gesunde Mahlzeit kann ich für 2 Euro kochen. Wer natürlich besagtes Drei-Gänge-Menü braucht und mehr isst, als gesund für ihn wäre, der hat ein Problem.
    Man muss auch immer überlegen, wofür man die paar Kröten ausgibt. Raucher habens da grundsätzlich schwerer, aber das Rauchen kann man sich auch abgewöhnen. Genauso haben es Naschkatzen schwierig. Süßigkeiten sind ein Luxusprodukt, das merkt man auch deutlich am Preis. Fertigfutter kann ebenfalls eine Kostenfalle sein, es macht nicht wirklich satt und ist oft gar nicht so billig wie man meint. Überlegtes HAndeln spart so manchen Euro und ermöglicht auch mit wenig Geld ein gutes Leben ;)
    Mittlerweile gibt es übrigens jede Menge Kochbücher, die auf Basis des HArtz-IV-Satzes aufbauen, unter anderem sogar eines, das komplett von einer biologischen Vollwert-Ernährung ausgeht.

  • Kann es sein, dass Sarrazin einfach nur ein Fake ist? :gruebel :gruebel
    Günter Walraff hat lange nichts mehr geschrieben...... :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Interessante Rezi, Salonlöwin! Danke!
    Ob ich das Buch irgendwann mal lesen werde, z.B. wenn die Bibo es hat, weiß ich noch nicht. Ich mag diesen Rummel um ein Buch das kaum einer kennt, über das aber alle irgendwas und irgendwie reden, nicht auch noch mitmachen.

  • Sarrazins Statistiken werden total überbewertet.


    Integration -mal auf den Boden der Tatsachen gebracht- ist ein RANDproblem, wie es der Name schon sagt. Unten. Nichts, das in der Mitte stattfindet. Oder gar oben. 90 - 95% haben nichts damit zu tun.

  • Zitat

    Original von Clare
    Geht's hier noch um Sarrazin?
    Hat eine(r) von den Eulen inzwischen sein Buch gelesen? Das würde mich interessieren.


    Ja, habe ich.


    Um abzugrenzen, was er wirklich schreibt und was die Presse sagt, dass er geschrieben hätte, mag es interessant sein. Als Buch finde ich es nicht empfehlenswert, weil der Autor zwar seine Sorgen formuliert, aber deutlich merkbar kein Sozialwissenschaftler oder Pädagoge ist. Wer sich für die Lebenssituation von Kindern schon vorher interessiert hat, kennt die Probleme, auf die Sarrazin aufmerksam macht. Er fordert u. a. Ganztagsschulen für Unterschichtkinder mit strenger Hausaufgabenbetreuung und Strafen, die direkt von den Transferleistungen der Familien abgezogen werden sollen, deren Kinder die Schule schwänzen oder die nicht an Sprachkursen teilnehmen.


    Bei dem Lehrermangel, den wir in einigen Regionen jetzt schon haben, fragt man sich, wie das praktisch aussehen soll. Die Kontrollbürokratie, die Sarrazin sich vorstellt, muss ja erst einmal finanziert werden.

  • Dieser Mann hat die Kohle, die er mit dem Buch schäffelt nicht verdient. Genausowenig die Aufmerksamkeit. Es ist mit Statistiken untermauert, die er sich selbst zusammengeschnitzt hat, die auch durchaus richtig sein können. Aber die Schlüsse, die er dadurch zieht sind nicht akzeptabel. Er kann nicht von Berlin auf ganz Deutschland schließen. Genauso wenig kann er den Muslimen denselben Schuh anziehen, da es da auch klare Unterschiede gibt (Sumiten, Shiiten,..) und diese somit andere Moralvorstellungen haben.


    So hat er in einem Interview zu seinem Buch (lief auf Phönix) behauptet, dass alle dicken Menschen faul sind und erntet dafür Applaus. Ebenso unbegreiflich sind mir die vielen positiven Amazonkritiken. Das bereitet mir durchaus Sorgen.


    So ist es mMn auch nicht gerechtfertigt Muslimen/Türken/... vorzuwerfen, dass sie dümmer sind als wir. Er lässt einen wichtigen Aspekt aus: Die Umgebung, das soziale Netz in dem man sich befindet. Unter Stress und Existensangst ist vernünftiges Lernen nicht möglich.


    Just my Cent