'Der Zug der Waisen' - Seiten 161 - 259

  • Die Geschichte hat mich so in ihren Bann gezogen, dass ich gleich weitergelesen habe, denn auch der nächste Abschnitt hat es wirklich in sich.


    Für Vivian wird es erstmal ganz schlimm - ich mochte mir gar nicht ausmalen, was das für Zustände bei den Grotes gewesen sein müssen: das gräßliche Essen (wenn's überhaupt was gab), die mangelnde Hygiene, die vernachlässigten Kinder... bei den Läusen hat's mich echt geschüttelt - wir haben ja öfter mal Läusealarm, wenn's in den Schulen der Kinder wieder umgeht, und allein schon der Gedanke, dass eins meiner Kinder Läuse haben könnte, verbunden mit dem Haare-Durchsuchen, verursacht mir jedes Mal Gänsehaut. Bislang hatte es mich zwar noch nie erwischt, aber allein daran zu denken... Von daher kann ich mir lebhaft vorstellen, was in Vivian vorgegangen ist, als sie allein mit der Läuseplage konfrontiert war und von Mrs Grote keinerlei Unterstützung bekam. Wenigstens hat ihr Mr. Grote ein wenig geholfen... Den hatte ich eigentlich immer noch ganz vernünftig eingeschätzt und war, angesichts seiner Kinderschar, doch ziemlich entsetzt zu lesen, dass er auch erst 24 ist! Kein Wunder, dass auch er vollkommen überfordert ist... Die versuchte Vergewaltigung war ja dann für Vivian der absolute Tiefpunkt (latent hatte ich sowas ja schon länger befürchtet, war aber doch geschockt, dass es dann tatsächlich dazu kam) und dass sie dann auch noch rausfliegt, ohne ihre Sachen mitnehmen zu können - die Arme! :-(
    Bei der Unterredung mit diesem Sorensen bin ich ja dann echt wütend geworden, von wegen "leicht erregbar" und sowas! :schlaeger Natürlich versucht dieser Mann, den für ihn einfachsten Weg zu gehen, denn wer will schon in Zeiten wirtschaftlicher Depression noch ein Kind aufnehmen, aber dass er so gar keine Empathie für Vivian zeigt... schlimm.


    Gsd hat sie Miss Larsen und Mrs Murphy und der Wechsel zu den Nielsens ist Vivians Rettung. Die Szene, wo Mrs Nielsen Vivian anbietet, ihren irischen Anhänger zu polieren, fand ich wirklich rührend - die erste, die Vivian ihr Schmuckstück nicht wegnehmen will!


    Mollys Entwicklung finde ich auch interessant. Je mehr sie sich auf Vivian einlässt, desto weniger scheint sie ihre "Rüstung" zu brauchen und umso mehr lässt sie von der echten Molly raus. Dieses "Portage"-Projekt finde ich auch spannend - das wäre es wert, auch mal selber darüber nachzudenken, was man wohl mitnehmen würde...
    Als Molly bei ihren Recherchen rausfindet, dass Vivians kleine Schwester doch überlebt hat, musste ich ja schon heftig schlucken... Schade, dass ein Wiedersehen der beiden Schwestern nicht mehr möglich ist, aber das hätte wohl den Rahmen des Romans gesprengt.


    LG, Bella

  • Mir ging es genau wie dir, belladonna.
    Ich habe das Buch vor lauter Faszination nicht aus der Hand geben können!
    Auch ich musste bei dem nun "wie Lametta glänzenden Anhänger" und dem knappen Vorbeischrammen an einem Wiedersehen mit der kleinen Maisie ordentlich schlucken.
    Ein Glück gab es die Lehrerin und die Familie Nielsen!
    Irgendwie bin ich innerlich ziemlich aufgewühlt, vor allem, weil man weiß, dass es solche Schicksale ja wirklich gab...

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Belladonna hat eigentlich schon alles gesagt. Das würde ich genauso :write


    Schon interessant, wie "Vivian" und Molly sich in manchen Sachen gleichen und in anderen dann wieder völlig verschieden sind. Molly mimt die Rebellin, während Vivian sich anpasst und versucht, jeden Ärger zu vermeiden.


    Mir ging es genauso wie euch beiden: Die Szene mit dem Kreuz fand ich einfach total schön! Etwas befremdlich, dass die Nielsens die Adoptivtochter nach der toten Tochter benennen wollen.
    Was ich von den Schatzmanns halten soll, die Niamh offensichtlich belogen und weggeschickt haben, dann aber immerhin Maisie adoptierten und ihr offenbar ein gutes Leben ermöglicht haben, weiß ich nicht so ganz. Immerhin durfte Maisie ihren Namen behalten. Ob sie von ihrer ersten Familie wusste?

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Die Bücher, bei denen man Tränen vergießt in den Momenten, in denen einer Figur, die bis jetzt nur Schlimmes erlebt hat, endlich etwas Schönes widerfährt, sind etwas Besonderes. Die vergisst man meist nicht so schnell. Dieses ist so eins...


    Aus Lesersicht bin ich froh, dass ein Wiedersehen der beiden Schwestern nicht mehr möglich bist. Das hätte ich als allzu kitschig und nicht zur Geschichte passend empfunden.


    Vivian ist auf eine Art Mollys Mrs. Nielsen. Ohne aufdringlich zu werden, hilft sie ihr, sich zu öffnen, in dem sie sich ihr selbst öffnet. Die "Symbiose" dieser beiden so unterschiedlichen Frauen gefällt mir sehr.

  • Seite 179/180:
    Die Gedanken an die lange vergangene Zeit mit ihrer Großmutter geben ihr Trost!


    Ich bin ja überrascht, dass auf der Zigarettenpackung das Gedicht “Sweet Afton”des schottischen Lyrikers Robert Burns steht.


    Was heute auf den Zigarettenschachtel steht ist weniger poetisch!


    Zitat


    Zieh’ leis, holder Afton, durch’s Blumenbett hier,
    Zieh’ leise, ich sing’ Dir ein Liedchen dafür;
    Es schlummert Maria am duftigen Saum –
    Zieh’ leis, holder Afton, stör’ nicht ihren Traum.


    Noch schöner finde ich aber das Original!


    Zitat


    Flow gently, sweet Afton! amang thy green braes,
    Flow gently, I'll sing thee a song in thy praise;
    My Mary's asleep by thy murmuring stream,
    Flow gently, sweet Afton, disturb not her dream.

    Bilder

    • die-faehrmannstochter-090362805.jpg

    ..........................

  • Es ist ja über den Inhalt schon alles gesagt.


    Mich hat es gefreut, daß nach dem Desaster bei der Familie Grote einmal positiv weiterging. Zuerst die freundliche Lehrerin, dann Mrs. Murphy und dann Familie Nielsen und hier bekommt sie wieder einen neuen Namen VIVIAN. Aber hier wurde sie gefragt und das ist dann doch ein Unterschied. Und dann kann sie sich mit ihren Ideen in den Laden einbringen - endlich mal ein Lichtblick!

  • Diese Stelle auf Seite 178-180 fand ich auch besonders berührend. Welche Einzelheiten dem Kind noch alle einfallen - bis hin zur Geschmacksmischung der Pefferminzbonbons.
    Sehr schön - und so traurig.


    Herr Palomar, dieses Bild ist herrlich. Und das Originalgedicht noch mehr. Ein Beispiel dafür, dass man Gedichte nicht wirklich übersetzen kann - trotz aller Kunst.


    edit fügt ein verlorenes s ein.

  • Danke für das Einstellen des Gedichts, Herr Palomar. Im Original finde ich es sehr, sehr schön, vor allem, wenn man es laut liest. Mein kleiner Sohn hat zwar kein Wort verstanden, als ich das heute gemacht habe (ich wollte hören, wie die Worte klingen), aber er war ganz hingerissen vom Klang der Worte und der Stimmung, die sie anscheinend für ihn transportiert haben. :-)

  • Zitat

    Original von Richie
    Mich hat es gefreut, daß nach dem Desaster bei der Familie Grote einmal positiv weiterging. Zuerst die freundliche Lehrerin, dann Mrs. Murphy und dann Familie Nielsen ...


    Nach den schlechten Erfahrungen, die mit der Grote-Familie ihren negativen Höhepunkt hatten, ist sie geradezu traumatisiert.
    In diesem Zustand sind Kontinuität und Sicherheit das wichtigste für sie und das bietet das Ehepaar Nielsen. Für Vivian beginnt eine Zeit des geregelten Lebens.


    Es ist aber auch so, dass Mr. und Mrs.Nielsen keine wirklich liebevolle Vater und Mutter-Rolle einnehmen können.
    Das erkennt auch Vivian.
    Seite 251: "Ich werde ihre Tochter werden, auch wenn ich es niemals über mich bringe, sie Mutter und Vater zu nennen - dafür kommt mir unsere Beziehung zu förmlich vor."


    Das wiederum ist schade, aber es ist die Realität und Vivian kann so immerhin ihr Leben meistern.

  • Anfangs habe ich zwischen den Gegenwarts- und Vergangenheitsgeschichte stark unterschieden und sie in verschiedenen Stimmungen gelesen.
    Inzwischen bin ich aber nicht mehr der Meinung, dass es Sinn macht, den einen oder anderen Handlungsstrang der Geschichte zu bevorzugen, da sie so stark aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig ergänzen.
    Das ist gut gemacht von der Autorin.

  • Ich muss auch einfach immer weiterlesen.


    Molly und Vivian verbindet mittlerweile viel mehr als nur das Aufräumen des Dachbodens. Aber immer noch glaubt Molly, Vivian hätte es eigentlich leicht gehabt im Leben, die schlimmen Dinge hat sie ihr wohl verschwiegen? Und erst mit dem Leben bei den Nielsens detaillierter angefangen.


    Dass Grote irgendwann zudringlich werden könnte, hatte ich ja schon befürchtet. Ein 10jähriges Mädchen, so ein Schwein.
    Und seine Frau ist nicht besser, anstatt dass sie ihrem Ehemann eine runterhaut, schmeißt sie die arme Niamh raus. Grauenvolle Leute...


    Miss Larsen und Mrs. Murphy sind dann erstmal eine Anlaufstelle, wo Niamh endlich etwas zur Ruhe kommen kann. Es war klar, dass sie dort nicht bleiben wird, das wussten wir ja schon. Aber ganz verstanden habe ich nicht, warum Mrs. Murphy sie nicht dauerhaft aufgenommen hat.
    Und dann lässt sie sich anscheinend auch noch von diesem Schlappschwanz Sorensen einlullen, die beiden schienen sich ja zueinander hingezogen zu fühlen.


    Immerhin ist die Vermittlung zu den Nielsens nun endlich eine gute Entscheidung. Auch wenn es zwischen ihnen und Niamh nie eine liebevolle oder herzliche Beziehung wird, ist sie dennoch von Freundlichkeit und Respekt geprägt. Das ist mehr, als Niamh je hatte.
    Ein wenig gruselig finde ich es aber schon, dass man ihr den Namen der toten Tochter aufdrängt. Ersetzen kann man einen Menschen doch nicht einfach!


    Schade finde ich, dass Molly und Jack nun solche Differenzen haben.
    Und wirklich tragisch ist, dass sie herausfindet, dass Maisie bis vor wenigen Monaten noch gelebt hat. Eine schwierige Entscheidung, soll sie es Vivian sagen? Vergrößert sie damit ihre Trauer oder würde es Vivian glücklich machen, zu wissen, dass ihre kleine Schwester ein erfülltes Leben gehabt hat? Wie grässlich aber von den Nachbarn damals, das ältere Mädchen zu der Society zu schicken und das Kleinkind zu behalten...

  • Man mag sich das manchmal wirklich gar nicht so bildlich vorstellen, was Niamh so durchmachen muss.
    Jetzt ist sie zum Glück bei Mrs Murphy gelandet und hat ihre Lugenentzündung überstanden.
    Und ich kann sie so gut verstehen, dass sie, nachdem sie einmal in einem sauberen Bett geschlafen hat, nie wieder auf eine stinkende Matratze zurück will. Bzw. sich nicht sicher ist, ob sie so etwas noch einmal durchstehen würde.

  • Zitat

    Original von Richie



    Mich hat es gefreut, daß nach dem Desaster bei der Familie Grote einmal positiv weiterging. Zuerst die freundliche Lehrerin, dann Mrs. Murphy und dann Familie Nielsen und hier bekommt sie wieder einen neuen Namen VIVIAN. Aber hier wurde sie gefragt und das ist dann doch ein Unterschied. Und dann kann sie sich mit ihren Ideen in den Laden einbringen - endlich mal ein Lichtblick!


    :write
    Ja, mir gefällt auch sehr gut, wie gut das mit dem Laden läuft, wie ihre Ideen und Veränderungen angenommen und umgesetzt werden.
    Es hat ja auch wirklich lange genug gedauert, bis Niamh, nun als Vivian, etwas Glück im Leben gefunden hat.

  • Zitat

    Original von belladonna
    Die Beziehung zwischen Jack und Molly finde ich auch etwas unklar. Am Anfang habe ich gar nicht geschnallt, dass er tatsächlich ihr "boyfriend" ist. So richtig kann ich sein Verhalten nicht nachvollziehen, auch das seiner Mutter nicht, dazu erfährt man einfach zu wenig über die beiden.


    LG, Bella


    Hier sprecht Ihr genau das an, was ich benennen würde, wenn ich denn unbedingt einen Minuspunkt dieses wunderbaren Buches aufzeigen sollte: Immer dieses indifferente Licht um Jack und Terry. Alle anderen mir kurzzeitig durchs Hirn spukenden Suppenhaare lösten sich im Laufe des Lesens in Wohlgefallen auf. Aber im Endeffekt sind auch Jack und Terry wie Dina und Ralph nur Statisten.
    :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Zitat

    Original von maikaefer
    Aber im Endeffekt sind auch Jack und Terry wie Dina und Ralph nur Statisten.
    :wave


    Ob das vielleicht daran liegt, dass der Autorin der Vergangenheitshandlungsstrang doch wichtiger war?


    Da gibt es ja auch viele Nebenfiguren, die nicht detailliert dargestellt werden und doch kann ich mir diese Figuren besser vorstellen und sie fühlen sich auch echter an.