Marion Poschmann: Die Kieferninseln

  • Marion Poschmann: Die Kieferninseln
    Suhrkamp Verlag 2017. 168 Seiten
    ISBN-10: 3518427601
    ISBN-13: 978-3518427606. 20€


    Verlagstext
    Gilbert Silvester, Privatdozent und Bartforscher im Rahmen eines universitären Drittmittelprojekts, steht unter Schock. Letzte Nacht hat er geträumt, dass seine Frau ihn betrügt. In einer absurden Kurzschlusshandlung verlässt er sie, steigt ins erstbeste Flugzeug und reist nach Japan, um Abstand zu gewinnen. Dort fallen ihm die Reisebeschreibungen des klassischen Dichters Basho in die Hände, und plötzlich hat er ein Ziel: Wie die alten Wandermönche möchte auch er den Mond über den Kieferninseln sehen. Auf der traditionsreichen Pilgerroute könnte er sich in der Betrachtung der Natur verlieren und seinen inneren Aufruhr hinter sich lassen. Aber noch vor dem Start trifft er auf den Studenten Yosa, der mit einer ganz anderen Reiselektüre unterwegs ist, dem Complete Manual of Suicide.
    Die Kieferninseln ist ein Roman von meisterhafter Leichtigkeit: tiefgründig, humorvoll, spannend, zu Herzen gehend. Im Teeland Japan mischen sich Licht und Schatten, das Freudianische Über-Ich und die dunklen Götter des Shintoismus. Und die alte Frage wird neu gestellt: Ist das Leben am Ende ein Traum?


    Die Autorin
    Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman „Die Sonnenposition“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.


    Inhalt
    Die Kieferninseln von Matsushima werden zu den schönsten Landschaften Japans gezählt. Matsushima ist ein japanischer Ort an der Nordostküste, rund 50 Meilen nördlich von Fukushima gelegen, der von Matsuo Basho in seinem Reisetagbuch „Oku no Hosomichi“ genannt wird. Als Gilbert Silvester im Ärger über seine Frau Hals über Kopf eine Japan-Reise beschließt, will er auf den Spuren Bashos nach Matsushima pilgern und dort den Mond über den Kieferninseln aufgehen sehen. Gilbert ist Wissenschaftler, der über den Bart im Film aus feministischer und religiöser Perspektive forscht. Dass er noch keine reguläre Professur erreichen konnte, erklärt sich Gilbert nicht etwa damit, dass er sich mit brotloser Kunst befasst, sondern mit dem fehlenden familiären Hintergrund, der ihm zur Unterstützung seiner Karriere fehlt. Dass Gilbert sich urplötzlich einbildet, seine Frau würde ihn betrügen, schließlich wäre sie in letzter Zeit verdächtig gut gelaunt, lässt um seine geistige Leistungsfähigkeit fürchten. In Gilberts Opferhaltung passt perfekt seine Behauptung, Matilda als Verursacherin seiner Misere hätte ihm seine spontane Japanreise quasi aufgezwungen. Japanisch kann er nicht und sein Traumland war Japan bisher auch nicht.


    Kurz nach der Ankunft trifft Gilbert auf einen ziegenbärtigen jungen Mann, der sich offenbar in japanischer Korrektheit das Leben nehmen will. Yosa Tamagotchi fürchtet den hohen Ansprüchen der japanischen Gesellschaft nicht zu genügen und hätte am liebsten schon viel früher Schluss mit dem Leben gemacht. Das Handbuch zu Japans berühmtesten Stätten für Selbstmörder wird zum Reiseführer einer gemeinsamen Pilgerreise. Fehlt nur noch, dass mit Gilbert der Lehrende durchgehen und er Yosa aus westlicher Sicht belehren wird. Schließlich legt Gilbert zwischen sich und seine Bartprofessur die größtmögliche Distanz und landet an einem rührend idyllischen Fleck Japans, der rein zufällig in Sichtweite von Fukushima liegt, dem Schauplatz der Atomkatastrophe von 2011. Die Autorin malt zum skurilen Innenleben ihres Protagonisten perfekt die außergewöhnlichen Grüntöne Japans, das - äußere - Bild eines Landes, das seine Berge als heilig schützt und die Städte und Verkehrswege am Meer und in den Tälern konzentriert.


    Fazit
    Als wandelnder Hofnarr des deutschen Wissenschaftsbetriebes gerät Gilbert auf eine makabre Pilgerreise durch Japan. Der alternde Professor wandelt auf dem Grat zwischen betörender Landschaft und den teils grotesken Zumutungen des japanischen Alltags. Stilistisch hat mich Marion Poschmanns höchst ironische Erzählung sofort gepackt; und von Gilbert und Yosa hätte ich gern mehr als eine schlanke Erzählung gelesen.


    9 von 10 Punkten

  • Meine Meinung


    Ich hatte einige Probleme mit diesem Buch.
    Gut gefallen haben mir Poschmanns Schilderungen der Landschaft in ihren oft unbemerkt bleibenden Details und dazu dann die harten Kontraste zu einer künstlichen und hektischen Stadtlandschaft.
    Ihr immer leise ironischer Ton, mit dem sie Gilberts Reise - die innere und die äußere - erzählt.


    Schwierig war für mich vor allem die Person Gilbert, ein unerträglicher Besserwisser, blind für alles und alle außer der eigenen Person, ganz bestimmt kein Sympathieträger.
    Genauso wenig sympathisch wie der bedauernswerte Student Yosa, der an den Leistungsabsprüchen seiner Umwelt verzweifelt und in seiner Unterwürfigkeit für mich fast komisch wirkte.


    Am Ende hat mich begeistert, wie aus den Gewissheiten von gerade eben unmerklich etwas Verschwommenes, Surreales erwächst und die Frage nach der Wirklichkeit übrig bleibt.


    Kein Buch für eilige Leser.


    8 Punkte

  • Interview mit Marion Poschmann

    Zitat
    Marion Poschmann besitzt eine seltene Doppelbegabung. Wie keiner anderen gelingt es ihr, die Poesie ihrer Lyrik in ihre Prosa zu übertragen und die Erzählkunst ihrer Romane in ihre Gedichte einfließen zu lassen. Mit ihrem neuen Roman »Die Kieferninseln« stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Wir sprachen mit ihr über die Faszination des Träumens, die Kraft der Melancholie und die Sysiphusarbeit des Schreibens. ...
  • Marion Poschmann "Die Kieferninseln"


    Gilbert Sylvester, Kulturwissenschaftler und als Drittmitteldozent tätig, erwacht eines Morgens aus einem Traum, der ihn im Glauben zurücklässt, seine Frau betrüge ihn. Kurzerhand kauft er ein Flugticket nach Japan, ein Land, das ihn bislang kaum interessiert hat und steigt mit einem Gedichtband

    Matsuo Bashō ins Flugzeug. In Tōkyō angekommen stellt er fest, dass die Stadt der Hochhäuser für Touristen und für ihn zu sauber und aufgeräumt ist.

    An einem Bahnsteig trifft Gilbert Sylvester auf den jungen Studenten Yosa Tamagotchi, der sich das Leben nehmen möchte.

    Der Fortgang der Geschichte lässt sich für Kenner erahnen: Der vermeintlich gehörnte Ehemann und der lebensmüde Student machen sich auf nach Aokigahara, den über Landesgrenzen hinaus bekannten Wald der Selbstmörder, einem dicht bewachsenen Wald, in den kaum Licht eindringt und geeignet für ein Lebensende erscheint.

    Auf dieser Reise des ungleichen Duos erfährt Gilbert Sylvester durch Yosa Tamagotchi viel über Lebensweise, Kultur und Sozialiation Japans, gibt jedoch selbst nicht viel von sich preis.

    Aussagekräftiger sind seine einsilbigen Telefonate mit seiner Ehefrau, die unweigerlich die Frage aufwerfen,

    ob die beiden sich in besseren Zeiten überhaupt etwas zu sagen hatten.

    Der Selbstmord gelingt nicht und die beiden Gestalten reisen noch einige Touristenziele ab und um sich letztlich nach Matsushima, den titelgebenden Kieferninseln, aufzumachen. Wer sich mit Japan und der Literatur diesen fernöstlichen Landes bereits beschäftigt hat, dem dürfte Matsuo Bashō ein Begriff sein.

    Matsuo Bashō, Mönch, Wanderer und Haiku-Dichter, wandelte im 17.Jahrhundert auf den Spuren seines Vorbilds Saigyō, der die Schönheit der Kieferinseln im japanischen Hinterland bereits im 12.Jahrhundert poetisch verarbeitete und dessen Gedichte bis heute weit verbreitet sind.

    Marion Poschmann, die einige Monate Japan bereist hat, greift in ihrem Roman auf, wonach der Japanreisede stetig sucht: Das gute alte Japan, das aus fernöstlicher Tradition, Naturverbundenheit und mit Buddhismus als auch Shintoismus religiöse Heimat für jedermann bietet.

    Doch Gilbert Sylvester muss schnell feststellen, dass vom Japanbild ebenso wenig übrig geblieben ist wie von seinen Lebensvorstellungen.

    Das von Matsuo Bashō vor 400 Jahren in seinen Haikus beschriebene Matsushima mit seinen windschiefen Kiefern an der Bucht von Sendai existiert nicht mehr und die von ihm angestrebte Karriere ist ausgeblieben.


    Mit "Die Kieferninseln", im Jahr 2017 nominiert für den Deutschen Buchpreis, hat Marion Poschmann sich Großes vor- und teilweise übernommen.

    Die Hauptfigur, die ebenso wie ihr Name und als Bartexperte künstlich wirkt und ein Bilderbuchlangweiler par excellence ist, bleibt über weite Strecken fremd und weckt kein Interesse, allerdings Zweifel ob er als Mentor und Lebensretter taugt. Überzeugender sind dagegen die Beschreibungen des Hinterlands und

    die Suche nach den Kieferninseln, deren Geschichte überzeugend, lebendig und lyrisch erzählt wird.

    Wer über die vorgenannten Punkte hinweglesen kann, den erwartet eine Stück lohnenswerte japanische Kultur- und Literaturgeschichte, die neben der Lust an Poesie auch Interesse an Matsushimas von Wind und Regen geprägten Inseln weckt.

  • Ein schönes Büchlein, das vor allem durch seine nahezu poetische Sprache besticht. Es will langsam gelesen werden, nichts für eilige Gemüter, sondern ein Buch zum Eintauchen und Genießen. Mit sehr viel Sinn für Details wird hier nicht nur die Natur Japans beschrieben.


    Obwohl es mit 174 Seiten ein dünnes Buch ist, steckt nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich sehr viel drin. Die Hauptperson Gilbert, aus dessen Sicht konsequent berichtet wird, ist ein schwieriger Mensch und wahrlich nicht angenehm. Trotzdem war ich gerne mit ihm auf seiner ungeplanten Reise durch Japan. Seine Gedanken sind manchmal abwegig, manchmal interessant, manchmal klug und oft von feinem (unfreiwilligem) Humor. Das Buch regt an, mich (und vielleicht auch meine Vorurteile) zu hinterfragen und bietet sehr viel Stoff und vor allem Raum für eigene Gedanken. Hier wird nichts vorgegeben und schon gar nicht vorgekauft – als Leser*in bin ich selber gefordert. Auch der Schluss passt dazu und lässt – so unbefriedigt das für mich im ersten Augenblick auch war – viele Fragen offen. Platz für eigene Möglichkeiten, eigene Ideen, eigene Gedanken.


    Ein heißer Kandidat irgendwann für einen Re-Read, denn ich bin sicher, es steckt noch viel mehr drin, als ich beim ersten Lesen wahrnehmen konnte.


    Fazit: Wunderschöne Sprache mit vielen Facetten und eine Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Die vielfältigen japanischen Eindrücke passen perfekt zu Sprache und Inhalt. Mir blieben etwas zu viele Fragen offen und so vergebe ich gute 8 Eulenpunkte (von 10) und empfehle es allen, die tiefgründige Bücher mögen.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021