Beiträge von SchreibwettbewerbOrg

    Schicksalsnetz


    Fischmann.

    Vorbestimmter Weg des Schicksals oder zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Die Frage füllte Titelseiten von Journalisten, die eine gierige sensationsgeile Meute wie Heringe mit Ködern in Netzen zusammentrieben…Netzen der eigenen Dummheit…ein Seufzer der Resignation entfloh meinem Mund. Wenigstens bekam ich Spätabendsitzungen, damit die Journalisten in ihren heimischen Wohnzimmern ihre Leben verfolgten und nicht weiter mich. Nils Fischmann.

    „Woran denken Sie?“, fragte die Therapeutin, die dafür bezahlt wurde, meine zerstörte Seele wieder zusammenzuflicken. „Netz“, erwiderte ich emotionslos. „Ein Sinnbild für Ihre Fam…“, setzte sie an und ihre roten Lippen füllten mein Blickfeld, in meinem Kopf rückten die Wände immer näher und ich sah rot, als würde ich mein Blut sehen können. Meine Hand donnerte auf den Glastisch – zum Glück so robust, dass er nicht zu Bruch ging. Der Schmerz kam erst danach und ich sprang auf. Ich wusste außerhalb des Moments, dass ich floh, immer noch weglief, aber jetzt übernahm wieder ein Autopilot in mir. Raus hier.

    Mein Herz wollte sich zusammenziehen, so fühlte sich der Beginn der Panikattacke immer wieder an und doch war ich immer wieder machtlos, wenn mich dieses Gefühl flacher atmen ließ. Ich musste hier weg. Ich taumelte mit dem Geschmack des Salzwassers und dem Geschrei der Möwen zum Deich und darüber hinweg zum kleinen Fischereihafen. Wie an einer unsichtbaren Leine geführt, lief ich weiter auf das Hafenbecken zu, kletterte über die Polder mit den metallischen Ketten, die als Absicherung dienten – zu niedrig für einen ausgewachsenen Mann wie mich. Fischernetze lagen ausgebreitet am Kai, die Boote waren im Hafen, manche davon im Päkchen, zwei nebeneinander. Dicht an dicht. Wie sie und ich. Bleiben. Fliehen. „Rrrgh…“ Ich versuchte zu atmen, normal zu atmen, wurde aber hektischer. Hier waren keine Wände, die auf mich einstürzen konnten, aber der Sog der Dunkelheit war umso näher. Ich sah die Wasseroberfläche an und stand so nah am Rand, dass ich nur noch nach unten in fast schwarzes Wasser blickte. Komm. Komm. Ich machte einen weiteren Schritt nach vorne. Kein Untergrund mehr, Aufprall, Kälte. Schock. Schwärze.


    ***


    „Wer ist da?“ Müde wischte ich mir Haarsträhnen aus den Augen und versuchte mich dadurch wacher zu machen. „Was? – Ja, ich komme.“ Mein Kopf war ruckartig aus dem Schlaf gerissen, versuchte das Gehörte richtig zu verstehen, doch mein Körper war noch nicht so weit. Als ich aufsprang, sackte mir der Kreislauf weg, ich taumelte zurück auf die Matratze und sah auf die leere unbenutzte Bettseite neben mir. Ruhig Jennifer. Es ist nur ein Missverständnis, ich habe mir das eingebildet. Nein, es wird wahr sein…als ich das Haus verließ und ins Auto stieg, waren meine Hände eiskalt, meine Augen weit aufgerissen. Im Hafen parkte ich nah genug an dem mit dem Licht eines Fischerkahns ausgeleuchteten Platz. Ein grünes Fischernetz lag auf den Pflastersteinen, darin ein Haufen schwarz. Nils trug in letzter Zeit immer schwarz, es war wahr, er war tot, er…ich taumelte darauf zu und griff nach dem feuchten Netz, dem Stoff seines Pullovers darin.

    „Jenni…“ „Nein!“ Ich schluchzte auf, das war seine Stimme. Ich drückte fester zu, meine Hände konnten wissen, dass sie keine Haut in Stoff fühlten, aber mein Gehirn stellte eine Schranke vor diese Erkenntnis. Eine Hand schob sich auf meine Hand. Nackte Haut eines Arms. Ein Tattoo. Feuerfisch. Ich schluchzte auf und zog den Ärmel meines Pyjamas hoch, den ich noch immer trug. Ein Anker in einem Netz. „Du bist mein Anker. Mein Netz“, sagte Nils und schob sich eingedreht in eine Decke in mein Blickfeld. „Aber…wie?“ „Ein Fischer wollte den Fischmann nicht sterben lassen.“ „Ein Schicksalsnetz.“ Ich lachte und weinte gleichzeitig in seinen Kuss.

    Lebensretter


    Mir ist kalt. Groggy taste ich nach meiner Decke. Wo ist das blöde Ding? Ein Stechen fährt in mein Genick. Mein Kopf dröhnt. Stöhnend suche ich einer weniger schmerzenden Position. Mit einem Ruck bin ich hellwach. Das ist nicht mein Bett! Ich bin nicht in meinem Zimmer! Zu viel Luft ist um mich herum und ich fühle ein eigenartiges Gewebe unter meinen Händen. Ein Versuch mich hinzusetzen scheitert. Ich schwanke in einem Gewebe und kann auf den ersten Blick den Boden nicht sehen. Blut rauscht laut in meinen Ohren. Wo bin ich? Wie zur Hölle bin ich hierhergekommen? Ängstlich versuche ich mich zu orientieren. Hinter mir ist eine Glasfassade. Mein Spiegelbild ist ein dunkler Fleck vor marginal helleren Schatten. Ich liege in einem Fangnetz, das sich einige Meter unter dem flachen Dach rund um das hohe Gebäude windet. Es ist in regelmäßigen Abständen am Dach befestigt. Direkt über mir hängt ein Pfosten ohne Halt über den Rand. Seile sind gerissen und mein Abschnitt des Netzes hängt tiefer als der Rest. Wenn ich mich bewege, knirscht und knallt es. Im Mondlicht kann ich viele kaputte Stellen erkennen.


    5 Stunden vorher: Sandy und ich feiern was das Zeug hält. Trotz aller Widrigkeiten haben wir uns durchgesetzt und das hat uns einiges an Kraft und Tränen gekostet. Die schwierigste Prüfung des Semesters, Advanced Robotics, liegt hinter uns. Wir haben in unserem Masterstudium schon viele Hürden genommen, aber in diesem Fach hatte der Professor eine absolut toxische Umgebung für die Frauen geschaffen. Gleich zu Beginn des Semesters meinte er lässig, dass Frauen in seiner Vorlesung fehl am Platz wären. Wir würden früher oder später ja sowieso in der Küche stehen, um die Kinder zu versorgen. Da könnten wir uns die Mühe gleich sparen. Geschenkt gäbe es bei ihm nichts, auch wenn wir unsere Reize einsetzten. Dieser Bullshit hatte sich durch das ganze Semester gezogen und liegt jetzt in der Vergangenheit. Im Club haben wir alles hemmungslos tanzend von uns abgeschüttelt. Die langen Stunden des Lernens, die Frustration über die sexistischen Bemerkungen und die Benachteiligungen in Kolloquien und Praxistests. High von unserer eigenen Energie lassen wir den Kommilitonen abblitzen, der uns hartnäckig Drinks spendieren will. Als er immer aufdringlicher wird, beschließen wir die Nacht zu beenden. Auf dem Heimweg klammern wir uns aneinander, damit unsere Schlangenlinien nicht zu ausgeprägt werden. Dann sind wir an der Kreuzung, an der Sandy abbiegen muss. Nach ein paar Häusern spüre ich ein mulmiges Gefühl. Ist da jemand hinter mir? Ein paar unauffällige Kontrollblicke später, bin ich mir sicher, dass ich einen Verfolger habe. Zu diesem Zeitpunkt hat das Adrenalin meinen Schwips neutralisiert. So spät ist in dieser Gegend kaum mehr jemand unterwegs. Als neben mir ein alter Mann aus einem Hauseingang kommt, biege ich spontan ab und husche in das Gebäude, bevor die Türe ins Schloss fallen kann. Ich werde im Schatten abwarten, bis der Fremde weg ist und dann nach Hause gehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass der automatische Schließer kaputt ist. Fassungslos sehe ich zu, wie mein Verfolger die Tür aufzieht. Mein Fluchtinstinkt führt mich ins Treppenhaus.

    Weiter reichen meine Erinnerungen nicht. Mein Lebensretter sollte vermutlich nur abstürzendes Baumaterial auffangen, zur Sicherheit der Fußgänger 20 Meter tiefer. Mit mir ist das Fangnetz zunehmend überlastet. Zum Klang meiner Hilfeschreie und vermutlich wegen meiner Versuche das Netz in Richtung Dachkante hochzuklettern, reißen die letzten kritischen Halterungen und ich stürze ins Ungewisse.


    Geschafft! Nach wochenlangem Abwägen des Für und Widers habe ich es durchgezogen. Ich habe das Netz gekappt. Kein Insta, kein Snapchat, kein TikTok, kein Fernseher. Was jetzt kommt ist ungewiss.

    Ins Netz gegangen


    Es war ein herrlicher Morgen, als Jeff, seines Zeichens eine Schmeißfliege, hektisch zwischen hohen Grashalmen hindurch flog, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Nicht auszudenken, wenn er zu spät käme. Also flatterte er mit den Flügeln, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

    Doch dann wurde er mit einem Mal rüde gestoppt. Mit einem Mal war da ein Netz. Klebrig und eng gewoben. Ein Tropfen Morgentau hatte sich darin gesammelt und fiel zu Boden, als sich Jeff in den klebrigen Maschen verfing.

    Verdammt, dachte er. Das Zeug ist wirklich so ekelhaft, wie man sagt.

    Für einen Moment herrschte Stille. Dann löste sich ein Schatten aus dem Dickicht eines nahen Strauches. Eine fette Kreuzspinne kam mit mahlenden Mundwerkzeugen auf ihn zu gekrochen. In ihrem Blick lag Gier.

    „Halt. Komm nicht näher!“ rief Jeff mit Panik in der Stimme.

    „Aber, aber. Wie unhöflich. Wo ich dir doch nur Gesellschaft leisten möchte.“ sagte die Spinne und kicherte.

    „Du willst mich fressen. So wie den Grashüpfer Archibald, der neulich spurlos verschwand.“

    „Wer sagt denn, dass ich dahinter stecke?“ fragte die Spinne und musterte ihn aus Acht Augen.

    „Er brach in diese Richtung auf. Oh Gott. Jetzt wird mir alles klar.“ schluchzte Jeff. „Du Mörderin!“

    „Es ist nun einmal meine Natur.“ sprach die Spinne und rückte noch näher.

    „Du gibst es also zu?“ fragte Jeff zitternd.

    „Natürlich. Und du bist der nächste.“ Die Spinne kicherte erneut.

    Schweigen breitete sich aus. Dann fing Jeff an, zu lachen.

    Die Spinne hatte gerade zubeißen wollen. Doch nun hielt sie verwundert inne und betrachtete die lachende Fliege. „Was findest du am Tod so lustig?“

    „Du hast dich verraten, du dumme Spinne.“ sagte Jeff und hörte mit einem Mal auf zu lachen. „Und deshalb bist du nun vorläufig Festgenommen. Dir wird der Mord am Grashüpfer Archibald vorgeworfen.“

    In diesem Moment tauchten zwei mächtige Hornissen auf, die mit einem tiefen Brummen aufs Spinnennetz zuhielten. Spitze Giftstachel zuckten, bereit zuzustoßen. Die Spinne wurde bleich. Denn sie wusste, dass die Hornissen vom Kommissariat in der Baumhöhle kamen. Schwer bewaffnete, geflügelte Bullen.

    Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit acht erhobenen Armen zum Boden herabzulassen, wo sie festgenommen wurde.

    „Gute Arbeit, Kommissar!“ rief eine der Hornissen.

    „Danke.“ antwortete Jeff und beobachtete zufrieden, wie die Spinne abgeführt wurde. Kurz darauf herrschte wieder Frieden auf der Wiese. Die Mörderin befand sich in Gewahrsam und die Ermittlungen waren abgeschlossen.

    Es ergab sich nur ein Problem, wie Jeff mit einem Mal bewusst wurde.

    „He! Hört mich Jemand? Die Kollegen haben vergessen, mich aus dem Netz zu befreien!“

    Im Netz


    Sie hatte keine Angst. Diese Art von Operationen am Gehirn wurden im Wachzustand durchgeführt, unter örtlicher Betäubung, um das Implantat direkt testen zu können. Der Gedanke war gruselig, aber sie hatte schon so lange auf diese OP gewartet. Endlich war sie alt genug, ihr Hirn und Körper reif genug, um ein direktes Interface zum Web zu erhalten!


    Eine leichte Narkose wurde eingeleitet, und gehorsam zählte sie von zehn an rückwärts. Als sie wieder zu sich kam, sah sie einen der Assistenzärzte vor sich. „Das Implantat ist eingesetzt und verbunden. Wir testen jetzt die Funktionsfähigkeit. Bitte denken sie an ein Portal.“ Portale waren die Zugänge ins Web. Information, Kommunikation, Vergnügen, Shopping – alles startete dort.


    Ihre Augen schlossen sich. Ein Raum voller Torbögen breitete sich vor ihr aus, jeder mit einer Aufschrift und einem Symbol. „Kommen sie in den Community Raum.“ Sie durchschritt das entsprechende Tor und erhielt direkt die Meldung, dass jemand auf sie wartete. Nach der Annahme der Besprechungsanfrage fand sie sich in einem virtuellen Raum mit dem Assistenzart wieder. „Hallo Angela! Das hat schon sehr gut funktioniert. Bitte mache jetzt die Bewegungen nach, die ich dir zeige.“ Folgsam ging sie durch den Raum, hüpfte, hob die Arme, spreizte die Finger, zog Grimassen. Sie konnte die Bewegungen fühlen und lachte freudig auf. Es fühlte sich großartig an!


    „Jetzt schließen sie bitte die Augen. Ich werde sie mit diesem Stab an verschiedenen Stellen berühren, und sie sagen mir dann, wo sie die Berührung wahrnehmen.“ Auch diesen Test bestand sie.


    „Die Integration des Implantats ist erfolgreich. Jetzt testen wir noch die Steuerung.“ Ein Gedanke, schon stand sie wieder im Portalraum. Ein weiterer, und sie scrollte durch ihre Social Media Accounts. Dann startete sie einen Film im Kinomodus. Mit VR Brille ein Erlebnis – mit Implantat überwältigend! Auch das Aufrufen eines Spiels funktionierte ohne Probleme. Suchmaschine und Onlineshop ließen sich starten und bedienen, sie konnte dreidimensionale Screenshots machen, Webseiten und Videos durchstöbern


    Zuletzt begab sie sich in eine digitale Entspannungslounge. Da gab es eine blühende Sommerwiese mit vereinzelten Bäumen, über die ein lauwarmer Sommerwind strich. Im Schatten der Bäume lagen Leute, die sich leise unterhielten, ein Buch lasen oder ein Nickerchen machten. Wer wollte, konnte mit unsichtbaren Trennwänden für Sicht- und Lärmschutz sorgen und so auch romantischeren Aktivitäten nachgehen.


    Ein weiterer Bereich bot einen endlos langen Strand mit Palmen, Hängematten, weichem Sand und tiefblauem Wasser. Hier war es wärmer, aber im Web gab es weder Schweiß noch Sonnenbrand.


    Wen es nicht in die Sonne zog, der konnte sich eine Kaminlounge buchen, mit prasselndem Feuer und kuscheligen Decken auf der Sofalandschaft. Hinter den virtuellen Fenstern tobte ein lautloser Schneesturm.


    Für die Puristen, die komplett abschalten wollten, gab es die Wolke: Ein Bereich gefüllt mit zartgrünem Nebel, in dem nur noch Umrisse erkennbar waren. Hier schwebten die Besucher in Schwerelosigkeit, bei angenehmer Temperatur und in völliger Stille. Eine Isolation von Hektik und Reizüberflutung der modernen Zeit.


    Sie brauchte keine Isolation, im Gegenteil. „Alles funktioniert einwandfrei!“, meldete sie zurück. „In Ordnung, dann machen wir jetzt zu.“, kam die Bestätigung. Sie versank wieder in Schwärze …


    Als sie aufwachte, standen ihre Eltern an ihrem Bett. „Hat es funktioniert? Bist du online völlig gesund?“ „Ja, Mama. Triff mich im Community Bereich.“ Sie schloss die Augen.


    Und dann waren sie da. Alle zusammen, mit Tränen in den Augen. Und sie konnte sie in die Arme schließen und fest an sich drücken, zum ersten Mal seit drei Jahren, seit dem Unfall, bei dem ihr Halswirbel gebrochen war und der sie vom Hals an abwärts gelähmt hatte.

    Der Stockfisch


    »Hast du den Ofen angelassen?«

    Jenny schnüffelt demonstrativ in der Abendluft. »Irgendwas riecht hier angebrannt.«

    Neben ihr stöhnt Britta. »Hab's dreifach gecheckt. Alles, was nicht allein klarkommt, habe ich ausgeschaltet oder ausgezogen.«

    »Sicher? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl …«

    »Ja-ha, ich bin sicher.«

    Jenny bleibt stehen. »Hast du das gespürt? War das ein Erdbeben?«

    Augenrollend dreht sich ihre beste Freundin zu ihr um. »Jetzt reicht’s aber! Wir haben an alles gedacht. Alles ist aus, zu und abgesperrt. Es wird keinen Notfall geben, der dich rettet, also hör auf zu nerven und ergib dich deinem Schicksal.«

    Jenny verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich will aber nicht!«

    »Du weißt schon, was es heißt, wenn dein Chef sagt, die Teilnahme ist obligatorisch, oder?«

    »Du weißt schon, was Stresspickel aus der Hölle sind, oder? Die werde ich nämlich kriegen, wenn ich da wirklich hingehe.«

    Brittas Blick wird weicher. »Ich weiß, dass du Menschenmengen hasst. Wir müssen nicht lange bleiben. Wir drehen nur kurz eine Runde, damit deine Kollegen dich sehen, und dann hauen wir ab. Klingt doch nach ‘nem Plan.«

    Jenny seufzt. »Keinem guten.«

    Britta hakt sich bei ihr ein und zieht sie liebevoll den Gehweg entlang. »Es ist leider der Einzige, den wir haben. Also, Augen zu und durch.«

    »Du hast leicht reden. Du wirst nicht zum Spott deiner Firma.«

    »Du auch nicht. Lächle einfach und lass die anderen quasseln.«

    »Wenn das nur funktionieren würde … Normale Introvertierte kommen damit vielleicht durch einen unangenehmen Abend. Aber ich bin ein Härtefall. Wenn ich in Konversationen verwickelt werde, schmilzt mein Gehirn. Ich verliere die Kontrolle über meine Gesichtszüge und meine Zunge. Ich bin dann kein Mensch mehr, sondern ein Stockfisch.«

    Britta zieht die Augenbrauen zusammen. »Du wirst ausgeweidet, kopflos und geräuchert an jemand anderen gebunden und über einen Stock gehängt?«

    Jenny wirft ihr einen strafenden Blick zu. »Natürlich nicht. Ich meinte -«

    »Na sieh mal einer, guck. Wenn das nicht unsere liebe Frau Hansen ist.«

    Ein süffisant grinsender Anzugträger kommt auf die beiden zu.

    Jenny verkrampft und bleibt abrupt stehen. »Herr Brockhauser. N’abend auch.«

    Er kichert. »Da hat wohl einer Schiss vor einer weiteren Abmahnung gehabt, hm?«

    Brockhauser wendet sich an Britta. »Sie sind also schuld, dass Frau Hansen es diesmal zur Veranstaltung geschafft hat. Mutig, sich hier mit ihr sehen zu lassen.«

    Britta funkelt ihn finster an. »Die Meinung von anderen interessiert mich nicht.«

    Brockhauser hebt abwehrend die Hände. »Schön für Sie. Ich wollte Sie nur warnen, dass da drin einige viel verloren haben.«

    »In der Evolutionslotterie?«

    »Nein, Babes, bei der Firmenwette. Manche haben ihr Spitzengehalt darauf gewettet, dass Frau Hansen nicht auftaucht.«

    »Na, dann lassen wir unsere Fans nicht warten.«

    Britta nimmt Jenny an die Hand und zieht sie ins Bürogebäude, der Beschilderung zum ›Net(t)-Working-Event‹ folgend.

    Vor dem Ziel angekommen, richtet sie das Wort an Jenny. »Du schaffst das. Zeig diesen Ekelpaketen da drin, dass du eine netzwerkende Superbiene bist.«

    Jenny guckt sie zweifelnd an, sagt aber nichts zu dem hinkenden Vergleich. Sie atmet tief durch und öffnet die Tür zum Konferenzsaal.


    Was folgt, ist die längste Stunde ihres Lebens. Wie sich herausstellt, hat der Chef durch ihr Auftauchen am meisten Geld verloren. Während sie sich steif wie ein Stock und stumm wie ein Fisch durch die Konversationen mogelt, folgt er ihr auf Schritt und Tritt; mit Blicken über ihre Unfähigkeit urteilend. Ein kräftezehrender Akt.

    Doch die Belohnung folgt am Montag darauf. Alle Kollegen in ihrer Abteilung machen einen großen Bogen um sie und sie kann die sechs Monate bis zum Ende ihrer heute beginnenden Kündigungsfrist in Ruhe abarbeiten.

    Der Fluch der Postmoderne


    Besorgt schaute Ansgar auf die Monitore. Die Spannung fiel ab, ungewöhnlich rapide und ungewöhnlich langanhaltend. Natürlich gab es ständig Schwankungen, dafür überwachten Ansgar und seine Kollegen rund um die Uhr alles. Doch dass die Spannung so lange so schnell abfiel, hatte Ansgar noch nie erlebt. Warum wurde das nicht abgefangen? Eigentlich hätten längst automatisch schnell verfügbare Erzeuger zugeschaltet werden müssen!

    Doch die Kurve zeigte steil nach unten, war längst im Warnbereich. Wenn es so weiterging, würde bald die Stabilität des Stromnetzes nicht mehr gewährleistet sein.

    Weil die automatischen Routinen überfordert schienen, rief Ansgar die Details ab, um manuell gegenzusteuern. Verflixt, was war das? Der Verbrauch bewegte sich im üblichen Bereich, aber die Einspeisung sank massiv. Nicht nur ein Erzeuger, nein, alles, was an die zentrale Steuerung angeschlossen war, ging kontinuierlich nach unten. Wie konnte das sein?

    Dazu stand das Stromnetz der Stadt nicht für sich allein, es war vielfach verknüpft mit den benachbarten Netzen. Hätte nicht längst ein Ausgleich stattfinden müssen? Schließlich bedrohte der Vorfall den gesamten Verbund, im schlimmsten Fall würde es eine Kettenreaktion geben und beizeiten das halbe Land im Dunklen sitzen.

    Ansgar griff zum Telefon. Was hier passierte, war eine Nummer zu groß für ihn, die Entscheidungen, die es brauchte, musste sein Vorgesetzter treffen. Ehe er wählen konnte, klingelte der Apparat, und sein Chef ließ ihm keine Zeit, sich dienstlich korrekt zu melden. „Wir haben ein Problem!“, unterbrach er. In der Stimme lag ernste Besorgnis. „Und nicht nur wir. Rundrum auch.“

    Das erklärte, warum nicht gegengesteuert wurde: Wenn die umliegenden Netze dasselbe Problem hatten, konnten sie natürlich nichts abgeben, um die Spannung auszugleichen.

    „Wir sind wohl gehackt worden“, sagte der Chef, gerade als Ansgar durch den Kopf ging, dass so etwas mutwillig herbeigeführt worden sein musste. „Überall werden alle Erzeuger abgeregelt.“

    Das hätte Ansgar eigentlich auf dem Monitor sehen müssen, doch die Verantwortlichen, wenn es wirklich welche gab, hatten es geschafft, so im Hintergrund zu wirken, dass die Vorgänge nicht angezeigt wurden.

    „IT-Spezialisten sind schon dran, das wieder unter Kontrolle zu kriegen“, berichtete sein Chef. „Aber wir haben nur eine Stunde, höchstens.“ Das war nach Ansgars Dafürhalten schon die denkbar optimistischste Annahme. Wenn man irgendwie ein paar Erzeuger an der Steuerung vorbei ins Netz brachte, um Zeit zu gewinnen … Aber das konnten nur ältere, kleine Anlagen sein, die modernen waren zu fest in die Steuerungsmechanismen eingebunden. Wenn dann mit Einbruch der Dunkelheit auch noch die vielen kleinen Solaranlagen wegfielen, war der Ofen aus.

    Plötzlich hatte Ansgar eine Idee. Alte Anlagen – klar doch! „Schicken Sie jemanden her, der hier übernimmt!“, forderte er seinen Chef auf. „Aber …“, wandte der ein, doch Ansgar hatte es nun viel zu eilig. „Dauert zu lange, das alles zu erzählen“, unterbrach er. „Und wenn’s schiefgeht, wissen Sie besser von nichts.“

    Damit legte er auf, griff in eine Schublade, die er selten öffnete, und rannte aus dem Überwachungsraum. Raus auf den Parkplatz, Sekunden später jagte er auf quietschenden Reifen durch die Stadt. Eine Viertelstunde, in halsbrecherischem Tempo, aber alles ging gut.

    Schlitternd kam der Wagen auf einem Hügel über der Stadt vor einem alten Maschendrahttor zum Stehen. Ansgar schloss auf und lief bis zu einem kleinen Maschinenhaus. Hier war schon ewig niemand mehr gewesen, und er konnte nur hoffen, dass die veraltete Technik noch funktionierte.

    Er bediente einige Regler und legte dann die Hand auf einen wuchtigen Hebel. Durfte er …? Wenn das schiefging … Aber es war die einzige Chance. Entschlossen drückte er den Hebel nach unten und ließ das alte Pumpspeicherkraftwerk anlaufen, das vor 20 Jahren außer Dienst gestellt worden war und nun hoffentlich den Blackout lange genug verhindern würde.

    In der Übersicht werden drei Beiträge gelistet, doch im Postfach sind nur vom 31.März und 7.April Beiträge. Nichts vom 29.März, und da ist auch nichts bei den gesendeten PNs im Postfach von Schreibwettbewerb. Hat jemand versehentlich etwas gelöscht oder wurde ein Beitrag direkt an jemanden von uns geschickt?


    R. Bote ?