'Deutsches Haus' - Seiten 309 - Ende

  • Gar nicht.

    Können sie nicht, müssen sie nicht, sollen sie nicht.

    Das ist es , was ich mit Absolution erhalten meinte. Der Friseur hat sie ihr verweigert, indem er Evas Opfer zurückweist.

    Ja eben, wie sollen sie, es gibt keine Erlösung, keine Entschuldigung oder Absolution, nichts. Auch das muss man aushalten als Nachkomme, sofern man überhaupt Fragen stellt.

  • Aber warum muss man das aushalten? Ich kann ja absolut gar nichts dafür, wie meine Großeltern/Eltern oder sonst wer je gehandelt haben. Ich finde nicht, dass wir dafür gerade stehen müssen, was damals passiert ist. Etwas anderes ist die heutige Zeit, da kann man handeln.

  • Und gerade weil man ja damals nicht handeln konnte, auch wenn Großeltern oder Eltern es taten, muss man es aushalten. Für mich fühlt es sich halt so an, sicher geht jeder auch anders damit um. Und Eva ist ja eine direkt Betroffene. Ihre Eltern waren sogar im Lager. Auch wenn sie Angst um ihr und ihrer Kinder Leben hatten, hätten sie etwas tun können. Anderswo Arbeit suchen, Leute informieren, es gab sicher Möglichkeiten ohne sich direkt selbst zu gefährden.


    Was nun Jürgen und Eva angeht, nachdem er seinem Vater erzählt hat, dass er einen GI getötet hat, scheint er sich zu erholen. Vielleicht geht er ja auch mit Eva anders um.


    Annegret wird nun also von ihrem Doktor ertappt und geht gezwungenermaßen mit ihm mit. Er hält die Sache geheim, was ja nicht gerade für ihn spricht. Allerdings war es etwas befremdlich, wie die Autorin ihren zukünftigen Weg beschreibt. Es klingt so herablassend, wo Annegret sicher mehr psychische Probleme hat als Eva oder ihre Eltern. Stefan weiß ja absolut nichts über diese Zeit und Begebenheit.

  • Aber warum muss man das aushalten? Ich kann ja absolut gar nichts dafür, wie meine Großeltern/Eltern oder sonst wer je gehandelt haben. Ich finde nicht, dass wir dafür gerade stehen müssen, was damals passiert ist. Etwas anderes ist die heutige Zeit, da kann man handeln.

    Ich denke, in diesem Fall muss Eva das aushalten, weil sie diese Schuld empfindet. Sonst kann sie nie damit abschließen oder damit klarkommen. Es ist wichtig für die Verarbeitung des Ganzen, der Schmerz und dass sie es versucht hat, sich gestellt hat.

    Ich denke nicht, dass wir dafür gerade stehen mussen, was die Generation unserer Eltern unterlassen oder getan hat. Wie sollte das auch gehen? Aber ich finde es wichtig, sich bewusst zu werden und nicht zu vergessen.

  • So viel Schuld der verschiedensten Art, so viele Konflikte, und nie wird plakativ der Zeigefinger erhoben und gewertet. Die Wertung überlässt die Autorin ganz uns, den Lesern. So wirkt das Buch mit Sicherheit länger nach.

    Ein wahnsinnig toller Erzählstil. Das hat mir wirklich sehr gefallen und wie Du sagst, klingt es lange nach, weil man sich Gedanken darüber macht. Hab es auch mit meinem Mann schon mehrmals besprochen, was in dem Buch so alles geschildert wurde.



    Ich habe mich geirrt ganz zu Anfang, als ich dachte, dass Eva und David igendwann ein Paar würden.

    Ich entschuldige mich bei der Autorin, dass ich ihr so etwas zugetraut habe

    Ja, da waren wir beide auf der falschen Spur - auch wenn es tatsächlich zu einer Nacht zwischen den beiden kan. Also so ganz lagen wir nicht falsch, dass es eine Anziehung gab. Aber dass David dann sang- und klanglos verschwindet und dass Eva ja ihren Jürgen liebt, damit hatten wir natürlich so nicht gerechnet. ;)

    Aber um so besser, wie die Geschichte sich dann wirklich entwickelt hat. So ohne Klischees zu bedienen und so menschlich und realistisch.

    Ihren Eltern kann Eva diese Vergebung nicht anbieten, nicht wirklich. Ich glaube, dass die Frage, warum sie das zulassen, dulden, mitlaufen konnten, sehr lange in ihr bleiben wird.


    Nicht jeder kann ein Held sein, manche auch nicht mal im Kleinen.

    Die Frage, warum es so viele gab, die Mitläufer waren oder geschwiegen haben, die beschäftigt ja schon lange die Menschen. Aber so ist der Mensch halt oft gestrickt. Wegschauen, Augen zu machen, erdulden, mit der Masse mitlaufen und sich fürchten. :rolleyes:



    Noch vergessen:

    Evas Reise auf der Suche nach dem Friseur in Polen, der ihr mit der Brennschere die Narbe auf ihrem kindlichen Kopf hinterlassen hat, fand ich etwas viel, aber für sie vielleicht der einzige Weg, der ihr einfiel um Buße zu tun. Und sie biete ihr Haar an, will es geschoren bekommen wie die Häftlinge damals. Der Friseur verweigert das, denn so funktioniert Vergebung nicht. Sie kann nur gewährt werden, nicht erlangt.

    Darüber muss ich noch etwas nachdenken...

    Das war mir auch zu plakativ und hätte ich so nicht gebraucht.

    Hollundergrüße :wave




    :lesend








    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Eva ist sicher viel zu sehr in die Unsicherheit, die Enttäuschung über das Verhalten der Eltern, ihr eigenes Entsetzen verstrickt.

    Um so etwas zu verarbeiten braucht es Zeit und am besten die Möglichkeit, mit jemand zu sprechen.


    Es gibt auch nichts, was ihr verziehen werden müsste. Niemand kann etwas für die Zeit und die Familie in die er oder sie geboren ist.

  • Gerade ihm als Arzt sollte doch bewusst sein, dass es bei einer solchen Störung nicht mit etwas Liebe getan ist.

    Das ist ihm sicher klar. Aber er hat sie jetzt ja quasi in der Hand und sie muss ihn heiraten und kann so nicht weitermachen. Und ihre Taten sind ja Anzeichen einer psychichschen Erkrankung und mit so etwas ging man ja damals noch ganz anders um. Die beiden sind ein unangenehmes Pärchen, finde ich und passen eigentlich eher in einen Krimi als in dieses Buch. Auch die Erzähung, wie es mit ihnen weiterging, fand ich seltsam und hätte ich nicht gebraucht.

    Hollundergrüße :wave




    :lesend








    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Das ist es , was ich mit Absolution erhalten meinte. Der Friseur hat sie ihr verweigert, indem er Evas Opfer zurückweist.

    Vielleicht hätte er ihr Absolution gegeben aber nicht auf die Art, die sie sich vorstellte. Es war für ihn wohl doch eher ein Hohn. Als wäre das Haare schneiden genug. Als wäre es passend, wenn Eva als eine Art "Märyrerin" nun ebenfalls kahlgeschoren wäre. Dass die Tochter eines "Mitläufers" sich jetzt die Haare scheren lassen wollte. Diese Art von Abbitte fand ich völlig fehl am Platz (auch wenn sie es für sich als nötig empfunden hat). Dann hätte der Friseur ihr ja angetan, was vorher die Nazis den Opfern angetan hatten. Das wollte der Friseur auf keinen Fall. Sich mit denen gleichsetzten. Genauso wenig, wie Eva sich mit den Opfern gleichsetzen kann.


    Aber auch wenn ich Eva hier nicht folgen konnte, so war es doch eine gute Szene, da sie auch das Dilemma zeigt, welches die nachfolgenden Generationen haben. Soll man um Verzeihung bitten und etwas zur Buße anbieten? Oder wie soll man mit den Opfern umgehen, wie ihnen Kund tun, was man empfindet?

    Hollundergrüße :wave




    :lesend








    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muß, was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Ich bin so positiv überrascht von diesem Buch!


    So viel Schuld der verschiedensten Art, so viele Konflikte, und nie wird plakativ der Zeigefinger erhoben und gewertet. Die Wertung überlässt die Autorin ganz uns, den Lesern. So wirkt das Buch mit Sicherheit länger nach.

    :writeDas finde ich auch! Am besten gefällt mir, dass die Autorin nicht wertet, sondern nur beschreibt. Und viel Raum lässt: für eigene Fragen und die Antworten darauf.


    Außerdem finde ich, dass ganz unterschiedlichen Seiten und Perspektiven gezeigt werden. Dabei geht es für mich immer weniger um die Ausschwitz-Prozesse, sondern der Umgang der Kriegskinder mit dem Erlebten.


    Vor diesem Hintergrund passt für mich auch Annegrets Geschichte sehr gut dazu. Auch sie ist Kind ihrer Zeit und ihre Handlungen sind sicher auf ihre Erlebnisse zurückzuführen. Es stimmt, man erfährt gar nichts über ihre Kindheitserlebnisse und wenig über ihr Gefühlsleben, aber für mich reicht es, um mir eine schlüssige Geschichte daraus zu "basteln". Mehr würde wohl auch den Rahmen sprengen, schließlich ist sie "nur" die Schwester der Hauptperson.


    Ich weiß gar nicht, ob er sich klar darüber ist, bei wie vielen Baby Annegret das durchgezogen hat. Ihm gegenüber spricht sie ja nur von diesem einen Mal, als er sie erwischt hat. Sie beteuert auch, dass sie mit dem Kleinen der stirbt nichts zu tun hatte.

    Da muss ich dann doch wiedersprechen :grin (S. 336): ... und Annegret hatte gestanden, dass sie in den letzten fünf Jahren 19 männliche Säuglinge und Kleinkinder auf verschiedenen Wegen mit Kolibakterien infiziert hatte, um sie gesund pflegen zu können. Ich glaube ihr sogar, dass sie Martin Fasse nicht infiziert hat. Das würde nicht zu ihrem Schema passen, nur kräftige Kinder auszuwählen, die in dem Moment keine andere Betreuungsperson haben. (Glaube halt an das Gute im Menschen ;)). Allerdings hat sie sicher trotzdem eine indirekte Mitschuld, weil ja durch ihr Tun die (sehr) ansteckenden Kolibakterien im Umlauf waren.


    Vielleicht hilft es ihr ja, einen liebenden Menschen um sich zu haben, dem sie sich - hoffentlich - auch irgendwann öffnen kann. Auf alle Fälle ist es gut, dass sie aus ihrem bisherigen Umfeld hinauskommt. Trotz der "Zukunftsaussicht" (die ich auch sehr unpassend fand - vor allem passt es überhaupt nicht zum Rest) schweigt sich das Buch darüber aus. Für mich hätte Annegret wesentlich mehr Grund, auf ihre Eltern sauer zu sein, als Eva.


    Den randalierenden Punk als Sohn, also den Konflikt des Schweigens über die Erlebnisse so weiter in die nächste Generation getragen, fand ich aber im Ansatz gut. Das ist auch ein wichtiges, aktuelles Thema, mit dem sich in psychischer Hinsicht viele in den Nachfolgegenerationen immer noch herumschlagen müssen.

    Das ist ein interessanter Gedanke, auf den ich überhaupt nicht gekommen wäre. Dann würde dieser Ausblick zumindest noch etwas Sinn ergeben. Wobei es natürlich auch viele, viele andere Gründe für sein Aufbegehren geben wird.


    Auch Davids Geschichte wird ja nur sehr ansatzweise in wenigen Sätzen erzählt. Und trotzdem können wir uns seinen Werdegang vorstellen. Auch jemand, der Schuld empfindet, wo es objektiv überhaupt keine Schuld zu empfinden gibt. Aber so einfach ist eben das Leben und die menschlichen Gefühle nicht.


    Das ist eben auch bei Eva so. Sie empfindet Schuld, auch wenn sie keine hat.

    .... so war es doch eine gute Szene, da sie auch das Dilemma zeigt, welches die nachfolgenden Generationen haben. Soll man um Verzeihung bitten und etwas zur Buße anbieten? Oder wie soll man mit den Opfern umgehen, wie ihnen Kund tun, was man empfindet?

    Das ist die große Frage, die für mich der Roman stellt: Wie sollen wir, also alle Nachgeborenen, mit der Schuld unserer Ur-, Groß-, Eltern umgehen. Natürlich ist es eine Möglichkeit zu sagen, wir können nichts dafür - aber das ist doch zu einfach.


    Dazu ein persönliches Erlebnis:


    Vor einigen Wochen waren wir Samstag Vormittag in Pilsen (Tschechien). Die Stadt bereitete sich zufällig auf das an diesem Wochenende stattfindende Amerikanische Befreiungsfest vor. Seit der Wende wird dabei jährlich an einem Wochenende die Befreiung Pilsens durch die Amerikaner gedacht und auch gefeiert. Die Stadtführerin hat uns erklärt, dass dazu viele Konzerte mit damaliger Musik, eine Parade mit Uniformen und Kleidung der damaligen Zeit ... stattfinden, ehemalige Soldaten als Ehrengäste kommen usw. usw. In der ganzen Stadt sah man schon Camps und verkleidete Personen. Ein großes Event. Ich hatte da durchaus gemischte Gefühle: zum einen fand ich diese Art von Erinnerung und Gedenken super - ganz anders als unsere doch sehr trockenen Volkstrauertage, die keine jungen Leute ansprechen. Daneben fand ich es auch sehr interessant. Aber es war auch beklemmend, wenn ich daran dachte, dass sie die Befreiung von uns Deutschen feiern. Nein, ich kann überhaupt nichts dafür, aber es war mein Volk, dass das ganze Leid verursachte. Durchaus zwiespältig also.


    Ja eben, wie sollen sie, es gibt keine Erlösung, keine Entschuldigung oder Absolution, nichts. Auch das muss man aushalten als Nachkomme, sofern man überhaupt Fragen stellt.

    Deswegen kann ich hier Findus auch zustimmen. Eva (und wir mit ihr) müssen die Historie aushalten. Zum Glück wird es immer leichter, je mehr Zeit vergeht.


    Deswegen war wohl für Eva auch die Reise nach Warschau wichtig, um genau das zu erkennen. Und vielleicht - hoffentlich! - kann sie sich auch irgendwann ihren Eltern wieder annähern. Verzeihen kann (und muss) sie ihren Eltern nichts - dafür ist sie die falsche Person.


    Auch das Ende finde ich wirklich gut. Kein Happy-End. Kein Friede, Freude, Eierkuchen.

    Ja, aber durchaus versönlich. :) Dass sich Jürgen und Eva wieder annähern war auch für mich eine große Überraschung, aber es ist gut so. Beide sind an den Geschehnissen gereift und haben vielleicht jetzt die Chance, eine gleichberechtigte Partnerschaft zu leben.


    Ein sehr starkes Buch und ich bin sehr froh, dass ich es (mit euch) gelesen habe, auch wenn ich etwas hinterhergehinkt bin. :kiss

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Da muss ich dann doch wiedersprechen (S. 336): ... und Annegret hatte gestanden, dass sie in den letzten fünf Jahren 19 männliche Säuglinge und Kleinkinder auf verschiedenen Wegen mit Kolibakterien infiziert hatte, um sie gesund pflegen zu können. Ich glaube ihr sogar, dass sie Martin Fasse nicht infiziert hat. Das würde nicht zu ihrem Schema passen, nur kräftige Kinder auszuwählen, die in dem Moment keine andere Betreuungsperson haben. (Glaube halt an das Gute im Menschen ). Allerdings hat sie sicher trotzdem eine indirekte Mitschuld, weil ja durch ihr Tun die (sehr) ansteckenden Kolibakterien im Umlauf waren.

    Erwischt=O

    Da war ich wohl mal wieder einen Moment unaufmerksam.

  • Für mich hat es keine große Bedeutung, ob sie auch an der Erkrankung des kleinen Martin schuld war. Sie hat wehrlosen Kindern Bakterien eingeflößt und ihren Tod in Kauf genommen.

    Bedingter Tötungsvorsatz heißt so etwas wohl bei den Juristen.

    Es ist reines Glück, dass nicht noch viel mehr Kinder gestorben sind.