'Die Wahrheit über Metting' - Seiten 217 - 287

  • Intermezzo, so würde ich den Abschnitt beschreiben.


    Es passiert nicht viel, Tom hat einen Lebenslauf hinter sich, der eigentlich unbedeutend ist. Er war viel unterwegs, hat verschiedenes gearbeitet, aber hat er auch gelebt? Seine Beziehungen haben meist nicht lange gehalten, wie man seinen Gedanken entnehmen kann, sie gingen wohl, wie auch jetzt bei Matti, nicht tiefer. Wieso sonst, wäre ein Mann seines Alters noch ohne Familie?

    Er ist immer noch auf der Suche. Vermutlich nach Filip. Nachdem er Matti spontan seine Lebensgeschichte erzählt hat, wird es ihm bewusst, dass da noch etwas ist, etwas unerledigtes. Der Buchladen, in dem er arbeitet wird verkauft, Matti zieht nach Oslo, also sind die Weichen gestellt. Er kehrt, erwartungsgemäß, zurück nach Metting.

  • Hier spart sich Tom 30 Jahre auszuführen, die ich durchaus spannend gefunden hätte:

    Wie hat es Tomás geschafft, sich ganz allein durchzubringen? Warum war sein erstes Ziel ausgerechnet Pforzheim? Hat er einen Schulabschluss machen können? Konnte er vielleicht sogar studieren? Warum ist er so oft umgezogen? Wie war sein Verhältnis zu gebährfähigen Frauen? Hat es ihn abgeschreckt sich zu binden und eine eigene Familie zu gründen?


    Zumindest hat er seinen Traum, in einer Buchhandlung zu arbeiten, wo er seine bevorzugten Bücher empfehlen konnte, einen kurzen Zeitraum lang erfüllen können. Die Enttäuschung, dass er diesen nicht weiter ausbauen konnte ist offensichtlich.


    Dass er seine Lebensgeschichte an das Ende seiner Beziehung mit Matti setzt ist bezeichnend. Das dient nicht dazu, eine Bindung zu vertiefen, sondern so wie man Fremden oder Reisenden etwas Intimes anvertraut, ist es dazu gedacht das Belastende wegzugeben, damit es mit dem Zuhörer verschwindet.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Dass er seine Lebensgeschichte an das Ende seiner Beziehung mit Matti setzt ist bezeichnend. Das dient nicht dazu, eine Bindung zu vertiefen, sondern so wie man Fremden oder Reisenden etwas Intimes anvertraut, ist es dazu gedacht das Belastende wegzugeben, damit es mit dem Zuhörer verschwindet.

    Das ist ein guter Gedanke, aber ich persönlich sehe es eher so, dass er sich Matti gegenüber plötzlich öffnet, seine Beziehung zu ihr vorher eher vage, unpersönlich wäre zu wenig aber unverbindlich, ja,und vielleicht spürt er ja, dass das Matti zu wenig war. Er will ihr sagen, warum er so geworden ist, keine richtigen Gefühle entwickeln kann, weil alles, wofür ein etwas empfand. wurde ihm weg genommen. So scheute er sich vermutlich, je eine echte Verbindung einzugehen.

  • Nach meinem Eindruck hat eher Matti diese Beziehung nicht enger haben wollen. Sie mag nicht Händchenhalten oder Kuscheln nach dem Sex und behält ihre eigene Wohnung. Und Kinder plant sie lieber mit einem, der weit weg ist!

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Vielleicht ist das auch nur wegen der unbewussten Signale, die Tomás sendet? Sie hält Abstand, damit er seinen Freiraum hat? Man kann auch jemanden an sich binden, indem man sich rar macht und allzu große Nähe vermeidet.

  • 30 Jahre, die einfach so ins Land gingen, ohne etwas bleibendes zu hinterlassen - außer Spuren. Ob das positiv oder negativ ist, ist ja jedem selbst überlassen. In jedem Fall ist es ungewöhnlich. Das ist wie ein Baum, den man permanent wieder aus dem Boden reißt und der nie ausreichend Wurzeln ausbildet.


    Mich wunderte es, dass Toms erster Weg in Metting nicht sofort zu diesem Lädchen führte, dass er im Internet entdeckte. Das könnte vielleicht an dramaturgischen Gründen liegen, mein erster Weg wäre es gewesen. Auch den Mann im Zug hätte ich wohl angesprochen.

  • Nach meinem Eindruck hat eher Matti diese Beziehung nicht enger haben wollen. Sie mag nicht Händchenhalten oder Kuscheln nach dem Sex und behält ihre eigene Wohnung. Und Kinder plant sie lieber mit einem, der weit weg ist!

    Beide passen zu diesem Zeitpunkt wohl gut zueinander. Sie genießen die Möglichkeiten, legen sich aber keine Verpflichtungen auf. Irgendwas wird beiden fehlen.

  • Tom ist zu einem rastlosen Nomaden geworden, ist durch die Städte gezogen, hat mal hier, mal dort einen Job gehabt, er zieht immer weiter, bis er in Hamburg ist. Hamburg ist anonymer, liberaler. Vielleicht schon wieder so liberal, dass es einfach jedem egal ist, was der andere macht.
    Er träumt davon irgendwann mal loszulegen, mit seinem eigenen Buchladen, aber es ist ihm nicht wichtig genug, auch wirklich etwas dafür zu tun, es muss ihm schon mehr oder weniger in den Schoss fallen. Was eigentlich für alles gilt, inklusive der Liebe.

    Er wirkt sehr einsam, liest Bücher im Cafe, um überhaupt jemand um sich rum zu haben. Ist unzufrieden mit seiner Situation, unternimmt aber nichts, um sie zu ändern.

    Er stellt sich vor, ein Kneipenbesitzer könnte sein bester Freund werden. Also ein Mann dessen Beruf es ist, Freund seiner Kunden zu spielen.

    Matti ist seine Freundin, sie zeigt wie stark sich die Zeit verändert hat, digital native, multinational, multikulturell. Er hätte sie nie kennengelernt, wenn sie nicht die Initiative ergriffen hätte. Und er wird sie auch nicht daran hindern zu gehen, sondern sich weiter dahintreiben lassen und darauf warten, was als nächstes in seinem Leben zufällig passiert.

    Parallel werden verschiedene Arten von Rassismus/Diskriminierung gestreift. Offensichtliche Diskriminierung wie "schwarze Sau". Dann die kurze Diskussion zwischen Matti und Tom bzgl. Obamas Hautfarbe. Tom spürt, dass Matti Recht hat. Positiver Rassismus und Farbenblindheit sind beide ebenfalls ein Problem, es ist schwierig dem zu entkommen.
    Ich fand den Rassismus gekonnt vorgeführt. Matti wird so eingeführt, dass ich sie als Leser quasi nicht als farbig empfunden habe, ich lerne sie sozusagen "farbenblind" kennen. Sie wird aber im Rong offensichtlich sichtbar für mich diskriminiert. Nicht in Form offenen Rassismus (schwarze Sau), sondern durch Ignoranz. Nur ein Sitzplatz für zwei, später bedienen, nicht anschauen, ignorieren. Es sind Nadelstiche, die sich summieren, nicht nur im Rong, sondern über ein ganzes Leben.

    Matti zeigt wie stark sich die Gesellschaft verändert hat, digital native, multinational, multikulturell.

    Ohne Matti würde Tom sich weitertreiben lassen, ohne sie ist er aufgeschmissen, er weiß es nur noch nicht. Alles läuft über sie, er meldet sich über ein von ihr eingerichtetes Konto an (und braucht dafür "nur" 5 Minuten), ohne sie ist er nicht in der Lage nach Filip in Metting zu suchen (er hatte ja auch nur 30 Jahre Zeit um darüber nachzudenken oder über den Nachnamen von Filip), als dann alles geregelt ist, traut er sich dann immerhin aber doch alleine nach Metting und das sogar aus eigenem Entschluß, wenn auch nur quasi in letzter Sekunde auf dem Bahnsteig. (Wie war das noch mit den Hubschrauberlandeplätzen für die Eltern der Sechstklässler... ;)).
    Matti ist klasse, ich wünsche Tom es noch zu kapieren... (und vertraue darauf dass ein anderer Tom das noch einfädelt).

    Das Ankommen in Metting ist eindruckvoll beschrieben, berührend.
    Tom begegnet dabei einer Vision seiner Zukunft, wenn er sich weiter so treiben lässt, wie derzeit.
    Und einem kurzen Blick auf die Option einer Gegenwart, wie er selbst hätte sein können.

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Nach dem Sacken lassen: Matti liebt Tom und weiß was Tom braucht. (Und der eine Tom wird den anderen Tom wohl kaum hängen lassen).

    Deshalb auch der Hinweis auf den, mit dem sie angeblich eine Familie gründen will. Sie will Tom nun aus der Reserve locken, nachdem er ja schon, indem er ihr seine Geschichte anvertraut hat, den Anfang gemacht hat, Wenn auch erst noch unbewusst.

  • Deshalb auch der Hinweis auf den, mit dem sie angeblich eine Familie gründen will. Sie will Tom nun aus der Reserve locken, nachdem er ja schon, indem er ihr seine Geschichte anvertraut hat, den Anfang gemacht hat, Wenn auch erst noch unbewusst.

    Meine Vorhersagen lese ich ja aus Fischen und die haben in dem Fall mit Eisenbahnen und Toms Eltern zu tun. Und natürlich auch mit Matti und Tom

    Aber im Grunde sagt das Fischorakel es sehr ähnlich... 😉

    Ich hoffe, wir haben Recht. 😃

  • :gruebel Also ich sehe das hier noch nicht so.

    Matti und Tomás haben zu unterschiedliche Interessen, um gut zusammen zu passen. Dann scheint Matti sich auch mehr für ihre Karriere einzusetzen als für ihre Beziehung.

    Tomás liebt sie auch nicht richtig und akzeptiert zu schnell, dass diese Verbindung nur eine weitere Episode in seinem wechselvollen Leben ist.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • :gruebel Also ich sehe das hier noch nicht so.

    Matti und Tomás haben zu unterschiedliche Interessen, um gut zusammen zu passen. Dann scheint Matti sich auch mehr für ihre Karriere einzusetzen als für ihre Beziehung.

    Tomás liebt sie auch nicht richtig und akzeptiert zu schnell, dass diese Verbindung nur eine weitere Episode in seinem wechselvollen Leben ist.


    Die Wahrheit verbirgt sich häufig hinter einer Fassade.

    Matti kann Menschen lesen, es ist eine Gabe, die sie zu ihrem Beruf gemacht hat und "in gewisser Weise haben wir an der Stelle etwas gemein, nur dass ich das mit Buchempfehlungen mache."
    Das sind doch sehr ähnliche Interessen, die sich gleichzeitig sehr gut ergänzen.


    Sie ist das vollkommene Gegenteil von Toms Mutter, er hingegen steht seinem Vater sehr viel näher, als es den Anschein hat (auch wenn das noch gar nicht wirklich sichtbar ist).

  • Sie ist das vollkommene Gegenteil von Toms Mutter, er hingegen steht seinem Vater sehr viel näher, als es den Anschein hat (auch wenn das noch gar nicht wirklich sichtbar ist).

    Es ist auf jeden Fall sicher, dass er in 30 Jahren nicht das gefunden hat, was er in Metting zurück gelassen hat. Lose Enden, die es zu verknüpfen gilt. Leere Stellen, die er füllen muss, er muss sich nun seiner Vergangenheit stellen, sonst kann er sich nicht weiter entwickeln, nicht neues und vor allem konstantes entstehen.

  • Da ist er also, der erwachsene Tomás. Ich hätte nie gedacht, dass er mal in einem Buchladen arbeiten wird. Obwohl, eigentlich doch, denn wie Regina auch bemerkt hat, lebt er vermutlich nicht seinen eigenen Traum aus.


    Die Beziehung zu Matti zeigt mir ganz deutlich, dass er such nicht binden möchte. Ob das am Verlust von Filip liegt, den er immer noch sehr vermisst? „Ich hätte wirklich gern einem guten Freund.“ - Und dann ausgerechnet Alexander, der ganz offen rassistisch ist?


    „Eltern sind mir nicht so wichtig.“ Was für ein abgrundtief trauriger Satz. Tomás Eltern waren sicher keine Vorzeigeeltern, aber sie haben trotzdem verdient, dass sie ihm wichtig sind.


    Das, was Tomás bei seiner Heimkehr erlebt, kenne ich nur zu gut. Ich wohne zwar erst ca 15 Jahre nicht mehr in meiner Heimatstadt, aber ich leide auch manchmal an falschen oder verzerrten Erinnerungen.

  • Mich wunderte es, dass Toms erster Weg in Metting nicht sofort zu diesem Lädchen führte, dass er im Internet entdeckte. Das könnte vielleicht an dramaturgischen Gründen liegen, mein erster Weg wäre es gewesen. Auch den Mann im Zug hätte ich wohl angesprochen.

    Ich hätte ihn auch angesprochen.

  • Ich bin erst am Anfang dieses Abschnitts und habe eure Beiträge noch nicht gelesen.


    Aber der Absatz auf Seite 223, der mit "Ich mag es sehr, in Großstädten zu sein...", beginnt ist mein neuer Lieblingsabsatz. Da spricht Tomás mir aus der Seele. Ich kann das jedenfalls sehr, sehr gut nachvollziehen. :-]


    Das musste ich kurz loswerden.

  • Ich mochte diesen ganzen Abschnitt sehr. Drei Dinge gefallen mir besonders, die Art wie der erwachsene Tomás die Welt sieht und beobachtet, die Gespräche, die er führt und vor allem, dass Tom es schafft, mir ein sehr genaues Bild vom Leben seines Protagonisten nach der Kindheit und Jugend in Metting zu vermitteln ohne die fehlenden 30 Jahren ausschweifend vor mir auszubreiten. Das macht das Buch so gut. Ich gehöre eben zu denen, die nicht gerne alles bis ins Detail erzählt bekommen müssen.


    Ich hätte übrigens bei dem Obama-Gespräch genauso reagiert wie Tomás. Dazu stehe ich. Ich hätte es aber auch wohl so ähnlich reflektiert. Dieses Reflektieren ist wieder eine dieser Eigenschaften, die ich an ihm so gerne mag. Für mich ist er ein bodenständiger Mann, der zwar seine Päckchen zu tragen hat, aber trotzdem nicht unzufrieden oder unglücklich wirkt. Er ist ein ganz normaler Typ, der auch mal bei der Wahl seiner Freunde Fehler macht, was ihn schmerzt, ihn aber nicht aus der Bahn wirft.

    Seine Beziehung zu Matti finde ich sehr schön. Da treffen sich zwei erwachsene Menschen auf Augenhöhe, ohne die eigenen Erwartungen dem anderen aufdrängen zu wollen. Ob er im letzten Abschnitt merkt, dass Matti die Familie gern mit ihm gegründet hätte? ;-)


    Was ich noch besonders gut gelungen finde, ist, dass Tom (diese Namensgleichheit finde ich hier nicht ganz einfach zu "handlen" :lache) kein Drama braucht, kein einschneidendes Erlebnis, um zu begründen, warum Tomás jetzt nach all den Jahren nach Metting fahren muss und kann. Andere hätten das anders gelöst, dieses hier finde ich als Leserin besser.


    Es ist immer wieder seltsam, wenn man nach langer Zeit an Orte, die einem auf die ein oder andere Art etwas bedeutet haben, zurückkehrt. Manches verändert sich nie, vieles wirkt kleiner und unspektakulärer und oft blasser ohne den Blick durch die Erinnerungsbrille. Auch das fand ich wieder sehr authentisch erzählt.


    Ich freue mich auf den Rest. :)