Juli Zeh - Über Menschen

  • Titel: Über Menschen

    Autorin: Juli Zeh

    Verlag: Luchterhand Literaturverlag

    Erschienen: März 2021

    Seitenzahl: 416

    ISBN-10: 3630876676

    Preis: 22.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt?


    Die Autorin:

    Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015), und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2019). 2018 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.


    Meine Leseeindrücke:

    Dieser Roman ist mehr als nur ein „Corona-Roman“ - auch wenn er während des ersten Lockdown spielt. Es ist ein Roman über Menschen. Menschen die so verschieden sind, wie man es nur sein kann. Was anfangs aussieht wie „Großstadt vs. Provinz“ ist im weiteren Verlauf nichts anderes als das es eben verschiedene Lebensentwürfe gibt.

    Großstadt ist nicht besser als Provinz und Provinz ist nicht besser als Großstadt – sie sind halt eben nur verschieden. Und man sollte sich davor hüten, den Begriff „Provinz“ negativ zu belegen.


    »Unaufgeregt und trotzdem politisch pointiert zeichnet sie das Porträt eines Dorfes mit aussterbender Infrastruktur, prekären Biografien, rechter Gesinnung. ― Stephanie Metzger / Bayern2


    Diese Beschreibung trifft es sehr gut. Und Menschen mit rechter Gesinnung sind mitnichten immer schlechte Menschen – sie haben lediglich eine andere Auffassung und verlieren dadurch auch nicht ihre Menschlichkeit und man sollte sie nicht pauschal als „Nazis“ titulieren, Das ist dümmlich und führt zu einer Relativierung des Nazi-Begriffs.


    Juli Zeh schafft es die Menschen so zu zeichnen wie sie sind. Sie vermeidet Klischees und gibt auch irgendwelchen Vorurteilen keine Nahrung. Sie beobachtet und beschreibt. Und aus diesem Roman spricht auch eine tiefe Menschlichkeit und Toleranz der Autorin.


    Ihr Schreibstil ist angenehm, klar und trotzdem zupackend. Ein Roman der es wirklich wert ist gelesen zu werden. Kein erhobener Zeigefinger und peinliches Moralisieren stört den Lesegenuss. Sehr lesenswert.


    ASIN/ISBN: 3630876676

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Soeben beendet. Ich habe geheult und bin sehr berührt. Juli Zeh ist eine großartige Erzählerin. Und ja - es ist ein "Corona- Roman", aber eben irgendwie auch nicht. Er erzählt eine von vielen Geschichten über Menschen. Über Dich, mich, über unsere Nachbarn. Über Freunde und dass man manchmal eigentlich gar nicht weiß, was das eigentlich ist, Freundschaft. Über das Leben und über den Tod, und wie alles miteinander verwachsen ist. Und dass alles irgendwie weitergeht, ob man nun will oder nicht. In der Stadt, auf dem Dorf, zu dieser Zeit. Und wie so oft in ihren Büchern gibt es keine Meinung, kein schwarz oder weiß, keinen Lösungsansatz, sondern Beobachtungungen in Graustufen. Und oft einen dicken Kloß im Hals bei Betrachtung im Spiegel. Das mochte ich schon bei "Leere Herzen" und "Unter Leuten" sehr gerne. Ganz große Empfehlung.


    "Wenn Dora im Umkreis von 70 Kilometern schon niemanden kennt und keine Möbel besitzt, will sie wenigstens eigenes Gemüse. Weil Tomaten, Möhren und Kartoffeln täglich davon erzählen würden, dass sie alles richtig gemacht hat. Dass der plötzliche Kauf eines alten Gutsverwalterhauses, sanierungsbedürftig und fernab aller Speckgürtel, keine neurotische Kurzschlussreaktion war, sondern der nächste logische Schritt auf dem Wanderweg ihrer Biografie. Wenn sie einen Landhausgarten besitzt, werden Freunde am Wochenende aus Berlin zu Besuch kommen, auf alten Stühlen im hohen Gras sitzen und seufzen: "Mann, hast Du es schön hier." Falls ihr bis dahin einfällt, wer ihre Freunde sind. Und falls man sich jemals wieder gegenseitig besuchen darf. "

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

  • Ich habe das Hörbuch „Über Menschen“ von Juli Zehn über MDR Kultur gehört. Gelesen wird es von Anna Schudt. Ich habe mich zuvor an einigen Romanen von Juli Zeh versucht, aber nie so richtig Zugang zu ihren Büchern gefunden. Vielleicht hat sich das ja jetzt geändert.


    Dora zieht nach Bracken in Brandenburg, weil ihre Beziehung mit ihrem Freund Robert nicht mehr so aussieht, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie hat in Bracken ein kleines Gutsverwalterhäuschen gekauft und kommt dort mit allerlei Vorurteilen bezüglich der Menschen und der Gegend an. Direkt zu Anfang lernt sie Gote, ihren Nachbarn und „Dorf-Nazi“ kennen und sieht sich in ihrer Meinung über die Menschen auf dem Land bestätigt. Doch wie sich alles weiter entwickelt, konnte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen.


    Dora ist anfangs sehr grüblerisch und auch als Leser*in hat man das Gefühl nicht an sie heran zu kommen. Als sie die ersten Menschen in Bracken kennen lernt, merkt sie, dass das Leben nicht nur schwarz und weiß ist, sondern auch ganz viele Grautöne hat. Plötzlich ist der rechtsradikale Asoziale von Nebenan ein lieber Nachbar, der ihr einfach aus Freundlichkeit Möbel schenkt und seine Hilfe anbietet. Die Leute, denen sie im Laufe des Buches begegnet, gehören bestimmten Gruppen an, aber sie verhalten sich meist überhaupt nicht so wie sie es voraus gesehen hat. Wir kennen das ja sicher alle, dass wir uns ein bestimmtes Bild von einer Personengruppe machen und dann völlig überrascht sind, wenn diese Leute völlig anders sind als wir erwartet haben. So ging es Dora auch und zwar fast das ganze Buch über. Juli Zeh spielt hier natürlich mit der vollen Breitseite der Vorurteile, die man überall mitbekommt und die in den meisten Köpfen bewusst oder unbewusst bestehen.


    Das Buch spielt fast in der Jetzt-Zeit, nämlich zu Beginn der Pandemie. Doras Noch-Freund Robert gehört zu denen, die die Pandemie zu übertrieben sehen und eigentlich schon den Weltuntergang vor Augen haben. Gleichzeitig ist er glühender Greta Thunberg-Verehrer und verhält sich sehr überzogen und übergriffig Dora gegenüber. Er hat sein ganzes Leben extrem in diese Richtung ausgerichtet. Für ihn gibt es ebenfalls kein grau, sondern nur schwarz und weiß.


    Dora und auch ich als Hörerin haben durch das Buch gelernt, dass man den Mensch als Ganzes sehen sollte. Nicht nur, wie diese*rber sich verhält und welche Definition oder Bezeichnung er oder sie von anderen Leuten bekommen hat, sondern dass man sich auch die Mühe macht auch seine Geschichte und die Gründe für das jeweilige Verhalten heraus zu finden. Ich habe schon oft gehört, dass Juli Zehs Romane genau diesen Effekt haben und daher werde ich es wohl doch noch mal mit weiteren Büchern versuchen.


    Ein wenig traurig war ich schon, als ich Abschied von Dora, ihrem Hund Jochen, der Rochen und von Gote nehmen musste, aber ich glaube, ich werde in der nächsten Zeit noch mehr versuchen hinter Fassaden von Menschen zu sehen.

    Anna Schudt hat das Hörbuch ganz hervorragend gelesen. Ich finde ihre Stimme sehr angenehm und habe nun auch eine neue Lieblingssprecherin.

  • Dora und die Knuddelnazis aus der Nachbarschaft


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    Dora, die ideenreiche Kommunikationsdesignerin, ist 36 Jahre alt und mit Robert zusammen, der sich, seit er Greta T. fast mal getroffen hat, mit rasanter Geschwindigkeit zu einem selbstgerechten Umweltschutzfanatiker entwickelt, was darin gipfelt, dass er Dora zuerst nötigt, den hochdotierten Job aufzugeben und zu einer Agentur zu wechseln, die für nachhaltige Produkte und faire NGOs Werbung macht, bis er ihr schließlich zu verbieten versucht, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Wir befinden uns in der frühen Phase des ersten Corona-Lockdowns, im Frühling 2020; Dora und Robert leben in Berlin, aber Robert weiß nicht, dass sich Dora schon vor ein paar Monaten ein Haus und ein Grundstück in der Prignitz gekauft hat, einer Gegend im Brandenburgischen. Als die Situation zu Hause jetzt eskaliert und Robert immer unerbittlicher wird, packt sie ihre Sachen und die kleine Hündin Jochen-der-Rochen - und zieht kurzerhand aufs Land. Ohne Robert zu verraten, wohin genau.


    Dora hat allerdings keine Ahnung davon, wie Landleben funktioniert, vor allem nicht, wie es sich konkret im Jahr 2020 in der entvölkerten brandenburgischen Provinz darstellt. Das riesige Grundstück ist ein Acker, in dem merkwürdigerweise viel Kinderspielzeug vergraben wurde, eine Infrastruktur ist so gut wie nicht vorhanden, und ohne Auto ist man aufgeschmissen, aber Dora hat nicht einmal ihr schönes Fahrrad namens Gustav mitgenommen. Doch es gibt ja Nachbarn. Etwa Steffen und Tom, die ein paar Häuser weiter eine Großgärtnerei betreiben. Oder Gote, gleich nebenan. Aber bei Steffen und Tom klebt ein AfD-Aufkleber am Briefkasten, und der knurrige Gote hat sich gleich als Dorfnazi vorgestellt. Nachts muss Dora mitanhören, wie er mit zwei einschlägigen Kumpels das Horst-Wessel-Lied anstimmt.


    In „Über Menschen“ geht es darum, wie man mit Menschen umgeht, die Meinungen vertreten, die man eigentlich nicht aushalten kann. Die Meinungen selbst werden zwar auch thematisiert, und die Hauptfigur fährt ihrerseits einiges an Argumenten auf, um, nun, nicht für Verständnis zu werben, aber die Entscheidung für eine bestimmte Haltung in gewissen Grenzen zu legitimieren, doch im Kern geht es darum, ob Menschen als Menschen besser oder schlechter als andere sind, weil sie eine bestimmte Meinung vertreten oder eben nicht. Oder, um es direkter zu sagen, ob Nazis in allen Schattierungen verdammungswürdiges Gesocks sind - oder doch Leute, irgendwie.

    Menschen eben.


    Juli Zeh ist ohne jeden Zweifel eine der klügsten und engagiertesten Erzählerinnen unserer Zeit, davon abgesehen zum Niederknien stilsicher und dramaturgisch jederzeit dicht an der Perfektion. „Über Menschen“ liest sich fantastisch, findet genau die richtige Tonlage, packt und reißt mit. Zwar meldet sich irgendwo im Hinterkopf hin und wieder ein leises „Ja, aber ...“, etwa, wenn Dora dem Plastiktütenverbot den Herstellungsaufwand für Baumwolltragetaschen gegenüberstellt, oder wenn die armselige ÖPNV-Infrastruktur beklagt, aber nicht erwähnt wird, dass es Versuche gab, diese Struktur zu verbessern, das Angebot jedoch schlicht ausgeschlagen wurde, weil die Leute eben lieber autofahren. Aber es geht, wie skizziert, nicht darum, sich auf eine dieser Seiten zu schlagen, weshalb die Überzeugungskraft der jeweiligen Argumentation wahrscheinlich sogar absichtlich eher mäßig gewählt wurde, sondern darum, den moralischen Ansatz infrage zu stellen, der die einen ohne jeden Zweifel deutlich über die anderen erhebt, der den so genannten Gutmenschen also die Schlechtmenschen gegenüberstellt - und das mit einer Wertung verbindet, die über das Politische weit hinausgeht. Das fiktive Dorf Bracken, in dem die Handlung spielt, wird dieserart zum Abbild dessen, was vom Diskurs noch übriggeblieben ist, nämlich das unzweifelhaft Gute - und das Andere. Verbunden mit dem Recht, es mit allen Mitteln zu beseitigen.


    Während der Musiker „Danger Dan“ also im Text eines erfolgreichen Songs dazu aufruft, Nazis notfalls mit Gewalt zu bekämpfen, wirbt Juli Zeh dafür, nun, nicht unbedingt mit Nazis zu reden, um zu versuchen, sie zu überzeugen, sondern für Pragmatismus im Zwischenmenschlichen, und für eine Trennung von Meinung und Person. Sie erweitert auf diese Weise den Umgang, den viele aus dem Mikrokosmos „Familie“ kennen, wo man Uropas Kriegsverherrlichung und Muttis Alltagsrassismus ja schließlich auch hinnimmt, weil es eben Uropa und Mutti sind, die da Schwachsinn reden, auf die nächstgrößere Sozialstruktur, in diesem Fall auf Dorf und Nachbarschaft. Was sollte man auch tun? Das Haus ist gekauft und im Brandenburgischen ist die Wahrscheinlichkeit, neben einem Äußerstrechten zu wohnen, überall hoch, erschlagen kann man die Leute auch nicht einfach, bester Danger Dan, und wenn sie auch noch hilfsbereit und auf ruppige Art nett sind - was dann? Das ist die Kernfrage der Geschichte; Dora findet ihre persönliche Antwort darauf, aber Juli Zeh bleibt sie - absichtsvoll, nehme ich an - letztlich schuldig. Was auch daran liegen kann, dass es keine gibt. Oder an diesem kleinen, aber nicht unwesentlichen Kunstgriff, den sie bei der Entwicklung „ihrer“ Nazis angewendet hat, indem sie ihnen (vor allem Gote, dem direkten Nachbarn) einige doch sehr, sehr nette Eigenschaften verpasst hat. Ein Knuddelnazi quasi.


    Einerseits bin ich mit dem Ansatz mehr als einverstanden, zu differenzieren, niemals über einen Kamm zu scheren, sich nicht vom strahlenden (selbsternannten) Guten blenden zu lassen und genauso wenig vom allseits Verteufelten kategorisch abzuwenden - vor allem aber standhaft dabei zu bleiben, dass Menschen Rechte haben, was ausnahmslos gilt. Andererseits hat mich das Experiment nicht vollends überzeugt, bleibt die Konstruktion, so großartig sie literarisch auch ist, auf gesellschaftlicher, soziologischer Ebene oft fragwürdig. Ich stimme Juli Zeh zu: Ja, auch Nazis sind Menschen. Trotzdem hätte ihre Heldin Dora oft andere Optionen gehabt, als die, die sie schließlich gewählt hat. Okay, aber das wäre dann nicht die Geschichte gewesen, die Juli Zeh erzählen wollte.


    Doch der Roman soll auch keine Handlungsanweisung sein, sondern von etwas erzählen, was ihm vortrefflich und äußerst unterhaltsam gelingt. Über diese Geschichte kann man reden und streiten, was immer sinnvoll ist, und da dieses Buch die Hardcover-Bestsellerliste für das Jahr 2021 angeführt hat, ist wahrscheinlich, dass ziemlich viele Menschen darüber nachdenken, ob die Maxime, nach denen man handelt, konsequent sind, oder das überhaupt sein müssen, denn Konsequenz verneint nicht selten das Menschliche. Oder woran wir uns als Menschen messen. Oder unterscheiden. Und das geschafft, diesen Diskurs ausgelöst zu haben, ist eine tolle Leistung. Andererseits dürfte es nicht wenige geben, die „Über Menschen“ als Aufruf zum Verständnis für Nazis missverstehen. Aber das ist nicht der Autorin anzulasten, sondern, Achtung, diesen Leuten.

  • Ich stimme Juli Zeh zu: Ja, auch Nazis sind Menschen.

    Natürlich sind sie das - was auch sonst? Die einstigen SS-Schergen innerhalb und außerhalb der Lager, die Ortsgruppenleiter, die Nazipastoren, die Nazilehrer - sie alle waren Menschen, ebenso wie die heutigen Rassisten, Antisemiten, die vermeintlichen Retter des christlichen Abendlandes, die angeblich so bürgerlichen Höcke-Anhänger - alle waren und sind sie Menschen.

    Und darin liegt auch das Grundärgernis dieses in widersprüchlicher Weise "blendenden" Buches begründet: Juli Zeh will zwar zweifellos nicht zum Verständnis für Nazis aufrufen, aber sie redet einer diffusen Menschlichkeit das Wort, einem Gemeinschaftsgefühl ("Wir sind doch alle Menschen!"), das zumindest unsauber, wenn nicht brandgefährlich ist.

    (...) denn Konsequenz verneint nicht selten das Menschliche. Oder woran wir uns als Menschen messen. Oder unterscheiden. (...)

    Einspruch! "Das Menschliche" ist etwas ganz anderes als der Mensch. Konsequentes Eintreten gegen Unmenschliches bedeutet nicht Eintreten gegen den Menschen als solchen.

    Das Buch stellt die Frage in den Raum, wie man mit im täglichen Umgang "menschlich" erscheinenden Nazis umgehen sollte, zum Beispiel als Nachbar. Und die Autorin lässt die Antwort bewusst offen. Das mag literarisch reizvoll sein, sollte aber nicht zu falschen Folgerungen verführen.

    (...) wirbt Juli Zeh dafür, nun, nicht unbedingt mit Nazis zu reden, um zu versuchen, sie zu überzeugen, sondern für Pragmatismus im Zwischenmenschlichen, und für eine Trennung von Meinung und Person. (...)

    Das genau ist das Ärgernis dieses Buches. Juli Zeh reiht sich damit in die Phalanx derjenigen ein, die glauben, durch intellektuelle Duldsamkeit mit einem eitrigen Geschwür fertig werden zu können. Leider aber ist das Illusion, wie die Geschichte schmerzvoll zeigt. Nazis muss man in jeder Situation konsequent entgegentreten - egal, in welcher Scharade sie daherkommen, ob sie aussehen und handeln wie Kaltenbrunner oder wie der joviale Nachbar von nebenan.

  • Hallo, Didi.


    Im Prinzip und grundsätzlich bin ich bei Dir (sonst hätte ich fünf Bienchen verteilt, und nicht nur vier), aber ich glaube, man geht in die Falle, wenn man so argumentiert. Ich bin vielleicht selbst in meiner Besprechung zu ungenau gewesen, und es sind auch nicht so einfache, klare Fragen, auf die sich das reduzieren lässt. Oder auf die Definition des Adjektivs "menschlich", das wir gerne mit einer moralischen Maxime oder grenzenlosem Altruismus auf einer Linie sähen, das man aber auch direkt interpretieren könnte: Alles, wozu wir Menschen fähig sind, ist demnach "menschlich". Oder auf die Deklination das Naziseins, meinetwegen auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn für Leute wie Eugen Dühring (geistiger Vater der "Endlösung") und, später dann, für alle aus Hitlers oberster Riege steht, und eins noch für jemanden, der "aus Protest gegen die (beliebiger Präfix-)Diktatur" die AfD wählt. Wir alle (ich schließe mich da ein) sind mit dem Etikett "Nazi" inzwischen so großzügig wie manch ein*e Soziostudierende*_:_*r mit denen, die da "Rassismus" oder "Sexismus" oder, Gnade Dir Gott!, "Transphobie" heißen.


    Aber im Kern geht es in diesem Buch um Selbstherrlichkeit. Die Nazis - und seien es auch nur die "Knuddelnazis aus der Nachbarschaft" - sind eigentlich Platzhalter, stehen für Leute, die für ihr Fehlverhalten oder -denken abgeurteilt werden, weil sie dem, was als zweifelsfrei gut erkannt wurde, zuwiderhandeln. Das meine ich mit der Falle, in die man geht. Und das ist, zugegeben, zugleich die Falle, die sich das Buch selbst stellt.


    Nazis sind Leute, die anderen das Menschsein aberkennen, und ausgerechnet bei denen einzufordern, sie selbst dennoch als Menschen zu respektieren, sogar zu akzeptieren, das ist Teufelei. Aber, wie gesagt - ganz so einfach ist es nicht. Oder so kommt es mir zumindest nicht vor. Ich bin tatsächlich unschlüssig, ob Juli Zeh ihre eigenen Absichten verwirklicht hat oder nicht, aber letztlich ist das wurscht, denn nur das Buch zählt, und jede Erklärung ist eine zu viel.

  • Interessante (vielleicht wichtige) Diskussion!

    Tom "... nur das Buch zählt, und jede Erklärung ist eine zu viel." :gruebel Geht es hier nicht darum, zu erklären, was jedem Leser individuell zu dem Buch eingefallen oder aufgestoßen hat? Die "eigene Meinung" ist doch gerade bei einem Buch mit fragwürdigen Figuren wichtig für potentielle Leser.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

  • Geht es hier nicht darum, zu erklären, was jedem Leser individuell zu dem Buch eingefallen oder aufgestoßen hat?

    Das meine ich aus Sicht der Autorin. Jeder Satz, den man erklärend über sein eigenes Buch verlieren muss, ist (eigentlich) einer zu viel. Und jede Rechtfertigung verbietet sich grundsätzlich.


    Andererseits macht sowas auch viel Spaß, manchmal. ;)